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4.

Evelyn Rolands stieg an der Ecke der Old Bond Street aus. Sie wurde um fünf Uhr erwartet, und jetzt war es schon halb sechs. Mit schnellen Schritten ging sie die Straße entlang.

Sie wollte zusehen, daß sie mit ihrer Arbeit möglichst bald fertig wurde, um zur rechten Zeit am Eingang der Untergrundbahn sein zu können.

Seit einigen Wochen hatte sie durch die Vermittlung des Rechtsanwalts Stetson, ihres früheren Vormundes, eine gutbezahlte Stellung als Sekretärin erhalten. Vor Jahren hatte ihre Familie in guten Verhältnissen gelebt, aber durch den Tod ihres Vaters war Evelyn gezwungen worden, selbst Geld zu verdienen. Die große Wohnung in London wurde aufgegeben, und nun lebte die Mutter in zwei Zimmern in Guildford, weil es dort viel billiger war. Evelyn hatte auch in der Provinz als Stenotypistin gearbeitet, aber die Bezahlung war so gering, daß sie sehr sparsam und zurückgezogen mit ihrer Mutter leben mußte. Das hatte sich nun seit den letzten drei Wochen geändert. Anwalt Stetson hatte ihr eine Vertrauensstellung in London beschafft, wo sie sofort doppelt soviel verdiente wie in Guildford. Die Trennung von der Mutter war ihr zwar in den ersten Tagen schwergefallen, aber nun hatte sie sich schon daran gewöhnt, auf eigenen Füßen zu stehen.

Schnell betrat sie das Haus in der Bruton Street durch die Seitentür. Ob Sir Richard sie schon lange erwartete?

In der Garderobe legte sie Jacke und Hut ab, dann ging sie durch die Schwingtür in die große Halle.

Der Butler Miller kam gerade die Treppe herunter und begrüßte sie zuvorkommend. Er hielt sogar die Tür zur Bibliothek für sie auf, die an der entgegengesetzten Seite der Halle lag. Mit einem Kopfnicken ging sie an ihm vorbei.

»Sir Richard läßt Ihnen sagen, daß Sie die Schriftstücke, die auf dem kleinen Tisch neben der Maschine liegen, abschreiben möchten. Es sind wichtige Dokumente«, erklärte er.

Evelyn hatte ihren Arbeitsplatz bereits erreicht und bemerkte einen Zettel, der auf den Papieren lag.

»Liebe Miß Rolands«, las sie, »wie ich Ihnen schon telegraphierte, ist die Arbeit sehr wichtig. Bitte sehen Sie zu, daß Sie heute noch möglichst weit damit kommen. Morgen mittag soll sie mit einem Begleitschreiben abgesandt werden. Später werde ich selbst auf kurze Zeit in die Bibliothek kommen und noch einige dringende Briefe diktieren. R.«

Der Butler hatte also gar nicht den Auftrag gehabt, ihr etwas mitzuteilen, aber sie wußte ja, daß er sich wichtig vorkam und immer so tat, als ob er das Vertrauen Sir Richards besäße.

Sie spannte ein Blatt ein und hatte gerade zwei Zeilen geschrieben, als Miller wieder ins Zimmer trat.

Er sah hübsch aus und war für seine Stellung eigentlich noch etwas jung. Das fiel besonders auf, wenn er sich bemühte, eine würdevolle Haltung einzunehmen. Er unterhielt sich gern wohlwollend mit der Sekretärin.

Beide waren noch nicht lange im Haus, denn Sir Richard war erst vor einigen Wochen von einer Weltreise zurückgekehrt.

»Sie haben Ihr Taschentuch in der Garderobe fallen lassen«, sagte er und reichte es ihr.

Sie dankte ihm und hoffte, daß er wieder gehen würde, aber er blieb noch und strich die Decke über dem runden Tisch glatt.

»Ich finde es eigentlich nicht richtig, daß Sir Richard Sie auch am Sonntag zum Arbeiten kommen läßt. Haben Sie nicht auch den Eindruck, Miß Rolands, daß er überhaupt manchmal etwas eigentümlich ist?«

Sie hatte sich vorgenommen, möglichst intensiv zu arbeiten, und nun wurde sie gegen ihren Willen aufgehalten. Sie warf Miller einen ungeduldigen Blick zu.

»Ich hatte bis jetzt noch keine Zeit und Gelegenheit, das festzustellen«, erwiderte sie kurz.

»Aber ich könnte Ihnen Dinge erzählen –«

Sie sah entrüstet auf. Ihrer Meinung nach war es unrecht, in solcher Weise über Sir Richard zu sprechen.

»Mr. Miller, ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht über derartige Dinge unterhalten. Außerdem habe ich viel zu tun. Sir Richard erwartet, daß ich heute noch einen großen Teil dieser Akten abschreibe.«

»Nichts für ungut – ich meinte nur – denken Sie, Sir Richard hat bis jetzt keine Nacht hier im Hause geschlafen.«

Nun wurde es Evelyn zuviel.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie sich mit mir unterhalten wollen, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit für Sie.«

Er wollte nicht aufdringlich werden, aber er hätte sich doch zu gern ein paar Minuten mit der hübschen Miß Rolands unterhalten. Bedauernd zuckte er die Schultern, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie allein zu lassen.

Evelyn seufzte, als er die Tür schloß. Dann nahm sie die Schriftstücke auf und sah sie durch. Es waren im ganzen fast dreißig engbeschriebene Seiten. Das war allerdings ziemlich viel, wenn sie bis morgen mittag damit fertig sein und außerdem noch Briefe schreiben sollte. Energisch machte sie sich an die Arbeit. Der Inhalt war zunächst nicht fesselnd, aber allmählich erwachte ihr Interesse. Es handelte sich um eine Minenkonzession in Birma!

Je weiter sie schrieb, desto aufmerksamer wurde sie. Es war doch ein merkwürdiger Zufall, daß sie gerade heute nachmittag Jim Carley kennengelernt hatte, der auch in Birma gewesen war. Aber sie sah ihn ja nachher noch und konnte mit ihm darüber sprechen.

Seite um Seite schrieb sie mustergültig und klar ab, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Als sie einmal auf die Uhr schaute, war es bereits fünf Minuten über dreiviertel acht.

Sie erschrak. Wenn Sir Richard nicht bald kam, konnte sie ihre Verabredung nicht einhalten.

Aber gleich darauf trat er ins Zimmer.

Im allgemeinen sah sie wenig von ihm. Seine schlanke, jugendliche Gestalt machte einen imponierenden Eindruck, und da er sich stets sehr elegant kleidete, konnte man sein Alter nicht genau feststellen; er mochte Anfang oder auch Ende der Vierziger sein. Das noch vollkommen schwarze Haar trug er nach hinten zurückgekämmt, so daß die etwas eckige Stirn nur noch höher erschien. Seine dunkelbraunen Augen blickten lebhaft, seine Gesichtszüge waren schön, aber etwas zu scharf.

Mit einem verbindlichen Lächeln begrüßte er Evelyn, trat mit leichten Schritten auf sie zu und reichte ihr die Hand.

Sie stand auf.

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie heute gekommen sind. Sie dürfen versichert sein, daß ich Sie nicht am Sonntag belästigt hätte, wenn es sich nicht um eine so dringende Sache handelte. Sicher sind Sie schon sehr fleißig gewesen. Es ist selbstverständlich, daß ich Sie für diese Mehrarbeit entschädige. Außerdem wollte ich Ihnen schon gestern sagen, daß ich Ihr Gehalt um zwei Pfund wöchentlich erhöhe.«

Sie sah ihn erstaunt an und wollte etwas erwidern, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Und heute abend möchte ich Sie gern zum Essen einladen.«

Evelyn war es peinlich, daß er bei den letzten Worten die Hand auf ihre Schulter legte.

»Entschuldigen Sie, Sir Richard, aber –«

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen.«

»Doch – ich habe nämlich heute abend leider keine Zeit.«

»Nun, wenn ich Sie nicht telegraphisch nach London gerufen hätte, wären Sie doch noch in Guildford? Aber es lohnt doch nicht mehr, jetzt noch einmal zu Ihrer Mutter zurückzufahren? Sie würden erst spät in der Nacht ankommen.«

»Wollten Sie nicht noch wichtige Korrespondenz erledigen?«

»Ach ja, das hatte ich im Augenblick ganz vergessen. Also, schreiben Sie, bitte.«

Er ging im Zimmer auf und ab, während er ihr mehrere kurze Briefe diktierte.

Verstohlen sah sie nach der Uhr. Es war fünf Minuten vor acht. Nun würde sie schon, eine Viertelstunde zu spät kommen.

»Ich werde die Briefe sofort ins Reine schreiben. Haben Sie sonst noch etwas zu diktieren?«

»Nein, heute nicht mehr. Aber ich habe mir überlegt, die Briefe können auch morgen abgehen. Sie brauchen sich also heute nicht mehr damit abzuplagen.«

Sie erhob sich und wollte gehen. Freundlich trat er auf sie zu.

»Nun, wie ist es? Fahren Sie mit mir zum Carlton?«

»Ich habe heute wirklich keine Zeit, Sir Richard.«

»Nun, was hat denn eine so hübsche junge Dame viel zu tun?« Er nahm ihre Hand, die sie ihm zum Abschied hatte geben wollen, ließ sie aber nicht los. »Warum wollen Sie heute abend allein sein? Sie brauchten gar nicht in dieser einfachen Hotelwohnung zu leben, wenn Sie ab und zu mit mir ins Theater gehen und mir Gesellschaft leisten wollten.«

Sie riß die Hand weg und sah ihn empört an.

»Was denken Sie denn von mir –«

»Das habe ich Ihnen schon gesagt – daß Sie eine hübsche junge Dame sind. Warum wollen Sie Ihre Jugend vertrauern? Sie könnten es doch so gut haben, wenn Sie nur wollten. Ihr Gehalt könnte auch noch bedeutend erhöht werden.«

Bei diesen Worten blitzten ihre Augen auf. Zornig hob sie die Hand, aber geschickt fing er den Schlag ab, der ihn sonst ins Gesicht getroffen hätte. Blitzschnell legte er den Arm um ihre Schultern, zog sie an sich und küßte sie.

Evelyn wehrte sich verzweifelt, aber er hatte sie so fest gefaßt, daß sie nichts gegen ihn ausrichten konnte. Wieder und wieder küßte er sie. Erst als er ihre linke Schulter losließ, um ihr Kinn höher zu heben, gelang es ihr, sich loszureißen. Sie eilte hinaus und hätte beinahe den Butler überrannt, der vor der Tür lauschte.

Sie war in wilder Erregung, und ihre Empörung kannte keine Grenzen. Als sie die Schwingtür erreicht hatte, die zu dem hinteren Flur und Treppenhaus führte, warf sie schnell einen Blick zurück und sah, daß Sir Richard dem Butler einen Auftrag gab und ihn fortschickte. Sie riß Jacke und Hut vorn Kleiderhaken, stieg die wenigen Stufen hinunter und atmete erleichtert auf, als sie im Freien stand. Es war nicht zu befürchten, daß Sir Richard ihr so weit folgen würde, aber trotzdem lief sie, so schnell sie konnte, auf die Straße.

Sie atmete schwer. Was sollte nun werden? Die gute Stellung war verloren, und ihren früheren Posten in Guildford hatte sie aufgegeben. Aber verdienen mußte sie, schon um ihrer Mutter willen. Bei dem schlechten Geschäftsgang war es nicht leicht, Arbeit zu bekommen. Es gab Tausende und Abertausende von Stenotypistinnen in London, die nichts zu tun hatten. Aber anders hätte sie nicht handeln können. Es tat ihr nur leid, daß ihn die Ohrfeige nicht getroffen hatte.

Plötzlich dachte sie wieder an ihre Verabredung mit Jim Carley, aber dazu war es nun zu spät geworden. Der Tag hatte so schön begonnen, und nun endete er so häßlich.


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