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17.

Kaum war Crawford zu seinem Platz am Schreibtisch zurückgekehrt, als es an der Tür klopfte Sergeant Farland vom Erkennungsdienst brachte die Resultate der photographischen Aufnahmen.

»Nun, wie steht es, haben Sie etwas herausbekommen?«

»Ja. Wir haben am Mantel und am Griff der Pistole Fingerabdrücke entdeckt und photographiert. Hier sind die Abzüge, sie sind sehr klar geworden. Desgleichen haben wir an der Schreibtischplatte und am Griff der linken oberen Schublade Fingerabdrücke gefunden. Und um sicher zu gehen, ob sie nicht von Sir Richard selbst herrührten, haben wir auch dessen Abdrücke von beiden Händen genommen. Und nun hat sich die merkwürdige Tatsache ergeben, daß die auf der Schußwaffe auch von ihm herrühren.«

»Das ist aber mehr als sonderbar«, entgegnete Crawford erstaunt, nahm die Abzüge und verglich sie. Sergeant Farland hatte recht. Einige Zeit dachte der Inspektor nach, dann richtete er sich auf.

»Nehmen Sie die Pistole mit zum Schauhaus und pressen Sie dem Toten die Waffe so in die Hand, als ob er auf einen Gegner zielte und feuerte. Ich vermisse hier vor allem den Abdruck des Zeigefingers am Abzug. Haben Sie nicht daran gedacht?«

»Doch, aber am Abzug fand sich nicht die geringste Fingerspur.«

»Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Also, führen Sie meinen Auftrag aus und bringen Sie mir die Resultate so bald wie möglich.«

Sergeant Farland versprach, daß er sich beeilen wollte, und ging.

Der Inspektor nahm den Hörer vom Telephon und ließ sich mit der Waffenprüfstelle verbinden.

»Hier Crawford. Wie steht es mit dem Bericht im Fall Richmond?«

»Das Gutachten wird eben ins Reine geschrieben. In zehn Minuten schicken wir es hinunter.«

»Was ist denn das Ergebnis?«

»Das tödliche Geschoß ist aus der uns übergebenen Waffe Nr. 47814 abgefeuert worden. Darüber besteht nicht der geringste Zweifel.«

»Danke«, erwiderte der Inspektor kurz und lehnte sich erstaunt zurück. Nichts als Widersprüche! Zuerst hatte er sich die Sache so zu erklären versucht, daß Sir Richard sich wehrte und auf einen Gegner schoß, der ihm daraufhin den tödlichen Schuß beibrachte. Aber diese Annahme wurde durch die neueren Feststellungen hinfällig. Noch einmal ließ er sich die Waffenprüfstelle geben.

»Ich kann mir Ihren Befund nicht erklären«, sagte er, »und möchte selbst Versuche anstellen.«

»Dann würde ich Ihnen raten, in unsere Abteilung zu kommen. Hier können Sie das am besten tun. Auch haben wir bedeutend größere Erfahrung und Sachkenntnis in diesen Dingen.«

In dem Augenblick klopfte es an der Tür, und Crawford beendete das Gespräch.

»Herein!« rief er dann.

Dr. Reynolds trat ein und ließ sich in dem Sessel neben dem Schreibtisch nieder.

»Nun, haben Sie noch etwas Neues entdeckt?« fragte er.

»An der Todesursache und dem, was ich gestern sagte, ändert sich nichts, nur habe ich bei genauerer Untersuchung einige Pulverspuren in dem kurzen, nach amerikanischer Art geschnittenen Schnurrbart des Toten entdeckt. Sie sind allerdings sehr geringfügig, aber die Spezialisten von der Waffenprüfstelle können daraus wahrscheinlich wichtige Schlüsse ziehen. Sonst wäre vielleicht noch wesentlich, daß der tödliche Schuß direkt senkrecht auf den Mund gefeuert wurde, denn der Schußkanal durchbohrte die Mitte der hinteren Halspartie und zertrümmerte den Atlaswirbel, wodurch der sofortige Tod eintrat.«

»Aus welcher Entfernung ist nach den aufgefundenen Pulverspuren im Schnurrbart der Schuß abgegeben worden? Ich will noch genauer fragen: Wie weit war die Mündung der Waffe von dem Mund des Ermordeten entfernt?«

»Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Das ist ja auch weniger Sache des Arztes als Sache der Schießsachverständigen. Ich habe allerdings auch einige Erfahrung über die Größe und den Winkel des Streukegels bei Pistolenschüssen. Aber in diesem Fall handelt es sich um eine Waffe mit Schalldämpfer, und dadurch wird natürlich der Streukegel wesentlich beeinflußt und abgeändert.«

»Dann ist es das Einfachste, wenn wir zusammen zur Waffenprüfstelle gehen und dort einmal genauere Versuche anstellen.«

»Im Augenblick habe ich aber dazu keine Zeit, denn solche Experimente nehmen mindestens eine halbe Stunde in Anspruch. Ich muß eine dringende andere Arbeit bis heute mittag fertigmachen.«

»Haben Sie heute nachmittag um zwei Uhr Zeit?«

»Ja.«

»Gut. Kommen Sie dann bitte her und holen Sie mich ab. Wir wollen die Versuche gemeinsam in den Räumen der Waffenprüfstelle durchführen.«

Die beiden verabschiedeten sich voneinander.

Der Inspektor ging zu seinem Schreibtisch,, öffnete eine Schublade und nahm einen Browning heraus. Er entlud ihn und stellte verschiedene Versuche an, wobei er die Waffe sowohl auf sich als auch auf andere Gegenstände richtete. Lange beschäftigte er sich damit, aber schließlich schüttelte er den Kopf und schloß sie wieder ein.

Dann ließ er sich telephonisch mit Bruton Street 34 verbinden und Sergeant Belling an den Apparat rufen.

»Hallo, wie steht die Untersuchung dort? Haben Sie im Arbeitszimmer, in der Bibliothek oder im Schlafzimmer etwas gefunden?«

»Nein. Es lagen nur belanglose Schriftstücke in dem Schreibtisch – Rechnungen und dergleichen. Wichtige Dokumente habe ich nicht entdeckt, auch nicht in der Bibliothek. Entweder ist der Schreibtisch schon früher von anderen Leuten durchsucht worden, oder Sir Richard hat wichtige Papiere in einem Geheimsafe, den wir noch nicht gefunden haben, oder in einem Bankdepot aufbewahrt. Ich habe vor allem nach dem Schriftwechsel zwischen Carley und seinem Onkel gesucht, außerdem nach einem Testament, habe aber nur eine Aufstellung von Sir Richard, die sich auf die Minenkonzession bezieht. Es ist ein Kostenvoranschlag für die Verhüttung und den Transport der Eisenerze zu den umliegenden Häfen. Ich habe sie eingesteckt und bringe sie mit.«

»Ist sonst noch etwas gefunden worden – vor dem Haus oder im Hof? Oder haben Sie in den Räumen noch etwas bemerkt? Bei Tageslicht kann man ja immer besser sehen.«

»Ich war noch einmal in dem Zimmer des Butlers. Er sagte doch, daß seine Weckeruhr auf dem Stuhl vor dem Bett stand. Als es klingelte, warf er verwundert einen Blick darauf und sah, daß es neun Uhr sieben war. Später hat Armstrong festgestellt, daß Miller den Stuhl in der Eile umstieß, als er sich angekleidet hatte, um zu öffnen. Ich suchte nach dem Wecker, konnte ihn aber nicht finden und fragte den Butler danach. Er sagte mir, daß er ihn auch nicht gesehen hätte. Als ich darauf das Zimmer noch einmal genau durchsuchte, fand ich ihn unter einer Kommode. Beim Umfallen des Stuhls muß er ziemlich heftig zu Boden geschleudert worden sein, denn er lag ziemlich weit unter dem Möbel Das Glas war zerbrochen, das Werk stehengeblieben. Die Zeiger standen auf neun Minuten nach neun. Dadurch wird Millers Aussage wieder bestätigt und er ist weiter entlastet. –

Übrigens hat Miß Bonati hier angerufen und nach Ihnen gefragt. Wir haben sie an Scotland Yard verwiesen.«

»Ihre Beobachtungen bringen uns wenigstens in gewisser Beziehung weiter. Es ist jetzt aber Zeit, daß Sie zur Oper fahren und versuchen, dort etwas herauszubekommen. Ich habe im Augenblick nichts Besonderes vor. Holen Sie mich ab, dann begleite ich Sie.«

Bis zu Bellings Ankunft las Crawford die Protokolle der Vernehmung noch einmal durch. Die Punkte, die noch aufzuklären waren, unterstrich er mit einem Rotstift.

Nach verhältnismäßig kurzer Zeit meldete sich der Sergeant und beide fuhren dann nach Covent Garden.

Als sie dort ankamen, sahen sie schon die Schlangen der Leute, die warteten, um Eintrittskarten im Vorverkauf zu erhalten. Sie betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang und ließen sich bei dem Hausinspektor melden. Als dieser erfuhr, daß sie von der Kriminalpolizei waren und den Fall Richmond aufklären wollten, zeigte er sich sehr zuvorkommend.

»Kennen Sie Miß Bonati?« fragte Crawford.

»Ja.

»Sie war gestern in der Oper – können Sie wohl feststellen, welchen Platz sie hatte? Sir Richard begleitete sie zu ihrer Loge.«

»Ja, das habe ich heute morgen erfahren; – Loge vier, links. Man sprach hier allgemein, davon. Wahrscheinlich wollen Sie den Logenschließer vernehmen? Es trifft sich günstig, daß die Leute heute ausgezahlt werden, sonst müßten Sie abends während der Vorstellung wiederkommen. Bitte, begleiten Sie mich zur Kasse.«

Der Hausinspektor ging voraus und rief den Betreffenden heraus.

Durch Fragen stellte der Inspektor fest, daß der Mann Ria Bonati gesehen hatte, denn die Personalbeschreibung, die er von ihr und Sir Richard gab, stimmte genau.

»Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?«

»Ja. Die beiden schienen sich zu streiten.«

»Woraus schlossen Sie das?«

»Die Dame warf dem Herrn einen wütenden Blick zu, dann sagte sie in gehässigem Ton: ›Ich kann mir schon denken, daß diese Unterredung nichts mit deinem Neffen, sondern mit der schönen Sekretärin zu tun hat. Aber nimm dich in acht, ich lasse nicht mit mir spielen!‹«

»Haben Sie später noch etwas bemerkt?«

»Ja. Am Ende des ersten Aktes kam sie heraus, sah sich nach allen Seiten um, ging dann hinunter in die Eingangshalle und kehrte nach Ende der Pause nicht zurück. Ich sah sie erst gegen Mitte des zweiten Aktes wieder und schloß ihr Loge vier auf. Sie kam schnell die Treppe herauf – ich schaute gerade nach der Richtung. Sie war ziemlich aufgeregt, als sie eintrat und Platz nahm.«

»Haben Sie die Dame nach Schluß der Vorstellung noch einmal gesehen?«

»Nein.«

»Wie lange ist sie im ganzen fortgeblieben?«

»Etwas über eine halbe Stunde.«

Crawford war mit dem Ergebnis zufrieden und fuhr mit Belling zum Polizeipräsidium zurück.

»Das sind wichtige Neuigkeiten«, meinte er. »Ich wollte sowieso Ria Bonati fragen, ob sie am Montagnachmittag einem grauen Fehmantel und eine Fehkappe getragen hat, und ob sie die Dame war, die sich am Abend kurz vor neun an der Haustür Sir Richards zu schaffen machte und später im Nebengang verschwand.«

»Ich schlage vor, wir fahren zum Hotel und erkundigen uns bei dem Zimmermädchen und dem Portier, ob Miß Bonati gestern Nachmittag in dieser Kleidung ausgegangen ist. Dann sind wir bei der nächsten Unterhaltung ihr gegenüber sofort im Vorteil.«

Crawford war damit einverstanden, und bald stiegen sie vor dem Savoy-Hotel aus. Sie gingen zum Geschäftsführer und erklärten, was sie vorhatten. Sofort ließ dieser den Tagesportier hereinrufen.

Sie brauchten dem Mann nicht lange klarzumachen, um wen es sich handelte.

»Ja, die betreffende Dame ist gestern nachmittag in einem grauen Fehmantel und einer grauen Pelzkappe ausgegangen.«

»Ist sie jetzt im Hotel?« fragte Crawford dann den Geschäftsführer.

Nachdem ihre Anwesenheit festgestellt worden war, ließen sich der Inspektor und Belling bei ihr melden.

»Miß Bonati erwartet Sie«, erklärte der Page, der bald zurückkehrte, und führte die beiden Beamten zu den Räumen.

Sie begrüßte sie ziemlich kühl und unnahbar. Obwohl die beiden sie schon am vergangenen Abend in sehr vorteilhafter Kleidung gesehen hatten, staunten sie doch wieder, als sie ihnen jetzt in einem schwarzseidenen Kimono entgegentrat, der mit Stickerei in Altsilber geschmückt war. Ihr Gesicht hatte eine bleiche Farbe. »Sicher hat sie künstlich nachgeholfen«, dachte Crawford. Lässig hatte sie in einem Sessel Platz genommen, und das cremefarbene Leder bildete einen reizvollen Gegensatz zu der schweren, schwarzen Seide. Sie trug hauchdünne, schwarze Strümpfe, und ihre Füße steckten in pelzbesetzten schwarzen Pantöffelchen. Der Tod Sir Richards schien ihr nahegegangen zu sein, denn sie machte einen müden, traurigen Eindruck.

»Verzeihen Sie, Miß Bonati, daß wir Sie heute vormittag stören, aber wir erfuhren, daß Sie in der Bruton Street angerufen und nach mir gefragt haben. Und da ich auch noch Verschiedenes von Ihnen wissen wollte, sind wir hier vorbeigekommen. Warum wünschten Sie mich denn zu sprechen?«

»Ich habe heute morgen die Zeitungen gelesen und gefunden, daß die Privatsekretärin Sir Richards sich heimlich ins Haus geschlichen hat.«

»Das stand aber nicht in der Zeitung.«

»Nein, die brachte nur eine allgemeine Bemerkung, daß sie annahm, Sir Richard hätte sie zur Arbeit bestellt. Aber ich glaube das nicht, das ist nur ein Vorwand von ihr, denn wenn Sir Richard seinen Neffen sprechen wollte, brauchte er doch seine Sekretärin nicht dazu«, sagte sie heftig. Dabei blitzten ihre Augen böse auf, und die Pose der Trauer war plötzlich verschwunden.

Crawford war dieser Ausbruch sehr interessant, und er war gespannt, wohin das führen würde. Jedenfalls widersprach er ihr zunächst nicht, um einmal alles zu hören, was sie zu sagen hatte.

»Ja, Miß Rolands war im Hause, als die Polizei dort eintraf.«

»Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, daß er dauernd ausging, ohne mir mitzuteilen, wohin. Ich habe ihn dann aber beobachtet und weiß, daß er zu seinem Haus in der Bruton Street fuhr, wo er sich mit seiner Sekretärin traf.«

»Das ist doch erklärlich. Sicher hatte er geschäftliche Korrespondenz zu erledigen.«

»Nein. Er hatte sich doch zur Ruhe gesetzt, und auf der Reise hat er höchst selten geschäftliche Briefe geschrieben. Ich kenne ihn doch, ich war einige Monate mit ihm zusammen und weiß genau, daß seine Korrespondenz nicht soviel Zeit in Anspruch nahm. Wozu brauchte er hier überhaupt eine Sekretärin? Stetson hat sie zwar engagiert, aber natürlich hat Sir Richard ihm den Auftrag dazu gegeben. Diese Frau hat ihn umgarnt und mir seine Liebe gestohlen!«

»Aber ich dachte, Sie wären mit ihm verlobt gewesen und wollten heiraten?«

»Aber Inspektor, Sie sind doch ein Mann von Welt – Sie wissen doch, daß das kein Hinderungsgrund für die Männer ist! Sie hat geglaubt, er wird sie heiraten, nachdem er ein Verhältnis mit ihr angefangen hatte.«

»Ich würde aber vorsichtiger sein in meinen Behauptungen.«

»Sicher hat er das getan. Wo wäre er sonst immer gewesen? Und dann muß sie gestern plötzlich erfahren haben, daß er bereits mit einer anderen verlobt war, die er heiraten wollte. Aus Rache hat sie sich ins Haus geschlichen und ihn dann in seinem Arbeitszimmer erschossen, über Nacht habe ich über alles nachgedacht, und dabei ist mir das klargeworden. Die Polizei muß doch auch sofort das Lügengewebe dieser Frau durchschauen!«

Crawford unterdrückte ein Lächeln, blieb aber höflich.

»Wir werden die Anregung verwerten und Ihre Angaben eingehend prüfen. Seien Sie versichert, daß wir nichts unversucht lassen, diesen rätselhaften Tod aufzuklären.«

»Es ist ein Mord!« rief sie und spielte nervös mit der goldenen Handtasche, die auf dem Tisch vor ihr lag und die der Inspektor schon am vergangenen Tage in ihrer Hand gesehen hatte. Der Bügel bestand aus getriebener Handschmiedearbeit. Crawford blickte unverwandt darauf, und plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Würden Sie mir einmal dieses prachtvolle Stück zeigen? Ich möchte es gern näher betrachten.«

»Ja«, erwiderte sie. »Es ist ein Geschenk von Sir Richard.«

»Dann ist es jetzt ein teures Andenken für Sie«, entgegnete er und öffnete die Tasche wie in Gedanken. »Gestatten Sie«, sagte er und nahm einen Schlüssel heraus. »Zu welcher Tür gehört der?«

Die plötzliche Wendung des Gesprächs kam ihr unerwartet.

»Der Schlüssel gehört zu einer der Türen hier.«

Er schien sich damit zufriedenzugeben, schloß die Handtasche wieder und legte sie auf den Tisch. Den Schlüssel behielt er in der Hand und spielte damit.

»Nun habe ich auch noch einige Fragen an Sie, und ich bitte Sie, mir die zu beantworten. Gestern abend wurden Sie von Sir Richard in die Oper gebracht, und zwar begleitete er Sie bis zur Loge vier, links. Worüber unterhielten Sie sich, als Sie sich trennten?«

»Darüber, daß er zum Ende des ersten Aktes kommen wollte.«

»Haben Sie nicht auch noch über andere Dinge gesprochen?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Hatten Sie nicht eine Meinungsverschiedenheit?«

»Nein, nicht im geringsten.«

»Besitzen Sie einen grauen Fehmantel und eine graue Fehkappe?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Ich kann mir nicht denken, was diese Frage mit dem Mord an Sir Richard zu tun haben könnte.«

»Ich möchte Sie bitten, sie zu beantworten. Bei der Totenschau werden Sie sonst doch dazu gezwungen, das zu tun, und in Gegenwart einer großen Menschenmenge ist das viel peinlicher.«

Sie zögerte einen Augenblick.

»Ja, ich habe einen solchen Mantel und eine solche Kappe«, erwiderte sie schließlich.

»Sind Sie gestern nachmittag darin ausgegangen?«

Sie wurde stutzig.

»Worauf wollen Sie denn eigentlich hinaus?«

»Sind Sie gestern nachmittag zum Hause Bruton Street Nr. 34 gegangen?«

»Ich verstehe nicht, wie Sie dazu kommen, derartige Fragen an mich zu richten.«

»Sie waren also dort?«

»Ja«, entgegnete sie trotzig.

»Wie lange waren Sie gestern in der Oper?«

»Bis zum Schluß. Als Sir Richard mich dann nicht abholte, wurde ich besorgt und fuhr zu seinem Haus. Das habe ich Ihnen doch schon gestern zur Genüge erklärt.«

»Sind Sie gestern abend immer in Ihrer Loge geblieben?«

»Nein, in der großen Pause bin ich ins Foyer gegangen.«

»Haben Sie nicht auch vorher einmal die Oper verlassen?«

»Nein.«

»Wohin sind Sie denn nach dem ersten Akt gegangen?«

»Ins Foyer.«

»Sie sind aber erst lange nach Beginn des zweiten Aktes zurückgekehrt.«

»Das muß eine Verwechslung sein. Mir ist nichts davon bekannt.«

»Sie sind aber doch unten in der Garderobe gewesen und haben sich Ihr Chinchilla-Cape geben lassen«, suchte Crawford zu bluffen.

Sie schaute ihn ärgerlich an.

»Warum stellen Sie all diese sonderbaren Fragen an mich? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ich den Mord begangen habe?«

»Nein, ich möchte nur feststellen, wo Sie sich zur Zeit des Mordes aufhielten. Jedenfalls waren Sie weder in Ihrer Loge noch sonstwo im Theater.«

Sie wurde unsicher.

»Ich antworte Ihnen nicht weiter, und ich möchte Sie bitten, mich jetzt allein zu lassen.

Der Inspektor und Belling verabschiedeten sich durch eine kühle Verbeugung und verließen das Hotel.

»Diese Frau ist wirklich ein Rätsel«, sagte Crawford auf dem Weg nach Scotland Yard. »Wir können noch die größten Überraschungen von ihr erleben. Es ist doch ganz klar, daß sie uns nicht die Wahrheit gesagt hat. Wahrscheinlich hat sie uns gestern auch belogen.«

Belling nickte. Er war in Gedanken versunken und überlegte, wie Carley entlastet werden könnte.

Als sie in Scotland Yard ankamen, meldete die Telephonzentrale,, daß Rechtsanwalt Stetson inzwischen zweimal angerufen hätte. Inspektor Crawford möchte ihn sofort anläuten, wenn er zurückkehrte.

Als der Inspektor in sein Büro trat, ging er sofort auf seinen Schreibtisch zu, nahm den Hörer vom Apparat und ließ sich mit dem Büro des Anwalts verbinden.

»Hallo, hier Inspektor Crawford.«

»Hier Stetson.«

»Sie wünschten doch, daß ich mich bei Ihnen melden sollte?«

»Ja. Ich habe eine sehr wichtige Nachricht.«

»Was denn?«

»Als ich in mein Büro kam, fand ich einen Brief von Sir Richard vor, den er gestern abend abgeschickt haben muß.«

»Können Sie mir den Inhalt sagen?«

»Ja. Ich werde ihn vorlesen.«

Stetson las das verhältnismäßig kurze Schreiben vor.

»Und was sagen Sie dazu?« fragte Crawford.

»Ich halte das für durchaus möglich bei dem Geisteszustand, in dem er sich befand. Es ist jedenfalls die einfachste Lösung. Ich glaube, unter diesen Umständen können Sie die Totenschau noch für heute ansetzen.«

»Das wird ziemlich knapp sein, aber ich werde es versuchen. Jetzt ist es halb elf, ich werde gleich feststellen können, ob die Verhandlung heute um vier beginnen kann. Ich rufe Sie später noch einmal an. Auf welchem Postamt wurde übrigens der Brief abgestempelt?«

»London W 1.«

»Danke.«


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