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11.

Als die Sirene des Polizeiautos ertönte, riß sich Carley von seinen düsteren Gedanken los. Er hoffte, daß Belling und Inspektor Crawford von Scotland Yard kamen.

Unten wurde die Tür geöffnet, und sie hörten eine tiefe Stimme.

»Guten Abend – wo ist Polizist Granter?«

»Oben – im Arbeitszimmer.«

Der Butler eilte voraus. Sergeant Pemberton mit zwei Leuten folgte ihm.

Auf halber Treppe drehte er sich um.

»McLean, sehen Sie zu, daß niemand das Haus verläßt.«

Kurz darauf traten sie in das Arbeitszimmer.

Granter hatte inzwischen Mabel Denver in einen Sessel gleiten lassen, der in der Ecke stand.

»Was ist denn hier vorgegangen?« wandte sich Sergeant Pemberton an ihn.

»Ich war auf meinem Rundgang durch das Revier gerade in der Bruton Street. Einige Häuser von Nummer 34 entfernt –«

Wieder ertönte draußen das Heulen einer Polizeisirene. Ein Wagen hielt vor der Haustür, und Sergeant Pemberton trat auf die Galerie hinaus.

Verschiedene Leute in Zivilkleidern kamen auf ihn zu. Den ersten kannte er: es war Detektivinspektor Ernest Crawford von Scotland Yard.

»Sergeant Pemberton von Revier 67«, meldete er. »Ich bin eben von Polizisten Granter angerufen worden, der hier einen Mord entdeckt hat.«

»Gut, ich übernehme die Untersuchung des Falles. Bitte, bleiben Sie hier. Wieviel Leute haben Sie bei sich?«

»Außer Granter zwei Mann und den Chauffeur, also im ganzen vier. Ich habe bereits angeordnet, alle Ausgänge zu bewachen, so daß niemand aus dem Haus kann.«

Inzwischen war Belling ins Zimmer getreten und hatte Carley und Evelyn gesehen. Er grüßte seinen Freund schweigend von der Tür aus.

»Nach meiner Untersuchung ist Mr. Carley der Mörder – er hat Blut an der Hand«, sagte Granter gewichtig. Er hatte es kaum erwarten können, bis er zu Wort kam.

Pemberton warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Das kommt alles später«, sagte Crawford nachsichtig. »Wer sind denn diese Leute?«

Granter erklärte es kurz.

»Sergeant Pemberton, sehen Sie sofort nach, ob jemand durch ein Fenster ins Haus eingedrungen ist, und durchsuchen Sie alle Räume. Lassen Sie das Haus umstellen, vielleicht ist der Täter noch zu fassen. Belling, Sie sehen sich inzwischen die Räume an. Wahrscheinlich ist das Speisezimmer groß genug, daß die Leute unten warten können, bis ich sie vernehmen kann. Es ist ja hier die reinste Volksversammlung. Alle Spuren werden verwischt. Tragen Sie das Mädchen hinaus und legen Sie sie auf das Sofa in der Galerie«, wandte sich Crawford dann an Granter.

Miller und der Polizist führten den Auftrag aus. Gleich darauf kehrte Belling zurück.

»An der Halle liegen drei Räume«, berichtete er. »Vorne links die Bibliothek, dahinter, aber ebenfalls von der Halle aus zugänglich, das Speisezimmer, und rechts neben dem Anfang der Treppe das Empfangszimmer. Im Speisezimmer können die Zeugen warten. Ich schlage vor, sie im Empfangszimmer zu vernehmen.«

»Gut, bringen Sie sie hinunter. Granter bleibt bei ihnen und führt dort die Aufsicht. Durchsuchen Sie das Haus, ob Sie irgendwelche Spuren finden. Ich werde mich hier umschauen. Armstrong«, wandte sich der Inspektor an einen Beamten von Scotland Yard, machen Sie kurze Grundriß-Skizzen der einzelnen Geschosse.«

Mabel Denver kam wieder zu sich und wurde die Treppe hinuntergeführt.

Crawford kniete nun neben dem Toten nieder und legte ihm die Hand aufs Herz.

»Tot«, sagte er leise und erhob sich wieder. Er trat einige Schritte zurück, so daß er das große Bild von Sir Richard gut betrachten konnte. Dann warf er wieder einen Blick auf den Ermordeten, der direkt zu Füßen des Gemäldes lag. Er stellte eine verblüffende Ähnlichkeit fest, obwohl das Bild bereits vor acht Jahren gemalt war, wie aus der Unterschrift des Künstlers und der beigefügten Jahreszahl hervorging.

Der Inspektor ging zur Tür und übersah von dort aus das Arbeitszimmer.

Ein großes Fenster führte zur Straße hinaus. Die Vorhänge waren vorgezogen, aber die Jalousien nicht heruntergelassen.

Sir Richard lag ausgestreckt auf dem Rücken. Beide Arme ruhten auf dem Teppich, und etwa zwanzig Zentimeter von der rechten Hand entfernt bemerkte Crawford eine Pistole.

Belling trat wieder zu ihm.

»Sorgen Sie dafür«, wandte sich der Inspektor an ihn, »daß unsere Leute die Lage des Toten mit der Waffe möglichst bald photographieren, damit wir die Waffe selbst untersuchen können. Es sieht fast so aus, als ob Sir Richard sich hat wehren wollen. Der Pistolengriff ist der Hand zugekehrt.«

Der Stuhl, der anscheinend vor dem Schreibtisch gestanden hatte, war umgefallen und lag jetzt links von dem Toten vor dem Sofa, unter dem großen Ölbild.

Der Boden war mit einem weichen, grünen Smyrna-Teppich bespannt.

Crawford bemerkte, daß die Tür zu dem Zimmer nebenan offenstand.

»Belling, sehen Sie sich hier weiter um, ich komme bald zurück.«

Der Inspektor trat in den angrenzenden Raum und drehte das Licht an. Es war ein Ankleidezimmer. Schnell durchsuchte er es, konnte aber nichts Besonderes finden. Auch die große Schiebetür zu dem nächsten Zimmer war geöffnet.

Vom Ankleidezimmer kam er ins Schlafzimmer, von dort ins Bad. Überall standen die Türen auf, aber sonst konnte Crawford nichts entdecken, nachdem er in allen Räumen Licht gemacht hatte. Vom Bad führte ein Ausgang ins Treppenhaus. Crawford ging darauf zu und wollte die Tür aufmachen, aber sie war nur angelehnt. Sie öffnete sich auf das obere Podest der Dienertreppe, die zum Seiteneingang führte.

Er ging hinunter und benützte einen schmalen Gang, dann kam er durch eine Pendeltür in die Halle und stieg wieder die Haupttreppe hinauf.

Durch die offene Tür zur Galerie sah er, daß die Beamten vom Bilddienst schon dabei waren, Aufnahmen zu machen.

»Untersuchen Sie auch alle Türklinken und Griffe in den anliegenden Räumen«, wandte er sich an den Photographen. »Es ist möglich, daß der Täter dort Spuren zurückgelassen hat. Ich meine das Ankleide-, Schlaf- und Badezimmer.

»Ich habe keine besonderen Anhaltspunkte finden können«, meldete Belling.

»Nun gut, dann wollen wir jetzt die Leute vernehmen – vielleicht ergibt sich daraus etwas. Inzwischen wird auch der Arzt kommen. Wir sind hier oben vorläufig überflüssig. Kommen Sie mit.«

Die beiden gingen die Treppe hinunter und ließen einen Beamten von Scotland Yard als Wache auf der Galerie zurück.

»Zuerst hören wir am besten den Polizisten, der die Tat entdeckt hat«, sagte der Sergeant.

»Ja. Lassen Sie Granter durch einen anderen Mann ablösen und rufen Sie ihn herein.«

Crawford nahm an dem großen, runden Tisch Platz, der mitten im Zimmer stand.

»Erzählen Sie einmal, wie Sie den Mord entdeckt haben«, wandte er sich an Granter, als dieser mit Belling eingetreten war.

»Auf dem Gang durch mein Revier kam ich kurz vor neun in die Nähe dieses Hauses und sah aus einiger Entfernung, daß sich eine Dame an der Haustür zu schaffen machte. Vorsichtig ging ich näher und beobachtete sie. Dann wandte sie sich nach links zu dem kleinen Gang und ging wahrscheinlich zu der Nebentür. Es schlug neun. Ich wartete noch einige Zeit, aber sie kam nicht wieder auf die Straße. Meiner Meinung nach ist sie ins Haus gegangen.«

»Auf Ihre Meinung kommt es gar nicht an. Berichten Sie die Tatsachen, das übrige werden wir dann schon feststellen.«

Granter schwieg verwirrt. Er hatte geglaubt, großes Lob zu ernten, aber darin hatte er sich getäuscht.

»Also, was geschah dann?« fragte Belling aufmunternd.

»Ich blieb noch einige Minuten, dann ging ich weiter und begegnete kurz darauf einer Taxe, die anhielt. Ein Herr stieg aus – ich konnte aber sein Gesicht nicht sehen. Als er auch auf die Haustür von Nr. 34 zuging, beobachtete ich weiter. Er schien zu klingeln, wartete einen Augenblick und verschwand dann ebenfalls nach links in den Seitengang. Vorsichtig trat ich näher, aber als ich um die Hausecke schaute, war er nicht mehr zu entdecken.

Mir kam das sonderbar vor. Die Halle des Hauses war dunkel, im oberen Zimmer rechts brannte Licht. Das konnte ich sehen, obgleich die Vorhänge vorgezogen waren. Nach einiger Zeit hörte ich Stimmen im Haus, gleich darauf wurde die Tür aufgerissen, und der Butler Miller stürzte auf die Straße. Er hatte mich nicht gesehen und lief auf Berkeley Square zu. Dabei rief er mehrmals laut: ›Polizei!‹

Ich eilte ihm nach und brachte ihn durch Zurufe zum Stehen. Dann kehrten wir beide zum Haus zurück. Er war sehr aufgeregt und sagte mir, daß sein Herr, Sir Richard Richmond, der hier wohnt, ermordet worden sei. Ich fand Mr. Carley und eine junge Dame namens Evelyn Rolands, die Sekretärin, oben im Arbeitszimmer. Der Tote lag ausgestreckt auf dem Teppich.«

»Können Sie uns die Dame und den Herrn genauer beschreiben, die zuerst zur Haustür gingen und später durch den seitlichen Gang verschwanden?«

»Die Dame war groß und schlank und trug einen Pelzumschlag. Ich habe sie nur flüchtig gesehen.«

»Können Sie sie wiedererkennen?«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Und wie sah der Herr aus?«

»Er war schlank und etwas über mittelgroß. Er trug einen dunklen Mantel und einen dunklen Hut. Ich stand aber nicht nahe genug, als daß ich mehr sehen konnte.«

»Würden Sie den auch wiedererkennen können?«

»Ich habe mir inzwischen überlegt, daß es Mr. Carley gewesen sein muß.«

Crawford runzelte die Stirn.

»Fahren Sie in Ihrem Bericht fort.«

Granter erzählte nun umständlich weiter, was inzwischen geschehen war, und Belling protokollierte genau. Der Inspektor stellte noch verschiedene Einzelfragen, aber Granters Antworten waren wenig aufschlußreich.

»Können Sie uns nicht genau die Zeit angeben, als die Dame und später der Herr ins Haus gingen?«

Der Polizist dachte einen Augenblick nach.

»Die Dame muß ein bis zwei Minuten vor neun ins Haus gegangen sein.«

»Sie wissen doch gar nicht, ob sie ins Haus gegangen ist, sondern nur, daß sie in dem seitlichen Gang verschwunden ist. Und wie war es mit dem Herrn?«

»Der muß fünf bis zehn Minuten später gekommen sein.«

»Haben Sie denn keine Uhr? Sie sagten doch selbst, daß Ihnen die Sache verdächtig vorkam. Polizeibeamte müssen sich daran gewöhnen, über Zeit, Maß und Zahl immer genaue Angaben zu machen. In dem Fall hätte es doch wirklich nicht geschadet, wenn Sie einen Blick auf Ihre Taschenuhr geworfen hätten.«

Als Granter ins Speisezimmer zurückging, holte Belling seinen Freund Carley herein.

»Also, Sie sind Mr. James Carley?« begann der Inspektor. Er sah ihn prüfend an und bemerkte sofort eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem jungen Ingenieur und seinem Onkel. »Sergeant Belling hat mir schon Verschiedenes von Ihnen erzählt, und Ihre Personalien sind mir bekannt. Erzählen Sie also bitte gleich, was Sie von diesem Mord wissen.«

Carley war bleich, und seine Hände zitterten, als er sie auf die Tischdecke legte.

»Darf ich rauchen?« fragte er. »Der Tote ist mein Onkel, und ich bin begreiflicherweise sehr aufgeregt.«

»Ja – bitte.«

Belling reichte Carley sein Etui, und nachdem dieser einige Züge getan hatte, begann er zu sprechen. Auch seine Stimme verriet seine Nervosität.

»Ich war heute nachmittag bei Sergeant Belling in Scotland Yard und erzählte ihm von dem merkwürdigen Verhalten meines Onkels. Bei der Unterhaltung kamen wir überein, daß es am besten wäre, wenn ich ihn noch heute aufsuchte.«

»Ich weiß von Belling bereits Einiges. Sie brauchen mir von der Konzession in Birma und der Rolle, die Ihr Onkel dabei spielte, nichts Näheres zu sagen. Im allgemeinen bin ich orientiert.«

»Gestern und heute habe ich mehrfach versucht, meinen Onkel telephonisch zu erreichen, und bin auch hierhergekommen, um ihn zu sehen, weil die Kaution gestellt werden mußte. Etwa gegen vier Uhr kam ich heute nachmittag wieder her. Der Butler öffnete und teilte mir mit, daß mein Onkel nicht anwesend wäre. Dann sagte er mir im Vertrauen, Sir Richard hätte ihm den Auftrag gegeben, ihn mir gegenüber stets zu verleugnen.«

»Belling, das ist wichtig. Unterstreichen Sie es im Protokoll«, unterbrach Crawford den Bericht. »Und wie sind Sie heute abend ins Haus gekommen?«

»Ich fuhr in einer Taxe her, weil ich noch einmal versuchen wollte, meinen Onkel zu sprechen. Unterwegs hörte ich, daß die Turmuhren neun schlugen. Ich stieg in einiger Entfernung vom Haus aus, ging zur Tür und klingelte. Aber im selben Augenblick fiel mir ein, daß mich der Butler doch wieder abweisen würde. Deshalb entschloß ich mich, die Nebentür und das seitliche Treppenhaus zu benützen, stieg bis zum Obergeschoß hinauf und ging dann durch die Schwingtür in die Galerie. Ich drehte das Licht an und kam zum Arbeitszimmer. Als ich die Tür öffnete, lag er ausgestreckt auf dem Teppich. Ich beugte mich über ihn und untersuchte ihn – er war tot. Ich war so verstört, daß ich nicht wußte, was ich beginnen sollte. Wie lange ich im Arbeitszimmer gestanden habe, ohne mich zu rühren, weiß ich nicht, aber plötzlich hörte ich Schritte auf der Galerie, wandte mich um und sah, daß Miller mir entgegenkam. Auch er neigte sich über den Toten, dann schrie er mich an: ›Sie haben ihn ermordet!‹ Als er davonstürzte, machte ich mir klar, daß ich etwas tun mußte, um mich gegen diese Beschuldigung zu wehren, und rief Scotland Yard an. Glücklicherweise konnte ich Sergeant Belling erreichen.«

Dann berichtete Carley die weiteren Vorgänge.

»Wie kamen Sie denn ins Haus? War die Seitentür nicht zugeschlossen?«

»Ich hatte einen Schlüssel dazu.«

Woher haben Sie den?«

»Bevor ich nach Birma ging, wohnte ich in dem Haus meines Onkels.«

Der Inspektor sah ihn scharf an und runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

Armstrong klopfte und brachte die verlangten Grundrisse. Crawford legte sie vor sich auf den Tisch und ließ Carley an Hand des Planes zeigen, welchen Weg er genommen hatte.

»Können Sie mir noch genauer angeben, wann Sie ins Haus kamen?«

Carley überlegte.

»Es muß kurz nach neun gewesen sein.«

»Wieviel Minuten? Denken Sie noch einmal nach.«

»Vielleicht fünf bis zehn Minuten nach neun.«

»Wie kam es, daß Ihre linke Hand blutig wurde?«

»Als ich niederkniete, legte ich sie unter den Kopf meines Onkels und faßte dabei in eine Blutlache.«

»Wissen Sie, ob Ihr Onkel Feinde hatte?«

»Darüber kann ich nichts sagen, denn ich bin erst gestern nach mehrjährigem Tropenaufenthalt zurückgekehrt.«

»Danke, das wäre im Augenblick alles. Bitte, verlassen Sie das Haus noch nicht. Ich habe später wahrscheinlich noch weitere Fragen an Sie.«


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