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18.

»Ist der Tote, den Sie gestern abend im Arbeitszimmer fanden, Sir Richard Richmond?« fragte der Vorsitzende.

Die Totenschau war in vollem Gang. Am Verhandlungstisch saßen die Beamten, unter ihnen Crawford. Sergeant Belling und Sergeant Pemberton hatten hinter ihm Platz genommen. Wie gewöhnlich bei Kriminalfällen, die das Interesse der Öffentlichkeit erregen, war auch diesmal der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt.

»Ja«, entgegnete Miller, der den Zeugenstand einnahm.

Die Verhandlung hatte um vier Uhr begonnen. Polizist Granter, Sergeant Pemberton und Inspektor Crawford hatten in kurzen Sätzen berichtet, wie die Untersuchung des Falles durch die Polizei begonnen worden war.

»Um neun Uhr sieben klingelte es also an der Haustür. Sie befanden sich zu der Zeit auf Ihrem Zimmer und hatten sich ausgekleidet. Dann sprangen Sie auf, zogen sich hastig an und eilten hinunter, um aufzuschließen. Wieviel Minuten mag das gedauert haben?«

»Etwa zwei«, erwiderte Miller bestimmt.

Crawford schrieb etwas auf einen Zettel und ließ ihn dem Vorsitzendem hinüberreichen. Dieser las die Mitteilung und nickte ihm zu.

»Das genügt vorläufig«, wandte er sich dann an den Butler. »Ich werde Sie nachher wieder aufrufen lassen.«

Als nächster Zeuge wurde Dr. Reynolds vernommen, der einen ausführlichen Bericht über den ärztlichen Befund gab.

Der Vorsitzende las darauf in den Papieren und Vernehmungsprotokollen nach, und nach einiger Zeit schien er gefunden zu haben, was er suchte.

»Dr. Reynolds, wann ist Ihrer Meinung nach der Tod eingetreten?«

»Gegen neun Uhr – aber eher später als vorher.«

»Ich lese hier, daß Sie Inspektor Crawford gegenüber äußerten, Ihrer Ansicht nach wäre der Tod frühesten fünf Minuten vor neun, spätestens fünfzehn Minuten nach neun eingetreten. Stimmt das?«

»Ja.«

»Wenn ich die Mitte zwischen den Zeiten nehme, würden wir auf etwa neun Uhr fünf kommen.«

»Ja – das halte ich für möglich und wahrscheinlich.«

»Sie haben in Ihrem schriftlichen Bericht angegeben, daß der Schußkanal direkt durch den Mund von vorne nach hinten verläuft, ohne seitlich abzuweichen, so daß der Atlaswirbel zerschmettert wurde?«

»Ja.«

»Haben Sie irgendwelche Druckstellen, Abschürfungen oder geringfügige Verletzungen feststellen können?«

»Nein.«

Der nächste Zeuge war Jim Carley. Nach Bekanntgabe der Personalien und nach der Vereidigung ließ der Vorsitzende ihn genau berichten, wie er Sir Richard aufgefunden hatte.

»Sie haben niemand gesehen? Haben Sie vielleicht eine Bewegung des Vorhangs oder sonst etwas wahrgenommen oder Schritte im Hause gehört?«

»Nein.«

»Haben Sie auch nicht gehört, daß Miß Rolands die Treppe heraufkam?«

»Nein.«

»Sie haben nach neun Uhr unten an der Haustür geklingelt? Der Butler Miller sagte aus, er hätte gehört, daß um neun Uhr sieben jemand an der Haustür Einlaß begehrte. Kann das die Zeit sein, zu der Sie an der Haustür waren und auf den Knopf drückten?«

»Ja, davon bin ich überzeugt.«

»Sie wandten sich dann links zum Seitengang und kamen durch die Nebentür ins Haus. Wie lange hat es wohl gedauert, bis Sie das Arbeitszimmer erreichten?«

»Eine Minute – vielleicht etwas länger.«

»Wieviel Zeit verging, bis Mr. Miller Ihnen; am Eingang des Arbeitszimmers entgegentrat?«

»Das kann ich nicht genau sagen – ich war zu aufgeregt.«

»Aber Sie können es doch ungefähr angeben. Es dauerte jedenfalls keine Viertelstunde, und es waren sicher auch nicht nur dreißig Sekunden. Wie lange schätzen Sie die Zeit?«

Carley überlegte.

»Zwei bis fünf Minuten.«

Der Vorsitzende stellte noch eine Reihe von Fragen, die Carley ebenso beantwortete wie bei seiner ersten Vernehmung, so daß sich keine neuen Momente ergaben.

Der Vorsitzende hatte offenbar einen gewissen Verdacht gegen ihn. Das ging schon daraus hervor, daß er ihn sehr eingehend verhörte.

Nach Carley wurde Miß Rolands als Zeugin aufgerufen. Dem Vorsitzenden schien es zunächst darauf anzukommen, die genaue Zeit des Todes festzustellen. Er legte großen Wert auf ihre Angabe, daß auch sie das Klingeln um neun Uhr sieben gehört hatte.

»Haben Sie vorher etwas Besonderes bemerkt?«

»Ja, aber ich bin meiner Sache nicht sicher. Ich hatte den Eindruck, daß im Zimmer über mir gesprochen wurde. Vielleicht wurde aber auch nur ein Stuhl gerückt.«

»Wann war das?«

»Gegen neun. Es wäre aber auch möglich, daß ich Leute gehört habe, die auf der Straße vorübergingen und sich unterhielten.«

Der Vorsitzende machte eine Notiz, dann entließ er Evelyn Rolands, und Sergeant Belling nahm ihren Platz im Zeugenstand ein.

»Sie wurden von Inspektor Crawford beauftragt, gewisse Versuche durchzuführen, um die wichtigen Zeitangaben zu prüfen?«

»Jawohl.«

»Wann haben Sie diese Versuche durchgeführt?«

»Heute morgen.«

»Berichten Sie darüber.«

»Es handelte sich zunächst darum, die Zeit festzustellen, die Mr. Miller brauchte, um sich anzuziehen. Wir haben diesen Versuch zweimal mit ihm unter Benützung der Stoppuhr durchgeführt. Das eine Mal brauchte er zwei Minuten und vier Sekunden, das andere Mal zwei Minuten und zehn Sekunden. Darauf prüften wir die Zeit, die er für den Weg von seinem Zimmer bis zur Tür des Arbeitszimmers brauchte. Das ergab etwas weniger als eine Minute, einmal neunundvierzig und einmal vierundfünfzig Sekunden. Schließlich stellten wir noch die Zeit fest, die nötig ist, um von der Haustür durch den Nebeneingang die Dienertreppe hinauf zur Galerie und zum Arbeitszimmer zu gelangen.

Das dauerte sechsundsechzig beziehungsweise siebzig Sekunden. Danach würde also die Zeitfolge sein:

9.07 Mr. Carley klingelt an der Haustür, bestätigt durch die Aussagen von Mr. Carley, Mr. Miller und Miß Rolands.

9.08 Mr. Carley kommt im Arbeitszimmer an.

9.09 Mr. Miller ist mit Anziehen fertig und verläßt sein Zimmer.

9.10 Die beiden begegnen sich in der Tür von der Galerie zum Arbeitszimmer.«

»Haben Sie sonst noch etwas zu diesem Punkt festgestellt?«

»Ja. Als Mr. Miller hastig das Zimmer verließ, stieß er in der Eile einen Stuhl um, so daß die Weckeruhr, auf der er vorher die Zeit abgelesen hatte, zu Boden geschleudert wurde, zerbrach und stehenblieb. Sie zeigt genau neun Uhr neun.«

»Das ist eine wertvolle Bestätigung. Ich möchte jetzt Rechtsanwalt Stetson vernehmen.«

»Er ist noch nicht erschienen«, erklärte Inspektor Crawford. »Es liegt eine schriftliche Mitteilung von ihm vor, daß er nicht gleich bei Beginn der Verhandlung zugegen sein kann, aber bestimmt später erscheinen wird.«

Der Vorsitzende sah auf die Liste.

»Dann bitte ich Professor Haviland.«

Der Spezialarzt erhob sich. Er machte den Eindruck eines Gelehrten, mochte etwa fünfundfünfzig Jahre alt sein und hatte schon weißes Haar, aber einen lebhaften, intelligenten Gesichtsausdruck. Seine Bewegungen waren jugendlich elastisch.

»Sie haben Sir Richard Richmond vor vier Monaten behandelt? Haben Sie den Toten gesehen?«

»Ja.

»Erkennen Sie ihn als Sir Richard Richmond wieder?«

»Ja.«

»Auf welche Weise haben Sie ihn kennengelernt?«

»Vor vier Monaten behandelte ich ihn an einer Kopfverletzung, die leider böse Folgen hatte.«

»Bitte, teilen Sie uns Näheres darüber mit.«

»Am neunzehnten Juni besuchte mich Rechtsanwalt Stetson und teilte mir im Vertrauen mit, daß sich einer seiner Bekannten und ältesten Klienten bei Arbeiten im Laboratorium an der Stirn verletzt hätte. Er bat mich, die Behandlung zu übernehmen. Ich wunderte mich, da er mich doch ebensogut hätte anrufen können, um mir das zu sagen. Dann erklärte er mir, daß sich merkwürdige Störungserscheinungen bei Sir Richard bemerkbar machten. Da er dringend darum ersuchte, daß ich mich eingehend um den Fall kümmern sollte, begleitete ich ihn sofort in seinem Wagen zur Bruton Street.

Ich fand Sir Richard in seinem Schlafzimmer. Eine Krankenschwester war bereits von Mr. Stetson zur Pflege bestellt worden. Die Wunde an der Stirn war an sich nicht bedeutend, es hatten sich aber heftiges Erbrechen und Schwindel eingestellt, und auch die sonstigen Symptome deuteten auf eine Gehirnerkrankung. Ich gab die nötigen Anweisungen und verordnete zunächst ein Dauerbad, damit sich der Kranke, der sehr nervös war, beruhigte. Es gelang mir, Sir Richard äußerlich in wenigen Tagen wiederherzustellen, aber kurz darauf suchte mich Mr. Stetson wieder auf und erzählte mir, daß sein Klient plötzlich ein ganz anderes Verhalten zeigte. Während Sir Richard früher zuverlässig, ruhig und gesetzt war, machte er jetzt große Ausgaben, war vergnügungssüchtig und leichtsinnig.

Solche Fälle waren mir aus meiner Praxis gut bekannt. Diese Zustände sind im allgemeinen leicht zu heilen, und ich riet daher dem Patienten, eine größere Seereise zu machen. Mr. Stetson sorgte dafür, daß Sir Richard, dem nach außenhin nichts anzumerken war, eine Reise um die Welt unternahm. Ich hatte zunächst fünf bis sechs Monate vorgeschlagen. Dann kümmerte ich mich nicht weiter um den Fall, doch Mr. Stetson rief mich mehrmals an und teilte mir mit, daß er beunruhigende Nachrichten von seinem Klienten hätte. Soviel ich verstehe, besaß Sir Richard ein bedeutendes Vermögen. Seine Ausgaben stiegen während der Reise dauernd, und aus seinen sonstigen Äußerungen ging hervor, daß sich sein Zustand eher verschlechterte als besserte. Ich riet daher vor allem, ihn nach London zurückzurufen, um ihn hier genauer zu untersuchen. Vor etwa drei Wochen kam er nach England zurück, und ich legte Wert darauf, ihn möglichst bald zu sehen. Aber diesem Vorhaben widersetzte er sich, und es ist tatsächlich nicht mehr zu einer Untersuchung gekommen.«

»Haben noch weitere Besprechungen und Beratungen zwischen Ihnen und Mr. Stetson stattgefunden?«

»Ja. Mr. Stetson wurde immer besorgter und ängstlicher, und nach seinen Berichten und den Briefen schien die Geisteskrankheit eine schlimme Wendung zu nehmen. Ich drang energisch sowohl in seinem als auch im Interesse der Allgemeinheit darauf, daß er sich untersuchen ließe. Die letzte Besprechung fand am vergangenen Sonnabend statt. Die Krankheitssymptome waren derartig beunruhigend, daß wir schließlich übereinkamen, Sir Richard im Notfall auch gegen seinen Willen in eine Heilanstalt zu bringen, in der er von mir genau untersucht und beobachtet werden konnte.«

»Dachten Sie an eine bestimmte Anstalt?«

»Ja. Ich selbst unterhalte eine Privatklinik in der Nähe von Brighton.«

»Ist das eine Irrenanstalt?«

»Das gerade nicht, aber es werden dort auch schwere Fälle behandelt.«

Die Enthüllungen Professor Havilands machten tiefen Eindruck auf die Zuhörer, und es herrschte während seiner Vernehmung lautlose Stille.

»Hat die Wunde an der Stirn, die Sie damals behandelten, eine Narbe hinterlassen?«

»Ja. Zuerst war sie ziemlich rot, aber ich habe Sir Richard kurz vor seiner Abreise noch gesehen, und damals war sie schon stark verblaßt.«

Professor Haviland wurde darauf als Zeuge entlassen.

Polizeiarzt Dr. Reynolds meldete sich, und der Vorsitzende ließ ihn in den Zeugenstand treten.

»Haben Sie etwas zu den Ausführungen von Professor Haviland zu bemerken?«

»Ja. Ich habe den Toten genau untersucht, aber keine Narbe an der Stirn gefunden.«

Eine große Bewegung ging durch den Saal, und die Leute beugten sich vor, um Professor Haviland und Dr. Reynolds zu sehen, der sich inzwischen wieder an dem großen Verhandlungstisch niedergelassen hatte.

Der Vorsitzende wartete, bis sich die Unruhe gelegt hatte.

»Sie haben keine Narbe vorgefunden?«

»Doch, verschiedene Schnitte in der Kopfhaut, aber an anderen Stellen und verdeckt durch die Perücke. Die Narben sind noch verhältnismäßig jungen Datums und sorgfältig vernäht.«

In dem Augenblick wurde dem Vorsitzenden gemeldet, daß Rechtsanwalt Stetson erschienen wäre. Man sah, daß er sich von der Tür aus einen Weg durch die dichte Zuhörermenge nach vorne bahnte.

Professor Haviland erhob sich und bat den Vorsitzenden, den Toten, der im Nebenraum aufgebahrt lag, noch einmal betrachten zu dürfen.


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