Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20.

»Ich gebe Inspektor Crawford das Wort zu einer Erklärung«, begann der Vorsitzende, als er nach der Pause die Verhandlung wieder eröffnete.

Der Beamte von Scotland Yard hatte sich bereits erhoben.

»Ich bin der festen Überzeugung, daß es sich bei dem Tod von Sir Richard Richmond nicht um einen Selbstmord, sondern um einen Mord handelt. Die Kriminalabteilung von Scotland Yard hat genügend Material gesammelt, um dies zu beweisen. Ich beantrage, daß zunächst die Beamten des Erkennungsdienstes vernommen werden, dann die Beamten der Waffenprüfstelle in Verbindung mit Polizeiarzt Dr. Reynolds. Weitere Anträge behalte ich mir vor.«

Diese neue Entwicklung hatte keiner vorausgesehen, und alle blickten gespannt auf Sergeant Farland vom Erkennungsdienst, der als erster den Zeugenstand betrat.

Der Vorsitzende stand auf.

»Ich bitte Inspektor Crawford, da er bedeutend mehr Überblick über das vorhandene Material hat, die nächsten Zeugen zu vernehmen, nachdem die Formalitäten erledigt sind und ich sie vereidigt habe.«

Inspektor Crawford nahm eine Pistole vom Verhandlungstisch.

»Diese Waffe wurde im Arbeitszimmer neben der rechten Hand des Toten gefunden«, erklärte er den Geschworenen, dann wandte er sich an den Zeugen. »Haben Sie sie nach Fingerabdrücken untersucht?«

»Ja.«

»Was haben Sie gefunden?«

»Wir haben die Abdrücke von Teilen der Hand und von Fingern darauf entdeckt und photographiert. Die Spuren waren sehr deutlich, und die Abzüge sind scharf geworden.«

»Haben Sie sonstige Gegenstände in dem Haus von Sir Richard aufgenommen?«

»Ja.«

»Welche?«

»Die Schreibtischplatte im Mordzimmer und den Griff der linken oberen Schublade an demselben Schreibtisch. Auch daran haben wir Fingerabdrücke gefunden.«

Inspektor Crawford legte dem Vorsitzenden die Abzüge vor, der sie dann unter den Beamten am Tisch und unter den Geschworenen herumgehen ließ.

»Haben Sie feststellen können, von wem diese Finger- und Handabdrücke stammen?«

»Um sicher zu gehen, haben wir auch die Fingerabdrücke von Sir Richard selbst genommen, und alle Fingerspuren, die wir photographiert haben, sowohl auf der Schußwaffe, wie am Schreibtisch, stammen von ihm selbst.«

Wieder ging ein Raunen und Tuscheln durch den Saal. Die Zuhörer sagten sich, daß das doch gerade das Gegenteil von dem bewies, was Inspektor Crawford behauptete.

»Scheinbar stützt dies die Annahme eines Selbstmordes«, fuhr er fort, »aber als mir diese ersten Resultate vorgelegt wurden, gab ich mich damit nicht zufrieden. Ich war fest davon überzeugt, daß das nicht stimmen konnte, und gab Sergeant Farland den Auftrag, die Pistole dem Toten in die rechte Hand zu pressen, genau in der Haltung, als ob er sie abfeuerte. Haben Sie diesen Auftrag ausgeführt?«

»Ja. Wegen der eingetretenen Totenstarre war das Experiment sehr schwer, aber es ist uns trotzdem gelungen.«

Wieder nahm der Inspektor einige Abzüge aus seiner Aktentasche und reichte sie dem Vorsitzenden.

»Haben Sie die zweiten Aufnahmen mit den ersten verglichen?« wandte er sich dann wieder an Farland.

»Ja.

»Welche Schlußfolgerung haben Sie daraus gezogen?«

»Das Ergebnis war verblüffend. Die ersten Abdrücke stammen bestimmt von dem Toten, aber der Vergleich mit der zweiten Aufnahme zeigt deutlich, daß ursprünglich die Waffe mit der Hand Sir Richards nur oberflächlich in Berührung kam. Es fehlen manche Partien, vor allem der Abdruck der Handwurzel am Pistolengriff selbst und die Spitze des Zeigefingers am Abzug.«

»Was ergibt sich daraus?«

»Die ersten Fingerabdrücke rühren wohl von dem Toten her, aber Sir Richard hat die Waffe nicht selbst abgeschossen, sie ist ihm nur flüchtig in die Hand gedrückt worden, um diese Spuren hervorzurufen.«

»Ich danke Ihnen, Sergeant Farland. Das genügt im Augenblick.«

Darauf trat Captain Bulwer von der Waffenprüfstelle vor, dessen straffe Haltung den früheren Offizier sofort erkennen ließ.

»Sie haben heute mit Dr. Reynolds und mir zusammen eine Reihe von Versuchen durchgeführt, um die Möglichkeit eines Selbstmordes festzustellen. Zu welchem Resultat sind Sie gekommen?«

»Ein Selbstmord ist in diesem Fall unmöglich.«

»Warum?«

»Nach dem ärztlichen Befund hat sich Pulverschleim in den unteren Nasenöffnungen und in dem kurzgeschnittenen Schnurrbart des Toten gefunden. Daraus geht hervor, daß der tödliche Schuß außerhalb des Mundes abgefeuert wurde. Ich betone dies, weil bei Selbstmorden gewöhnlich der Lebensmüde die Mündung der Waffe zwischen die Zähne nimmt, und dann den Schuß abgibt. Auch in diesen Fällen ist die Schußbahn gewöhnlich schräg und weicht nach links ab. Es hängt dies mit der Lage der Muskeln des rechten Armes zusammen. Sollte sich ein Linkshänder das Leben nehmen, so ergibt sich eine Abweichung der Schußbahn nach rechts.

Der Arzt hat in unserem Fall festgestellt, daß der Schußkanal geradeaus gerichtet ist. Aus diesem Grund schon ist ein Selbstmord zwar nicht unmöglich, aber höchst unwahrscheinlich. Er setzt eine ziemlich scharfe Biegung des Armes und eine starke Beanspruchung der Armmuskeln voraus. Ein Selbstmörder denkt aber in den letzten Augenblicken nicht an solche Dinge – ihm ist es gleichgültig, wie der Schußkanal verläuft, und schon deshalb muß ein Selbstmord abgelehnt werden.«

»Ist das der einzige Grund, der Sie zu einer Verneinung bringt?«

»Nein. Man kann die Spuren des Geschosses deutlich an den oberen und unteren Schneidezähnen erkennen, von denen kleine Ecken abgeschlagen sind. Die Richtung des Pistolenlaufes war also direkt auf die Mitte des Mundes gerichtet. Wenn nun Pulverspuren in den unteren Nasenöffnungen festgestellt worden sind, dann bedeutet das, daß der Pulverschleim einen Streukegel von ungefähr fünf Zentimetern hatte. Nach genauer Messung bei dem Toten beträgt der Abstand von den obersten Pulverkörnern bis zur Mitte des Einschusses siebenundzwanzig Millimeter. Dies stellt nur den Radius dar, der Durchmesser des Streukegels beträgt also das Doppelte.

Aus dieser Beobachtung kann man sehr genaue Schlußfolgerungen ziehen, wie weit die Mündung der Pistole beziehungsweise des Schalldämpfers von dem Gesicht des Toten entfernt war. Wir haben heute die Mordwaffe eingespannt, Schüsse mit derselben Munition abgegeben und dabei festgestellt, daß bei dieser Pistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer ein Streukegel von fünf Zentimetern einer Entfernung von siebzehn bis neunzehn Zentimetern von der Mündung bis zu den Schneidezähnen entspricht. Der Schalldämpfer verlängert natürlich die Entfernung von der Vorderkante des Abzugsbügels bis zur Mündung, die in diesem Fall sechzehn Zentimeter beträgt. Wenn man diese beiden Maße zusammenaddiert, erhält man eine Entfernung von dreiunddreißig bis fünfunddreißig Zentimetern. Um dieses Maß müßte der Zeigefinger eines Selbstmörders von den Schneidezähnen entfernt sein, um eine Schußwirkung zu erzielen, wie wir sie bei dem Toten vorfanden. Das ist aber unmöglich, denn dann müßte Sir Richard einen bedeutend längeren Arm gehabt haben, als er ihn in Wirklichkeit besitzt. Nur ein Akrobat und Schlangenmensch könnte sich bei äußerster Verrenkung und Anstrengung einen solchen Schuß beigebracht haben, und auch dazu müßte er lange trainiert haben.

Aus diesem Grund ist ein Selbstmord ausgeschlossen.«

Dieser etwas langen Erklärung waren die Anwesenden mit großem Interesse gefolgt. Manche hatten es nicht verstanden und schüttelten den Kopf», andere versuchten mit Bleistiften und Füllfederhaltern den Schuß an sich selbst.

»Ich bitte jetzt Dr. Reynolds«, sagte der Inspektor, nachdem er Captain Bulwer durch ein kurzes Kopfnicken gedankt hatte.

»Dr. Reynolds, Sie haben die Untersuchung des Toten vorgenommen. Bestätigen Sie die Angaben des letzten Zeugen, soweit es sich um das Vorhandensein von Pulverschleim im Gesicht des Toten handelt?«

»Ja.

»Ist Ihnen sonst noch etwas Besonderes in der Beziehung aufgefallen?«

»Ja. Ursprünglich muß der Streukegel des Schießpulvers auch am Kinn zu sehen gewesen sein, aber diese Partie war abgewischt, ebenso die oberen Lippen. Ich erkläre mir das damit, daß der Täter, der die Spuren eines Mordes verwischen wollte, in der Eile vergaß, das Pulver im Bart und in den Nasenlöchern zu entfernen.«

»Sie haben die Versuche gemeinsam mit uns durchgeführt. Bestätigen Sie die Angaben des Captain Bulwer über die Lage der Hand- und Armmuskeln?«

»Ja. Sir Richard hatte eine Körperlänge von einem Meter sechsundsiebzig, und er müßte schon ein Riese von mindestens zwei Meter zwanzig gewesen sein, um sich durch einen solchen Schuß mit der vorliegenden Waffe zu töten.«

»Danke, das genügt.«

Dr. Reynolds begab sich wieder an seinen Platz.

»Nun habe ich selbst noch etwas dazu zu sagen«, erklärte Crawford. »Ich habe die Akten der Schießsachverständigen in der Waffenprüfstelle durchgesehen. Bis jetzt hat sich noch kaum jemand mit einer Pistole erschossen, auf die ein Schalldämpfer aufgeschraubt war, und schon aus diesem Grund ist ein Selbstmord so unwahrscheinlich wie nur möglich. Aber einen anderen wichtigen Gegenbeweis sehe ich in folgender Tatsache. Ich habe den Briefumschlag genau untersucht, in dem der Brief des vermeintlichen Selbstmörders an Rechtsanwalt Stetson abgesandt wurde. Der Poststempel zeigt klar und deutlich, daß der Brief zwischen neun Uhr fünfzehn und zehn Uhr fünfzehn in dem Bezirk des Postamts W 1 aufgegeben wurde. Da ich eine ähnliche Entwicklung voraussah, habe ich mich vor dieser Verhandlung bei dem Postamt W 1 erkundigt, zu dessen Bezirk Bruton Street 34 gehört. Um neun Uhr fünfzehn findet die Leerung der Briefkästen in der Gegend statt. Wenn der Brief vor dem Mord in den Kasten geworfen worden wäre, müßte er den Stempel 8.15 bis 9.15 tragen. Es ist nicht anzunehmen, daß Sir Richard, wenn er die Absicht hatte, sich das Leben zu nehmen, die Beförderung dieses Briefes einem anderen übertrug. Wir kämen also zu der merkwürdigen Tatsache, daß der Selbstmörder nach seinem Tod aufstand und den Brief nach neun Uhr fünfzehn in den nächsten Postkasten warf.«

Ein Heiterkeitsausbruch unter den Anwesenden wurde sofort von dem Vorsitzenden gedämpft.

»Als weiteren Grund möchte ich anführen: Der Brief an Rechtsanwalt Stetson ist handschriftlich mit Tinte geschrieben. Ich habe mir, ohne an diesen besonderen Fall zu denken, durch Sergeant Belling einige Schriftstücke aus dem Schreibtisch Sir Richards geben lassen, die dieser selbst geschrieben hat. Schon ein Laie kann meiner Meinung nach feststellen, daß die beiden Schriften nicht übereinstimmen. Da ich jedoch kein vereidigter Graphologe bin, muß dieser Punkt noch nachgeprüft werden.«

Crawfords Beweisgründe waren so schlagend, daß einige Zuhörer unwillkürlich applaudierten, aber sofort verstummten, als sich der Vorsitzende erhob.

»Ich danke Ihnen, Inspektor, für Ihre Beweisführung und für die große Mühe, mit der Sie dieses Material zusammengestellt haben.«

Nachdem nun einwandfrei feststeht, daß Sir Richard Richmond nicht durch Selbstmord endete, liegt vorsätzlicher Mord vor, und die Vernehmung muß auf dieser neuen Grundlage eingehender geführt und zum Teil wiederholt werden.«


 << zurück weiter >>