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Neuntes Kapitel.
Mine und Gegenmine

Aehnliche Mittel, mit ganz ähnlichem Erfolge, wandte Herr Waller auch bei dem Commerzienrath selbst an. Nur freilich mußten die Fäden hier beiweitem feiner gesponnen werden. Der Commerzienrath, bei der Ueberlegenheit seines Verstandes und bei seiner verschlossenen, einsylbigen Natur, war für fremden Einfluß überhaupt nur sehr schwer zugänglich; schon der leiseste Verdacht, daß ein Einfluß auf ihn geübt werden sollte, würde genügt haben, jeden derartigen Versuch zu vereiteln.

Herr Waller machte darin allerdings eine Ausnahme, aber auch nur dem Anscheine nach. Der Fabrikherr, wie früher erzählt worden, liebte es, den jungen Prediger um seine Meinung zu befragen; und das keineswegs blos in solchen Dingen, welche dem Beruf und der Kenntniß des Predigers zunächst angehörten, sondern auch in recht weltlichen, ja sogar in diesen am meisten. In Wahrheit jedoch kam es ihm dabei weit weniger darauf an, die Meinung seines Günstlings zu vernehmen, als vielmehr darauf, seine eigene vorgefaßte von ihm bestätigt zu hören. Er hatte die verwandte Natur in Herrn Waller erkannt, den Entwurf und Ansatz gleichsam zu dem, als was er sich selbst mit so viel stolzer Genugthuung fühlte: von nüchternster Verständigkeit, ohne Leidenschaft, ohne Sentimentalität, mit unerschütterlicher Consequenz nur Dasjenige verfolgend, was Herr Wolston sein Recht, Herr Waller seine Pflicht nannte – und was doch in der That bei Beiden Eins und Dasselbe war, nämlich der eigene Vortheil; es war ihm eine eigenthümliche Empfindung, Herrn Waller, ungefähr wie der Meister den Schüler, zum Echo seiner Entschließungen zu machen und in der Zustimmung, der Bewunderung des jungen Mannes sich selbst zu spiegeln.

Allein dieser Schüler war der Meisterschaft weit näher, als Herr Wolston es ahnte. Herr Waller durchschaute seine Stellung auch in dieser Hinsicht vollständig; er wußte sehr wohl, daß in demselben Augenblick, wo er sich einen Widerspruch gegen den Willen seines Gönners erlauben würde, dieser selbst ihn würde fallen lassen, und daß daher jede Absicht, die er bei Herrn Wolston durchzusetzen gedachte, sich so einkleiden und so auftreten mußte, als ob es vielmehr nur Herrn Wolston's eigene Absicht wäre. Herr Wolston war nicht allein zu stolz, sich selbst zu verstellen: er hielt sich auch für zu klug, als daß es irgend eine Verstellung geben könnte, die er nicht sofort durchschaute.

Dadurch wurde das Vorhaben des jungen Predigers wesentlich erleichtert.

Es war in einer jener glänzenden Abendgesellschaften gewesen, welche die Commerzienräthin um sich zu versammeln liebte, wo sie zuerst mit ihrem Projekt gegen ihren Gemahl herausgerückt war. Sie hatte es mit all der Emphase gethan und all dem Aufwand von frommen Redensarten, der ihr gelegentlich zu Gebote stand und an dem doch, wie wir wissen, Niemand weniger Geschmack fand als ihr eigener Gemahl. Herr Wolston hatte in seiner sarkastisch ablehnenden Art geantwortet und sogar noch etwas herber als gewöhnlich, eine etwas peinliche Scene war in Anzug gewesen: als eben noch zu rechter Zeit Herr Waller das Wort ergriffen und den Gegenstand durch allerhand historische und moralische Erläuterungen in das Gebiet allgemeiner neutraler Betrachtung hinübergespielt hatte.

Absichtlich erging er sich dabei viel weitläufiger, als sonst seine Art war. Ein geistreicher Mann muß, wenn die Umstände es erfordern, auch schon einmal langweilig sein können; als Herr Waller seinen Vortrag über den Begriff und das Recht der Wohlthätigkeit, über Armenpflege, Warteschulen, Rettungshäuser u. s. w. endlich schloß, fühlte die Gesellschaft sich so übersättigt von diesem Gegenstand, daß wenigstens für heute Abend Niemand mehr Lust empfand, ihn wieder aufzunehmen, und auch Herr und Frau Wolston hatten Zeit gewonnen, in das gewöhnliche vornehme Gleis ihres Umgangstons zurückzukehren.

Als Herr Waller den Commerzienrath dann einige Tage später allein traf, bat er mit diesem Gemisch von Demuth und Zurückhaltung, das ihn so vortrefflich kleidete, um Entschuldigung bei ihm, daß er ihn neulich mit so pedantischen Auseinandersetzungen gelangweilt habe.

Sie wissen, sagte er, daß es sonst meine Art nicht ist, den Prediger mit in die Gesellschaft zu nehmen; wenigstens gebe ich mir Mühe, diese Unart meiner meisten Amtsbrüder abzulegen, und wenn mir doch noch hier und da etwas theologische Schwerfälligkeit anklebt, so ist mir ja in Ihrem Hause und Ihrem bildenden Umgang eine Schule eröffnet, in welcher ich diese Schwäche mit der Zeit hoffentlich besiegen werde. Aber vorgestern, ich muß es gestehen, war mir der theologische Eifer dennoch über den Kopf gewachsen. Wer kann die edlen Absichten, welche Ihre Frau Gemahlin hegt, dankbarer anerkennen als ich? Das Elend unter den niedern Volksclassen ist überall groß, auch hier ganz gewiß, und der Gedanke, demselben entgegenzuwirken, indem man die geistige und sittliche Entwicklung der Jugend zu heben sucht, darf nicht ganz ohne Weiteres verworfen werden. Ich brauche Ihre Geduld über diesen Gegenstand nicht weiter zu ermüden, da Sie selbst ja erst kürzlich bei einer widerwärtigen Veranlassung die Erfahrung erneuert haben, wie verderbt diese Volksklassen sind, und wie wenig selbst diese einzig richtige, diese wahrhaft väterliche Zucht, mit welcher Sie, Herr Commerzienrath, Ihre Untergebenen behandeln, im Stande ist, alles Anstößige bei Seite zu räumen …

Der Prediger deutete damit auf die Untersuchung hin, welche der Commerzienrath in Betreff der Vorgänge bei Ankunft des Engelchen hatte einleiten lassen. Es waren dabei jedoch so viel verworrene, wüste Geschichten zum Vorschein gekommen, es hatte in diesem allgemeinen Durcheinander von Trunk, Spiel, Liederlichkeit so schwer gehalten, nur die einzelnen Thatsachen festzustellen, daß der Commerzienrath, vielleicht auch noch durch andere Rücksichten bewogen, es vorgezogen hatte, die ganze Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.

Der Commerzienrath verstand die Anspielung; sie erfreute ihn eben nicht und winkte er dem Prediger daher mit ziemlich kalter Miene fortzufahren.

Aber so sicher hatte dieser sein Ziel im Auge und so gewiß war er über den Weg, den er dabei einzuschlagen hatte, daß ihn selbst die augenblickliche Misstimmung seines Gönners nicht irre machen konnte. Auch kannte er ja die Mittel, dieselbe zu besänftigen.

Das ist das wahre Unglück der Zeit, sagte er, indem er, nur in etwas wortreicherer Fassung, einen Gedanken wiederholte, der zu den Lieblingssätzen des Commerzienraths gehörte und auf den derselbe, als auf ein wahres Axiom von Weisheit und Lebenswahrheit, sich nicht wenig zu Gute that –: das ist das wahre Unglück der Zeit, und daher kommt all diese unselige Verwirrung, an der wir leiden, daß ein Jeder glaubt, es sei schon an dem guten Willen genug, dessen er sich bewußt ist, und Alles, was nur mit guter Absicht unternommen wird, müsse darum auch wirklich gut ausfallen. Auch die Absicht Ihrer Frau Gemahlin, ich wiederhole es, ist höchst ehrenwerth; aber die Ausführung – die Nachsicht und Güte, an welche Sie mich gewöhnt haben, gibt mir den Muth, es offen vor Ihnen auszusprechen – dünkt mich höchst gefährlich. Ich habe es Ihnen früher selbst nicht glauben wollen, und es ist dies auch wieder einer von den Punkten, in denen ich Ihrer bessern Einsicht zu Dank verpflichtet bin: der Mensch ist nicht geschaffen durch Güte gelenkt zu werden; er braucht einen starken, eifernden Gott, den er fürchtet, ein strenges Gesetz, das ihn mit Schrecken erfüllt, ein mahnendes Gewissen, das ihn ängstigt und durch diese Beängstigungen belehrt und leitet. Diese modernen Versuche, alle Unebenheiten des Lebens in Güte auszugleichen, sind höchst gefährlicher, ja höchst strafbarer Natur; denn sie erschüttern und verderben die ewige Ordnung Gottes. Nicht das Herz mit seinen schmeichelnden Leidenschaften und seinen warmen, weichen Empfindungen hat Gott uns zur Richtschnur des Lebens gesetzt: sondern das ernste, strenge, unerschütterliche Gesetz, das er unserm Gewissen eingegraben. Es wäre unziemlich von mir gewesen, ich weiß es, hätte ich der Frau Commerzienräthin offen widersprechen und ihr nachweisen wollen, daß diese sogenannten humanen Einrichtungen vielmehr im Gegentheil nur dazu angethan sind, das Volk noch immer trotziger, immer hochmüthiger und also noch immer elender zu machen. Allein ich vermochte auch nicht einen schweigenden Zuhörer abzugeben bei so viel schönen, so viel liebenswürdigen Irrthümern, die aber doch immer Irrthümer bleiben; darum bemächtigte ich mich dieses Gegenstandes, um ihn wenigstens durch einige allgemeine Betrachtungen in ein geeigneteres Licht zu rücken …

Und glauben Sie, fragte der Commerzienrath lächelnd, daß Sie mit all Ihrer theologisch-historischen Weisheit und all Ihren schönen Redensarten von Einrichtung und Zweck der Gesellschaft meine Frau bekehrt haben? Guter Prediger, meine Frau ist eine Frau – und diese Art von Wohlthun ist jetzt eine Mode.

Sie sprechen es richtig aus, fiel der Prediger mit Lebhaftigkeit ein, eine Mode! und einem so geistreichen Menschenkenner, wie der Herr Commerzienrath, ist es auch nicht unbekannt, daß Moden vergänglich sind, um so vergänglicher, je rascher sie sich verbreiten und je weniger Widerstand ihnen geleistet wird. Wo ein so starker Arm die Zügel führt, wie hier, da hat es keine Gefahr. Es thut gar nichts, daß das Volk seit einiger Zeit immer widerspänstiger, immer aufsäßiger wird: Sie haben die Macht, diesen Hochmuth zu brechen, und werden wissen, wann die Zeit dazu gekommen ist. Sie daher mögen es auch ruhig geschehen lassen, daß die Kenntniß von Plänen und Projekten, wie Ihre Frau Gemahlin dieselben nährt, sich unter den Leuten verbreitet und die Gemüther mit ungewissen Hoffnungen, thörichten Erwartungen täglich mehr in Aufregung versetzt; Ihre Autorität ist zu anerkannt, Ihre Macht zu fest, Sie brauchen sie nicht noch fester zu gründen. Wäre es anders oder könnte es Ihnen überhaupt darum zu thun sein, mit Einem Schlage die ganze Nichtigkeit dieser Theorien zu beweisen, o wahrhaftig, man könnte ja nichts Besseres thun, als ihnen freien Lauf lassen und ihre Ausführung sogar befördern! Sie sind zu nachsichtig, zu zärtlich gegen Ihre Frau Gemahlin; Sie werden ihr diese Verlegenheit ersparen, in welche sie sich versetzt sähe in demselben Augenblick, wo sie an die Ausführung ihres Vorhabens ginge. Durch nichts – auch dies habe ich von Ihnen gelernt, mein theurer Gönner – kann ein Irrthum so gründlich zerstört werden als dadurch, daß man seine ganze Consequenz sich vollständig erfüllen läßt. Denke ich mir diese Warteschule, welche Ihrer Frau Gemahlin so sehr am Herzen zu liegen scheint, errichtet; denke ich mir die feine, vornehme Frau inmitten dieser unsaubern Kinder, dieser keifenden, widerspänstigen Mütter; denke ich mir die Enttäuschung, welche sich der Leute selbst bemächtigen würde, wenn nun einmal eine sogenannte humane Einrichtung bei ihnen zu Stande gekommen wäre, und siehe da, es wäre nichts, weder für die Gebenden noch für die Empfangenden – und denke ich mir dann zu alledem, wie Sie, Herr Commerzienrath, mit Ihren klaren, verständigen Principien und Ihrer auf Lebenserfahrung gestützten heilsamen Strenge in dies Chaos guter Absichten und edler Bestrebungen hineintreten, und wie es da auf einmal dem Verstocktesten gleich Schuppen von den Augen fallen müßte, wie viel heilsamer Ihre Strenge als all dieses ohnmächtige humanistische Getreibe …

Der Prediger konnte seinen Satz nicht vollenden; der Commerzienrath, mit seinem behaglichsten Schmunzeln, klopfte ihm auf die Schulter:

Noch, sagte er, ist die Noth nicht so groß, glaube ich, und ich selbst, wie Sie wissen, liebe es nicht, eine Macht zu zeigen, deren Besitz mir ohnedies gewiß ist. Aber wenn es einmal so käme, so ist das ein Gedanke, den ich schon selbst zuweilen genährt habe …

Von da ab setzte der Commerzienrath den Plänen seiner Gemahlin beiweitem nicht mehr diesen schroffen, feindseligen Widerstand entgegen als früher; es war ihm weniger ein Gegenstand des Zornes als des Spottes; weshalb er ihn jetzt auch wohl selbst zur Sprache brachte.

Die Baronin, zufrieden, nur wenigstens so weit gekommen zu sein, ließ sich die Spöttereien gern gefallen; verstärkten sie ihr doch nur den Reiz dieses Dulderbewußtseins, in dem sie sich überhaupt so wohl gefiel und das sie für so manches Misliche ihrer Ehe hinlänglich entschädigte.

Unter diesem Necken und Spotten ließ der Commerzienrath es denn geschehen, daß allerhand Einrichtungen für die Warteschule getroffen wurden, als ob dieselbe wirklich mit Nächstem eröffnet werden sollte. Daß es mit seiner Einwilligung geschehe, konnte freilich Niemand sagen. Aber auch das Gegentheil ließ sich nicht behaupten; es war eben ein Gemisch von Ernst und Scherz, eine halb spielerische Laune, bei welcher die letzte Entscheidung noch immer vorbehalten blieb.

Die Commerzienräthin betrieb ihre Anstalten mit großem Geräusch; der armen Angelica wollte oft das Herz brechen, wenn sie an ihren einfachen praktischen Plan zurückdachte und nun sah, wozu Eitelkeit und Selbstsucht denselben entstellten. Es war ein förmliches Comité gebildet worden, bei welchem Herr Florus als Protokollführer sich besonders thätig erwies. Die Baronin präsidirte mit großer Würde; Correspondenzen wurden angeknüpft, Berichte verlesen, kurz, es wiederholte sich das ganze nichtige Schauspiel, das Angelica schon ehemals bei den vornehmen Frauen der Residenz hatte kennen gelernt und von dem sie sich schon damals mit so viel Unlust abgewendet hatte.

Auch jetzt nahm sie daher an diesem Allen keinen persönlichen Antheil. Das Wenige, was sie von ihrem ursprünglichen Plane noch retten zu können glaubte, hatte sie dem Herrn von Lehfeldt anvertraut, dessen Gewandtheit und Thätigkeit, wie wir schon früher gehört haben, sich auch in diesem Falle so glänzend bewährte.

Herrn von Lehfeldt war es denn auch vorbehalten, die Sache endlich zur Entscheidung zu bringen und die unumwundene Zustimmung des Commerzienraths auszuwirken. Es war Alles in soweit vorbereitet, und fehlte nichts mehr als nur noch ein geeignetes Local. Madame Wolston wollte eines der vielen Nebengebäude dazu benutzt wissen, die zu dem alten Klosterbau gehörten und die meist leer, in halber Verfallenheit, standen.

Aber sei es, daß der Commerzienrath überhaupt bisher nur sein Spiel getrieben hatte, oder sei es auch, daß sein Humor sich verlor, da er die Sache jetzt so nahe an der Ausführung erblickte, mit einem mal, wie die Angelegenheit bis zu diesem Punkte gediehen war, wollte er überhaupt nichts mehr davon wissen; er weigerte sich nicht nur, eine geeignete Räumlichkeit anzuweisen, sondern ersuchte seine Gemahlin auch, mit der gewohnten strengen Miene, denn nun doch endlich von diesen Thorheiten abzustehen.

Und hier war es nun, wo Herr von Lehfeldt sich, so zu sagen, in die Bresche warf und durch einen unvermutheten kühnen Angriff den Sieg plötzlich auf die Seite seiner Verbündeten brachte.

Aber nun, rief er, soll unser vortrefflicher Commerzienrath doch sehen, daß man mit einer Versammlung, in welcher schöne Damen, fromme Priester, berühmte Poeten und prädicatlose Vagabonden bei einander sitzen, nicht ungestraft sein Spiel treiben darf! Es fehlt nichts weiter als ein Local? und alles Andere haben Sie uns früher bereits zugestanden? O charmant, auch das Local ist gefunden: die ehemalige Försterwohnung, rechts an der Heerstraße, die jetzt schon seit Jahren leer steht, gehört, wie Sie wissen, der herzoglichen Kammer; es ist ein wenig weit dahin, ich geb' es zu: aber diese kleine Turnfahrt alle Morgen wird der hoffnungsvollen Jugend erst recht von Nutzen sein. Nun also denn: ein einziges Wort des Herrn Ministers an Serenissimus, bei dem, wie Sie ebenfalls wissen, dergleichen Anstalten in ganz besonderem Wohlgefallen stehen – und das Haus ist der Frau Baronin zu Diensten. Oder irre ich, wendete er sich leichthin an den Commerzienrath, und stände das Gebäude nicht mehr unbenutzt …?

Der Commerzienrath schlug unwillkürlich die Augen zu dem Fragenden empor; Herr von Lehfeldt blickte ihn ebenfalls an, so ruhig, mit solchem gleichmüthig unbefangenen Lächeln –

Es war eine Secunde nur, daß die Männer sich anblickten; dann ließ Herr Wolston sich nachlässig in den Armstuhl zurücksinken.

Nein, sagte er, ebenfalls mit dem gleichgiltigsten und gutmüthigsten Lächeln, das seine harten Züge nur jemals gemildert hatte: für so hartherzig ich in diesem edlen christlichen Kreise auch gelte, so könnte ich das doch nicht über mein Gewissen bringen, die kleinen barfüßigen Teufelchen jeden Tag die Stunde Wegs laufen zu lassen bis zu dem alten Jägerhause. Ich gebe mich gefangen, gnädige Frau; der Vorschlag unseres Freundes (und auch dies wieder sagte er mit einer Betonung, die, so unmerklich sie war, doch von Herrn von Lehfeldt sehr wohl verstanden ward) hat meinen Widerstand erschüttert; sprechen Sie mit meinem Baumeister, er wird Ihnen einen geeigneten Platz anweisen, das Kreuz Ihrer Barmherzigkeit aufzupflanzen.

Denken Sie jedoch nicht, meine Gnädige, fuhr er nach einer augenblicklichen Pause fort, daß ich deshalb die Waffen schon völlig strecke. Nein, ich habe ritterlich, wie Sie mich ja wohl kennen, nur für gleichen Wind und gleiche Sonne gesorgt; der Kampf selbst soll jetzt erst recht beginnen. Versuchen Sie denn, wie weit Sie mit Ihren modernen humanen Principien kommen, ich will bei meinen alten vielgescholtenen praktischen bleiben. Almosen oder Arbeit, Warteschule oder Maschinensaal – machen wir die Probe, womit man am weitesten kommt und was die brauchbarste Generation erzieht! An demselben Tage, was gilt die Wette? wo Sie, meine Theure, Ihre Warteschule eröffnen, eröffne ich das neue Fabrikgebäude; Sie werden fromme Lieder singen lassen, werden warme Strümpfe und Brezeln vertheilen, ich werde die Oefen rauchen, die Räder rasseln, die Maschinen arbeiten lassen – wie wäre es, wenn wir beide Festlichkeiten vereinigten auf denselben Tag? Zum Beispiel, setzte er nachlässig, mit einem spöttischen Augenblinzeln gegen Angelica hinzu, auf den Weihnachtsabend. Es ist ja so ein Festtag, ein Festtag, wie man zu sagen pflegt, für Jedermann …

Die Baronin nahm den Vorschlag mit großer Genugthuung an. Sie besaß eben so viel Neigung als Geschicklichkeit für allerhand Arrangements und Dekorationen, und so entwarf ihre geschäftige Phantasie denn auch jetzt sogleich den Plan zu einem doppelten Festzuge, mit dem sie die Eröffnung des neuen Fabrikgebäudes wie der Warteschule verherrlichen wollte: die Arbeiter mit ihren Aufsehern und Werkzeugen auf der einen, die Wartekinder in festlicher Tracht auf der andern Seite, von ihr selbst und dem Prediger geleitet. Es half dem Poeten nichts, daß er, wie gewöhnlich, die große Arbeit seines Romans vorschützte: die Baronin sprach ihre Erwartung, er werde sie bei den betreffenden Einrichtungen mit seinem künstlerischen Geschmack unterstützen, namentlich durch einige Liedertexte, welche dabei öffentlich abgesungen werden sollten, mit so viel Bestimmtheit aus, daß kein Widerspruch möglich war.

Auch Herr Waller mußte sofort in die Hauptstadt schreiben, ein paar junge Seminaristen, von einer durch ihre strenge kirchliche Richtung bekannten Anstalt, zur Uebernahme der Schule einzuladen – nur versuchsweise, wie er Angelica versicherte: da ja auf jeden Fall der gute Leonhard binnen Kurzem in seine Stelle wieder eintreten müsse, wo es alsdann Leonhard's Sache sein werde, das Nähere wegen des Unterrichts und der persönlichen Beaufsichtigung der Kleinen zu ordnen.

Angelica jedoch, wie wir schon vorhin angedeutet haben, war alle Lust und Freude an ihrem eigenen Werk vergangen, seitdem dasselbe in so ganz andere Hände gerathen und dadurch allerdings zu etwas so ganz Anderm geworden war. Nicht nur auf sich selbst war die junge Dame ungehalten, daß sie diese Wendung, in dieser Umgebung und bei diesen Verhältnissen, nicht sogleich vorausgesehen, sondern auch Herrn von Lehfeldt wußte sie nur wenig Dank für die unvermuthete Art und Weise, wie er die Sache zuletzt doch noch bei dem Commerzienrathe durchgesetzt hatte.

Sie haben einmal, sagte sie, das Vorrecht, der Mann des Geheimnisses zu sein; ich weiß es und habe mich darein ergeben, in der Hoffnung, daß Sie, reuiger Sünder, wie Sie sind, sich auch in diesem Punkte allmälig bessern werden, und daß das Geheimniß dieser Verbannung das letzte, in welches Sie sich verstricken. Aber, arge Täuschung! Sogar mit Herrn Wolston, wie ich jetzt merke, stehen Sie in geheimnißvoller Beziehung – ja, Sie thun es, leugnen Sie nicht! Ich darf keinen Anspruch machen auf diplomatischen Scharfsinn; daß jedoch Ihr Vorschlag mit dem alten Jägerhause nicht ernst gemeint sein konnte und daß das Ganze zwischen Ihnen und Herrn Wolston nur eine abgekartete Sache war, ei nun, um das zu merken, dazu ist der Verstand eines Frauenzimmers denn allenfalls auch noch hinreichend.

Herr von Lehfeldt küßte der schönen Strafpredigerin ehrerbietig die Hand.

Nur bevorzugten Naturen, erwiderte er, gleich Ihnen, ist es gegeben, das Gute stets auch nur durch gute Mittel ins Werk zu setzen; wir andern sündhaften Menschenkinder müssen eben sehen, wie wir zurechtkommen. Und wie dürfen Sie auf die Geheimnisse schelten, setzte er in einen leichtern Ton übergehend hinzu, da ja Sie selbst, schöne Freundin, das größte Geheimniß dieses Hauses sind, der eigentliche Mittelpunkt für all diese Fäden und Anschläge, die sich hier im Verborgenen kreuzen? Schütteln Sie das schöne Haupt nicht so verwundert: Dies zum Wenigsten ist kein Geheimniß, ich wiederhole nur, was Jedermann weiß und worüber unser Prediger – meinen Sie nicht? – wohl allenfalls genauern Aufschluß geben könnte – nämlich wenn die Verschwiegenheit dieses würdigen Mannes nicht eben so groß wäre wie seine Frömmigkeit. Denken Sie nicht, daß dies ein Vorwurf sein soll. Herr Waller steht Ihrem Herzen näher, ganz natürlich – wegen Ihres Bruders, meine ich; und so muß ich in Geduld abwarten, bis Sie mich etwa würdig finden werden, auch mich in Ihr Vertrauen zu ziehen. Einstweilen glauben Sie mir, daß Sie keinen treuern und aufmerksamern Diener haben als mich; wenn ich mit Geheimnissen umgehe, so sind auch diese Geheimnisse nur zu Ihrem Dienste. Vertrauen Sie denn nicht mir, aber vertrauen Sie der Zukunft; wo der heitere Stern Ihres Auges scheint, da muß auch das dichteste Gewölk sich endlich doch verziehen und der Himmel eben so klar und rein werden, wie Ihre Seele.


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