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Viertes Kapitel.
Der Traum

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Angelica von kurzem, unruhigem Schlummer endlich erwachte. Die Schreckerscheinungen der Nacht hatten sich fortgesetzt in wunderlich grausenhaften Träumen, dergleichen das junge Mädchen, bei dem gesunden, leichten Blut, das ihr durch die Adern hüpfte, noch niemals gehabt hatte und von denen sie noch jetzt, beim Erwachen, sich aufs Tiefste beängstigt und erschüttert fühlte.

Es war ihr, in leicht erklärlicher Anknüpfung an das kurz zuvor Erlebte, gewesen, als wolle sie in Gesellschaft ihres Bruders hinuntergehen in den Garten. Da sie an das Fabrikgebäude kamen, stand die kleine Pforte zum Maschinensaal offen wie ehemals. Von Furcht und Neugier zugleich getrieben, konnte sie, trotz der Abmahnung ihres Bruders, der sie ängstlich am Kleide hielt, nicht widerstehen, einen Blick in den Saal hineinzuwerfen. Es war Alles still und öde darin, wie in einem Grabe; die sonst so rastlosen Hämmer standen unbeweglich und große Spinnennetze hatten sich zwischen den Speichen der ungeheuren Räder eingenistet. Verwundert wollte sie ihrem Bruder zurufen und ihn beruhigen: aber in demselben Augenblick war ihr Bruder verschwunden, spurlos, wie von der Erde verschlungen …

Entsetzt warf sie ihr Auge umher – als auf einmal ringsum in den bisher so lautlosen Maschinen ein Knarren und Sausen vernehmbar ward, langsam und dann immer rascher und rascher, in gewaltigem Umschwung, setzten die Räder sich in Bewegung, die Walzen glitten sausend übereinander hin, Stampfen und Hämmer dröhnten mit erschütternden Schlägen, das ganze Maschinenwerk auf einmal war lebendig geworden und drängte, wie von Geisterhand gezogen, unentrinnbar, unabwendbar, von allen Seiten auf das entsetzte Mädchen ein. Wohin sie, hilferufend, die Hand erhebt, schnurren ihr, dichter und dichter, scharfgezahnte Räder entgegen; wohin sie den Fuß setzen will, geräth er in das Labyrinth des Maschinenwerks; schon fühlt sie, wie die Räder, hier und dort, ihr nach den Kleidern schnappen, fühlt schon den Druck des schweren eisernen Kolben auf ihrer Stirn …

Nein, das ist nicht der Maschinensaal mehr, das ist ein enger tosender Meeresstrudel, in den sie sich hinabgerissen fühlt mit Sturmwindseile, immer tiefer, immer schneller, ins Bodenlose; von allen Seiten quellen, strömen, stürzen die Wasser herzu, verzweifelnd, in Todesangst greift sie um sich …

Und wieder fühlt sie sich vom Traum auf einen neuen Schauplatz entrückt: eine weite, duftige Ebene, von sanften blauen Hügeln eingefaßt, aus einem nahen Gehölz singt der Fink sein Morgenlied, und Herr Waller sitzt neben ihr in Priesterrock und Käppchen und hat ein großes Bund Schriften, in denen er eifrig blättert, auf dem Schoße liegen. Wie sie jedoch genauer hinsieht, so ist es gar nicht Herr Waller, sondern ein Doppelwesen, das bald wie ihr Vater aussieht, bald wie die Spukgestalt des alten Sandmoll; indem es, im eifrigen Lesen, die Blätter auf seinem Schoße umschlägt, fallen warme, rothe Blutstropfen herunter auf Angelica's Gewand …

Von Entsetzen bewältigt, springt sie auf, will davoneilen, fühlt sich aber gefaßt und zurückgehalten von einer neuen Erscheinung, deren Züge sie irgend schon einmal gesehen hat und die sie sich gleichwohl vergebens abmartert, in ihrem Gedächtniß wieder aufzufinden: ein junger Mann mit milden, freundlichen Geberden und sanften hellblauen Augen, der ihr freundlich zuspricht und ihr von den Blumen pflückt, welche sie rings umblühen. Aber Angelica weigert sich, sie anzunehmen. Denn es ist ihr, als hörte sie von fern die Stimme ihrer Mutter, und sehe einen weißen Schatten, drohend, warnend, zu sich herüberwinken. Der junge Mann bittet, fleht, fällt in die Knie und weint …

Aber, gerechter Gott, das sind ja nicht Thränen, die er weint, das sind ja lauter kleine, grüne glitzernde Schlängelchen, die sich mit Blitzeseile an ihr emporwinden und im Emporwinden immer größer, immer gewaltiger werden, riesengroß –! Und ein langer, schwarzer Schatten zugleich fährt quer über den Himmel hin, sie hört das Gurgeln und Lachen des alten Sandmoll und hört wie das Stangenwerk pfeift und quiekt – und fühlt, wie die Schlangen ihre heißen stechenden Zungen ihr in die Schläfe bohren …

Der ist nun todt, hört sie eine Stimme sagen, die sie an Leonhard den Schulmeister erinnert, und nun kommen die Andern an die Reihe. In offenem Sarge aber, in weißem Todtenhemd, sieht sie ihren Bruder liegen, der vorhin so plötzlich von ihrer Seite verschwunden war: mit zerschmetterter Stirn, die langen glatten Haare wild durcheinander gewirrt und von Blut geröthet.

Und wieder ist es ihr, als ob das nicht ihr Bruder wäre, der im Sarge liegt, sondern sie selbst wäre es, lebend, bewußt, mit wachen Sinnen, aber von unseliger Erstarrung gebunden, unfähig, auch nur den Finger zu rühren, oder den kleinsten Laut von sich zu geben …

Und jetzt legen sie den Sargdeckel auf sie und sie hört die Schrauben langsam ins Holz eingreifen und meint durch den geschlossenen Deckel hindurch eine hohe, stolze Frau zu sehen, mit eingekniffenen, blassen Lippen, die sie noch nirgend gesehen hat und von der sie gleichwohl deutlich fühlt, es müsse ihre Stiefmutter sein. Die Frau hat einen Hammer in der Hand und pocht, mit langsam abgemessenen Schlägen, die Schrauben im Sargdeckel fest; jeder Schlag dringt, durch das dröhnende Holz hindurch, in Angelica's Glieder und zu jedem flüstert die Frau leise, aber doch so, daß Angelika es deutlich vernehmen kann: Da hast du nun doch den Mann, den ich dir zugedacht hatte …

In tödtlicher Angst will sie aufschreien, kann nicht, fühlt, wie der Sarg in die Höhe gehoben wird, fühlt das Schaukeln und Schwanken des Leichenwagens …

Nicht doch, nicht das Schaukeln des Leichenwagens ist das, sondern wieder jener Meeresstrudel, mit dem sie schon einmal gerungen hat und der sie jetzt zum zweiten Mal hinabreißt in die unergründliche Tiefe. Schon fühlt sie, wie auch die letzte Kraft sie verläßt, fühlt, wie das Herz immer leiser, immer langsamer schlägt, und wie es jetzt still steht, ganz still …

Aber in demselben Augenblick auch fühlt sie sich von zwei starken Armen gefaßt, lichtweiße Schwingen rauschen neben ihr, es ist Jemand, der sie emporträgt, der sie rettet, mit jauchzendem Entzücken fühlt sie es …

Nur daß sie das Antlitz noch nicht sehen kann! Wie eine Purpurdecke liegt es zwischen ihnen, es ist ihr, als ob durch den Vorhang hindurch zwei liebe, treue, wohlbekannte Augen sie anblickten, die sie erkennt und nicht sieht, sieht und nicht erkennen kann – Sei nur ruhig, sagt die Stimme hinter dem Vorhang, so sanft, so weich und doch so volltönend und stark, als wäre es Glockenklang: Gott macht ja Alles wohl, und wir haben uns ja geliebt, seit wir uns kannten –

O Retter, mein Retter, stammelt sie, und will den Schleier hinwegdrängen …

Und wacht auf von ihrem eignen Ruf und sitzt nun seit einer Viertelstunde schon, aufrecht, das zierliche Haupt in die weiße Hand gestützt, und sinnt nach über die peinliche Verwirrung dieses Traumes und über das Antlitz des Retters, das sie nicht sehen konnte und das sie dennoch, durch die purpurne Finsterniß hindurch, anblickte mit so lieben, treuen, wohlbekannten Augen …

Ein leises Pochen an die Thür weckte sie aus diesem zweiten wachen Traume. Rasch sprang sie empor, warf ihr Morgengewand über und öffnete die Thür …

Schwester …! Bruder …! Und Küsse und Thränen …! Sie hielt ihren Bruder in den Armen!


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