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Fünftes Kapitel.
Die Geschwister

Wir verzichten darauf, das Entzücken zu schildern, mit welchem das Wiedersehen die beiden Geschwister erfüllte; wenn es möglich wäre, daß die Seele Eines Menschen sich spaltete in sich selbst und die beiden getrennten Hälften, nach langer, einsamer Irrfahrt, flössen endlich wieder zusammen, das Entzücken könnte nicht größer, der Jubel der Wiedervereinigung nicht inniger, nicht seliger sein.

Aber ebenso verzichten wir auch, den Schmerz zu schildern, der, mitten durch diesen Jubel hindurch, Angelica's Herz durchbebte, indem sie das Aeußere des geliebten Bruders betrachtete. Sie war darauf gefaßt gewesen, daß seine Briefe etwas vor ihr verheimlicht, und auch den Worten des Herrn Waller, in der Unterredung gestern Nacht, hatte sie wohl angemerkt, daß Julian's Gesundheitszustand nicht so unbedenklich war, als der Prediger selbst es gern dargestellt hätte. Aber nein, diese Blässe der eingefallnen, hohlen Wangen, dieses unheimliche Leuchten der großen, rastlosen Augen, diese Mattigkeit der Sprache, diesen ganz unaussprechlichen Ausdruck schmerzvoller Müdheit und Hinfälligkeit in der geliebten Erscheinung – dies hatte sie dennoch nicht erwartet! So heruntergebrannt, ihrem Erlöschen so nahe war die Lebenskraft dieses armen Knaben, daß selbst die Freude dieses Augenblicks kaum mehr ein flüchtiges Aufflackern hervorbringen konnte.

Julian entging der Eindruck nicht, den seine Erscheinung bei der Schwester hervorrief, so sehr diese selbst sich auch bemühte, jede Aeußerung desselben zu unterdrücken.

Nicht wahr? sagte er, nach den ersten stürmischen Umarmungen, indem er matt an ihrer Seite niederglitt und mit schmerzlichem Wohlbehagen das unstete Auge ausruhte auf Angelica's blendender, kraftvoller Fülle: Nicht wahr, meine Schwester? du findest mich auch recht verändert?

Denn wie die meisten Kranken dieser Art, liebte es auch Julian, von seinem Zustande zu sprechen. Aber wenn es von den Andern in der Regel nur deshalb geschieht, um ihre Befürchtungen widerlegt zu hören und sich Trost zu suchen aus ihren eignen Klagen, so war Julian dagegen über den endlichen Ausgang seiner Krankheit so klar, so sicher, er hatte, in den jahrelangen Leiden seiner Kindheit, sich mit dem Gedanken des Todes so vertraut gemacht, das Leben selbst hatte so wenig Reiz für ihn, daß er die Fortschritte seiner Krankheit nicht nur mit völliger Ruhe, sondern sogar mit einer gewissen stillen Befriedigung betrachtete und sich niemals gleichmüthiger, niemals inniger gestimmt fühlte, als wenn er sich, mit ganzer, voller Seele, in das Bewußtsein seiner nahen Auflösung vertiefte. Es war ihm ein Uebergang, eine Umwandlung wie jene andern, deren er in der Natur bereits so viele beobachtet hatte; wie viel Blumen, die Angelica ihm frisch und duftig aus den Bergen gebracht, hatte er schon verwelken, wie viel Raupen sich zu todten, leblosen Puppen einspinnen, wie oft schon, von seinem einsamen Fenster aus, die Blätter des Herbstes fallen sehen! Je weniger Julian von der Welt und dem Leben kannte, eine um so größere Bangigkeit empfand er davor. Es deuchte ihn ein beneidenswerthes Schicksal, durch das Leben hingleiten zu dürfen, leise, spurlos, wie ein leichtes Morgenwölkchen, das mit dem ersten Sonnenstrahl, der es berührt, in nichts zerflattert; hinüberzuträumen aus der Stille seiner Kinderstube in die noch tiefere, noch ungestörtere Stille des Grabes und da nun für ewig zu liegen in friedlichem Schlummer, in diesem kühlen Schoß der Erde, wo die geliebten Blumen hervorblühen und die kleinen flinken Käferchen nisten, mit deren staunender Betrachtung er sich so manche schmerzliche Stunde hinweggetäuscht – es war ihm ein Gedanke, süßer als Alles, was sein junger Kopf zu fassen vermochte! Nur Reinhold und Leonhard, vor Allem aber die geliebte Schwester verlassen zu müssen, dies nur that ihm weh. Und doch, war er von Reinhold und Leonhard nicht längst geschieden? nicht schon längst wie gestorben für sie? Ja schlimmer sogar: denn vielleicht, wenn er im Grabe lag, durfte sein Schatten doch die geliebten Freunde umgaukeln und ihnen Trost und Frieden zuführen. Was aber Angelica betraf, so wußte er sich so fest gegründet in ihrem Herzen, daß auch kein Tod und kein Grab ihn je daraus entfernen konnten.

Mit diesem ruhigen, ja innerlichst freudigen Tone war es denn also auch jetzt, daß er sie fragte: Nicht wahr? du findest mich recht verändert, liebe Schwester?

Angelica fühlte, wie ihr das Wasser in die Augen schoß und Angst und Schmerz ihr die Kehle zuzuschnüren drohten. Aber ihren Jammer muthig zurückkämpfend:

Freilich, mein Julian, sagte sie, finde ich dich verändert. Was du seit unsrer Trennung gewachsen bist! Du mußt ja größer sein jetzt, als deine kleine Schwester! Und wie stark, wie wohl du aussiehst! wie deine Augen glänzen! Warte nur! rief sie und zog seinen Kopf mit Ungestüm an ihren Busen, damit er die Thränen nicht sehen sollte, die ihr unaufhaltsam über die Wange perlten: jetzt bin ich wieder bei dir, mein Julian, jetzt wollen wir wieder durch Wald und Garten streifen, und wollen uns Blumen suchen oder wollen am Röhrbrunnen sitzen in der Mittagschwüle, unter den alten Heiligen, weißt du noch? und wollen uns Märchen erzählen, wie ehedem …

Julian hatte sich leise aus der Umarmung losgemacht, er sah sie lange ruhig, lächelnd an und küßte ihr die Thränen vom Gesicht –

Gute Schwester, sagte er mit leisem Kopfschütteln …

Aber ein so schmerzlich bittender Ausdruck lag in dem Antlitz des armen geängstigten Mädchens, daß er den Rest des Satzes nicht auszusprechen wagte, sondern mit der Hand über die Stirn streichend, und die andere herzhaft in Angelica's weiches Händchen einschlagend:

Gut, sagte er, wir wollen es, liebe Schwester – nämlich, wenn ich es kann.

Angelica, die sich von der Wendung, welche das Gespräch genommen, unsäglich beunruhigt fühlte, wünschte demselben eine andere Richtung zu geben.

Aber ist es auch recht, rief sie, daß du mir so zuvorgekommen bist? Ich wollte dich überraschen, und nun bist du es, der mich überrascht hat! Schilt mich nur aus, lieber Bruder, ich bin eine schöne Langschläferin geworden in der garstigen Stadt. Aber woher weißt du auch schon, daß ich hier bin? Ich glaubte nicht, daß Herr Waller dich so bald von meiner Ankunft in Kenntniß setzen würde – nämlich weil … ich meine …

Den wahren Grund natürlich konnte Angelika ihrem Bruder nicht sagen, und die Lüge kam ihr so schwer an, selbst unter Umständen wie diese, daß sie vor Verlegenheit verstummte.

Doch hatte Julian den letzten Theil ihrer Rede gar nicht mehr gehört; seine großen Augen funkelten noch unheimlicher als sonst:

Nun, fiel er ihr in die Rede, mit einem Ausdruck von Altverständigkeit und Sicherheit, der, zusammengestellt mit dem Inhalt seiner Worte, etwas Erschütterndes hatte: das versteht sich ja ganz von selbst, du selber hast es mir ja gesagt, du kommst ja alle Nacht vor mein Bett, du und Reinhold und Leonhard auch. Herr Waller, setzte er mit geringschätzigem Lächeln hinzu, denkt immer, ich schlafe, und sagt, es wäre blos im Traum, daß ich euch sehe. Aber ich weiß recht gut, daß ich wach bin und daß das keine Träume sind; sondern siehst du, Angelica, das ist so, wie es nach dem Tode sein wird …

Der Knabe verstummte, mit weitgeöffneten Augen vor sich hinstarrend. Doch hatte seine Erstarrung nichts Aengstliches, nichts Schreckhaftes, vielmehr es war wie eine tiefe Befriedigung, in welche sein Geist sich versenkte …

Banger Schauder durchrieselte Angelica's Glieder; sie wußte nicht, was antworten, und wollte den Bruder doch auch nicht in dieser Erstarrung lassen. –

Und waren wir denn auch heute Nacht wieder da? fragte Angelica mechanisch.

Ja wohl, erwiederte Julian mit völlig ernsthaftem Tone, indem er noch immer mit geisterhaften Blicken vor sich hinsah: in der dritten Stunde. Ich hörte, wie Herr Waller im Nebenzimmer eben ins Bette stieg; du hattest lange vor der Thür gestanden – ich sah dich recht gut, durch die Thür hindurch – mit ausgebreiteten Armen und hattest gewartet, bis Herr Waller zur Ruhe wäre und Niemand uns stören würde. Endlich ging die Thüre auf, und du kamst herein, ganz friedlich, und sagtest mir, daß du hier wärest und daß du bei mir bleiben wolltest alle Zeit, die ich noch am Leben wäre. Ich wußte es auch schon längst vorher, daß du kommen würdest, und mußte ordentlich lachen, wie du dahergeschritten kamst, gerade wie jetzt, im weißen Morgenkleid – wenn nun doch, dachte ich, Herr Waller dazu käme, da könnte er sich ja gleich überzeugen, ob das blos Träume sind oder Wirklichkeit. Aber ich werde mich wohl hüten und Herrn Waller rufen, setzte er mit schadenfrohem Gekicher hinzu …

Angelica sprang empor: trotz des hellen Tages, der durch die Fenster strahlte, und trotz der so lang ersehnten Nähe des geliebten Bruders, fühlte sie sich gleichwohl von nächtlichem Grausen gepackt. Es dauerte einige Minuten, bevor sie ihrer Aufregung Herr werden konnte.

Und doch wirst du geschlummert haben, sagte sie endlich mit so viel Festigkeit, ja Strenge, als ihr möglich war: und der gute Herr Waller, um dir die Freude desto eher zu machen, wird an dein Bett getreten sein, und hat dir, während du halb schliefst, halb wachtest, die Neuigkeit meiner Ankunft erzählt.

Julian lachte bitter, so bitter – es schnitt Angelica'n ins Herz.

Herr Waller, erwiederte er nach einer Pause, ist auch wol der Mann dazu, mir eine Freude zu machen, er, der die letzte Freude abgestreift hat aus meinem armen, öden Leben und hat meinen Leonhard von mir hinweggetrieben ins Elend! O, Schwester (und ganz dicht rückte er dabei an sie heran und flüsterte ihr mit ganz heimlicher Stimme ins Ohr) … O, Schwester, glaub mir, was ich sage: der Herr Waller ist ein böser Mann! Thu nie etwas, wozu Herr Waller dir räth, er meint es nicht gut, ich kenne ihn!

Verzeih, theurer Bruder, erwiederte Angelika, wenn ich einige Zweifel in deine Worte setze. Wie schmerzlich du unter Leonhard's Entfernung leidest, habe ich gewußt, bevor du es mir sagtest und auch ohne daß deine Briefe es mir verriethen. Daß du unter diesen Umständen eine Abneigung gegen Herrn Waller hast, ist natürlich, wennschon es mich überrascht, dieselbe so heftig zu finden, zumal da Herr Waller selbst mich versichert hat, daß ihr im Gegentheil Freunde wäret …

Also hat er dich schon gesprochen? rief Julian: nimm dich in Acht, Schwester, er ist eine Schlange, daß er dich nicht auch umstrickt!

Du thust ihm wahrhaftig Unrecht, versetzte Angelica: ich habe allerdings bereits eine Unterredung mit ihm gehabt, eine sehr ernste und sehr ausführliche, in welcher er die freundschaftlichsten, ja zärtlichsten Gesinnungen gegen dich kund gab. Er denkt, zu meiner großen Freude, in den Hauptsachen überein mit mir: er selbst wird dafür Sorge tragen, daß Leonhard dir wiedergegeben wird; ja, er wird mir sogar auch beistehen, hoffe ich, den Zorn des Vaters gegen den Meister zu besänftigen und dir deinen Reinhold wieder zuzuführen …

Mit spöttischem Unglauben schüttelte Julian das Haupt.

Der glatte Lügner, sagte er, daran erkenne ich ihn! Ich bin ein einfältiger Knabe, Schwester, und der dümmste Junge aus dem Dorf ist, was Welt und Menschen anbetrifft, zehnmal klüger als ich. Aber was Wahrheit ist, glaub mir, das weiß ich doch: und in diesem Manne, sag' ich dir, mit all seiner Gelehrsamkeit und all seiner feinen Bildung, seiner Beredtsamkeit und seinem Ruhm, ist dennoch von Wahrheit keine Spur. Wie ich ihn sogleich wieder ertappe, rief er, indem helle Zornesröthe seine bleichen Wangen übergoß: er hat dich, sagst du, bereits gesprochen? er hat gewußt, daß du hier wärest – und als ich ihm heute Morgen auf den Kopf zusagte, du wärest hier (nämlich du selber hattest mir es ja gesagt), da lacht' er mich aus und schalt mich einen Träumer, bis ich wider seinen Willen heimlich aus dem Zimmer schlüpfte?! – Nun bin ich hier, theure Schwester, nun kein Wort mehr zwischen uns von jenem Armseligen, der nicht werth ist, daß wir die kostbaren Augenblicke an ihn verschwenden! Ach, er wird sie uns überdies nicht lange gönnen, weder er, noch mein Vater …

In der That erschien auch gleich darauf ein Diener, welcher Julian in Herrn Waller's Namen ersuchte, in sein Zimmer zurückzukommen, da es Zeit sei, Herrn Waller zum Gottesdienst zu begleiten. Denn so krank Julian auch war und so wenig er sonst sein Zimmer verließ, so war doch dies eine Pflicht, von der er, seit seine Stiefmutter im Hause war, selten oder nie entbunden ward, auch nicht durch Herrn Wolston selbst. Und zwar dies Letztere einfach aus dem Grunde, weil Herr Wolston sich um das, was er Julian's Privatleben nannte (als ob das arme Kind noch ein anderes gehabt hätte!), die Eintheilung seiner Zeit also, seiner Arbeiten, Beschäftigungen, Vergnügungen, überhaupt nicht bekümmerte. Eine derartige, auf das Kleine, Einzelne gerichtete Sorgfalt lag einmal nicht in dem Charakter des kalten, weitblickenden Mannes; selbst dem übrigens so geliebten Sohne gegenüber, würde er sie, als unmännliche Sentimentalität, in die Weiberstube verwiesen haben. –

Gleichzeitig erschien ein zweiter Diener mit der Meldung an das gnädige Fräulein, daß der Commerzienrath bereit sei, sie zu empfangen.

Angelica, bestürmt von einem Meer von Zweifeln, aus dem nur Eine Nothwendigkeit sich klar und sicher herausstellte, diese nämlich, daß Julian aus seinen gegenwärtigen Verhältnissen herausgenommen werden müßte, nahm Abschied von ihrem Bruder, und bereitete sich zu dem peinlichen Gange, welcher ihr bevorstand.


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