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Vierzehntes Kapitel.
Enthüllungen

In diesem Augenblick kam der junge Meisterssohn nach Hause, so emsig auf dem Heimweg hatte er über seine mathematischen Probleme, nachgedacht und so deutlich standen gewisse schwierige Lösungen, die er gestern noch vergeblich gesucht, vor seinem Geiste, daß er kaum die Zeit erwarten konnte, wieder über seinen geliebten Büchern zu sitzen.

Und siehe da, dies Alles jetzt, da er eintrat, war Staub und Asche …

Großvater! war das Einzige, was der entsetzte Jüngling hervorbringen konnte, da er die grauenvolle Zerstörung erblickte.

Nun? nun? fragte der Großvater, einigermaßen betreten, da er Reinhold's Bestürzung sah, aber doch noch immer mit einem gewissen innern Behagen über den allerliebsten Streich, den er verübt: bist du böse, mein Junge? Nicht böse sein auf den alten Großvater! Du hättest nur früher kommen sollen, mein Junge, ach, das war ein Feuerchen! Siehst du, wie so die schwarzen Dinger, die Räderchen, sich anfingen zu drehen von der Hitze – o, ich bin nicht so dumm, wie sie denken, ich verstehe mich recht gut auf solche Räderchen, ja, recht gut, ich will es den Andern blos nicht sagen – und wie das schöne weiße Papier so knisterte, und zuerst wurde es ganz gelb, und dann wurde es braun, und dann hernach stoben die Funken und der schöne blaue Feuerdrache streckte seine blanke, leuchtende Zunge hindurch – nein, das war prächtig, zu prächtig, mein Junge …!

Reinhold rang die Hände: nur zu gründlich hatte der Alte aufgeräumt, nicht ein Blättchen, nicht ein Spänchen war liegen geblieben, die ganze Frucht seiner mühsamsten Stunden vernichtet, die ganze Hoffnung seiner Zukunft zerstört in einem Augenblick!

Freilich war der Schade nicht unersetzlich. Diese Dinge lebten in Reinhold's Kopf und was er einmal gerechnet, einmal gezeichnet und geschnitzt hatte, das konnte auch wieder von ihm geschnitzt, gezeichnet und gerechnet werden. Aber woher die Zeit nehmen? und woher vor Allem den Muth? Den Muth – ach, vor wenig Augenblicken noch, ermuntert durch Anna's Zuspruch und an die Unterredung mit dem Engelchen gedenkend, hatte er dessen so viel gehabt, hatte wieder einmal so kühn, so hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt: mußte jetzt diese Zerstörung seiner Lieblingspläne, ausgeführt in thörichtem Spiel, durch die Hand dieses blöden, kindischen Greises, mußte sie ihm jetzt nicht als ein Orakel, ein Fingerzeig des Schicksals erscheinen, daß er sich mit diesen Dingen überhaupt nicht mehr befassen solle? daß er sich geduldig fügen solle in das Elend seines Hauses und an nichts mehr denken, nichts mehr arbeiten, nichts mehr thun, was ihm Errettung aus diesem Elend versprach? Es war ein Gottesgericht, ohne Zweifel, und die Vorsehung selbst hatte den Blödsinn des Alten benutzt, ihm eine Lehre zu geben. Wie hatte er doch gesagt heut früh zum Engelchen? Es wäre ein Leichenhaus hier, hatte er gesagt, und sie alle wären bereits Gestorbene – gut: so war dies denn der Scheiterhaufen.

Mit mühsam errungener Fassung, und indem er immer nur mit halber Stimme das schmerzlich klagende: Großvater! Großvater!! wiederholte, führte er den Alten, der sich über den sichtbaren Schmerz des Enkels jetzt auch seinerseits zu betrüben anfing und allmälig in lautes Weinen ausbrach, in die Wohnstube zurück. Lene lag noch immer in unruhigem Halbschlummer, der Alte kroch wimmernd in sein gewohntes Winkelchen; kein Wort mehr ward zwischen ihnen gesprochen.

Nach einiger Zeit kehrte Anna heim; der Bruder hatte das Herz nicht, sie von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Auch ging sie, ermüdet von ihrer Wanderung und verstimmt über die Abwesenheit ihres Mannes, bald in ihre Wohnung hinüber.

Erst als in der späten Mitternachtsstunde der Meister selbst nach Hause kam, und Niemand mehr im Hause wachte, als nur Sohn und Vater, schüttete Reinhold seinen Kummer vor diesem Letztern aus. Denn zu dringend hatte der Vater nach der Ursache seiner Betrübniß gefragt und Reinhold selbst hatte zu viel Ehrfurcht vor ihm, als daß er ihn hätte durch eine Lüge täuschen mögen.

Der Eindruck, welchen Reinhold's Erzählung auf den Vater hervorbrachte, war gewaltig, weit gewaltiger, als Reinhold selbst, bei der ihm nur zu wohl bekannten Abneigung des Meisters gegen jene Richtung seiner Studien, vorausgesetzt hatte: so daß er fast wieder bedauerte, ihm überhaupt nur von dem Vorgang erzählt und die Last des Kummers, welche den Meister überdies schon niederdrückte, dadurch noch vergrößert zu haben. Lange Zeit saß der Vater sprachlos, das Kinn auf seinen Weißdornstab gestützt, ihm gegenüber; die Dunkelheit ringsum, die nur sparsam von dem inzwischen emporgestiegenen Mond erhellt ward, und die unregelmäßigen, stöhnenden Athemzüge der beiden Schlummernden neben ihnen machten dies Schweigen nur noch drückender.

Endlich erhob sich der Meister, legte beide Hände sanft auf die Stirn des Sohnes – er war sonst, bei aller Zärtlichkeit, doch mit Liebkosungen dieser Art gegen seine Kinder äußerst sparsam – und sagte:

Ja wohl, mein armer, armer Sohn, ist das ein Fingerzeig des Schicksals! Es ist die Rache des Himmels, vollzogen durch denselben Mann und dieselbe Hand …

Hier verstummte er, trat von Reinhold zurück und ging langsam einige Schritte durch die Dunkelheit auf und ab; es war sichtbar, daß er mit irgend einem bedeutenden und folgenschweren Entschlusse kämpfte.

Endlich wieder stand er still.

Reinhold, sagte er mit feierlicher Stimme, Reinhold, mein – Sohn, mein Kind, ja wohl mein Kind, das Kind meines Kummers und meiner Schmerzen! Seit Langem kämpfe ich, dir ein Geheimniß mitzutheilen, das ich dir in vielem Betrachte schuldig bin, und mit dem ich doch nur ungern deine reine, schuldlose Jugend vergiften möchte. Ich kann dir kein Erbtheil nachlassen, und so möchte ich dir auch nicht gern diesen Argwohn, diesen Haß, diese Hölle von Zweifeln zurücklassen, die mich quält. Aber es ist des Himmels Wille so, ich sehe es wohl: diese Stunde des Schmerzes hat dich mündig gemacht, mein Sohn, jetzt oder nie sollst du mein Geheimniß wissen …

Trotz der Dunkelheit, die zwischen ihnen herrschte, war es Reinhold doch, als könnte er sehen, wie das Antlitz des Vaters während dieser Worte immer bleicher, immer ernster ward; er konnte das Arbeiten seiner Brust hören und hörte, wie er, bald zögernd, bald stockend, vergeblich nach Athem rang.

Eine unendliche Bangigkeit ergriff die gegen alle äußere Gefahren sonst so tapfere Seele des jungen Mannes. Wie oft hatte auch ihn der Wunsch beschlichen, die Geheimnisse seines Vaters zu kennen? Nicht aus Neugier, wahrhaftig nicht, sondern nur ihm die Last derselben zu erleichtern …

Und jetzt dennoch, da er an der Schwelle dieser Geheimnisse stand, da schon auf der Lippe des Vaters das Wort schwebte, das so viel langjährige, bange Räthsel enthüllen sollte, wie gern wäre er dem Vater ins Wort gefallen! wie gern hätte er ihn gebeten, ihn mit einer Mitwissenschaft zu verschonen, vor der es ihn jetzt auf einmal schauderte!

Der Meister indessen war vor die beiden Schlummernden getreten und hatte sich überzeugt, daß sie wirklich schliefen; auch an die Thür hatte er gefaßt und den Riegel noch einmal angezogen.

Jetzt, mit derselben langsamen Feierlichkeit, trat er wiederum auf Reinhold zu, zog ihn in die Höhe:

Komm, sagte er, mein Sohn, in die Kammer, wo wir allein sind und Niemand uns belauschen kann; die Stunde ist da, ich fühle es, das Schicksal vollendet sich – und wir Menschen sind ja doch nur die Sklaven, vielleicht nur die Narren des Schicksals …

Er führte den Sohn in die Kammer, in der ihre Bettstatt aufgeschlagen stand. Sie war von allen Seiten umschlossen, ohne Ausgang ins Freie. Nur zu oberst an der Decke befand sich ein Fenster, das auf die Rückseite des Gebäudes führte, in den kleinen, mit Gerüll aller Art dicht besetzten Hof; dasselbe stand, wie des Sommers immer, offen und ließ die kühle, erquickliche Nachtluft frei in die dumpfige Kammer strömen.

Der Meister setzte sich auf die Schütte von Stroh und trocknem Laub, die ihnen gewöhnlich zum Lager diente; Reinhold, erwartungsvoll, bebend, zu seinen Füßen.

Noch immer schwieg der Meister; es kostete ihn offenbar einen unermeßlichen Kampf, einen Schleier hinwegzunehmen, den er so lange, so sorgsam gehütet. Ja schon begann Reinhold wieder leichter zu athmen: denn er glaubte, der Vater sei von seinem Vorsatz zurückgekommen, als der Meister endlich folgendergestalt anhub:

So wenig du auch sonst über deine Herkunft und die Geschichte deiner Familie weißt, mein Reinhold, so wird dir doch dies nicht unbekannt sein, daß unsere Familie, seit Menschenaltern, so weit das Gedächtniß derselben reicht, immer dasselbe Gewerbe getrieben hat, das Gewerbe, dem ich den Beinamen des Meisters verdanke und das erst uns jetzt, den unglücklichen Verspäteten, die Nahrung verweigert. Auch daß wir nicht in diesem Dorfe zu Hause sind, sondern ursprünglich einige Stunden weiter hinauf im Gebirge lebten, wirst du wissen. Mein Vater, der unglückliche Greis, den du als deinen Großvater liebst und ehrst, verdient den Beinamen des Meisters in noch viel höherem Grade, als ich selbst. Er besaß nicht nur im reichsten Maße alle jene Fertigkeiten, die ich ihm nur unvollständig abgelernt: sondern er war auch, gleich dir, mein Reinhold, eingeweiht in jene höheren Geheimnisse der Wissenschaft und der Kunst, vor denen es mir von jeher gegraust hat, ja die ich hasse mit einem Haß, den du erst von dieser Stunde an recht verstehen wirst. Das Geschäft des Webens ging damals noch besser als heutzutage. Auch war ich, ohne mich zu rühmen, in Allem, was sich mit der Hand leisten läßt, ein flinker und unverdrossener Arbeiter: so daß der Vater, ohne seine nächste Pflicht gerade allzusehr zu vernachlässigen, sich fast ausschließlich seinen Projecten und Plänen widmen konnte, denselben, denen auch du, mein Reinhold, zu meinem Schmerz so oft schon die Ruhe deiner Nächte, das Nachdenken deiner Tage geopfert hast.

Gleich dir, sann auch der Vater nach über gewisse große künstliche Maschinen, welche die Handarbeit unsers Gewerbes immer mehr ersetzen und den Gewinn desselben ins Tausendfache steigern sollten. Die Maschine, die ihn beschäftigte und deren Herstellung, wie er uns von Jahr zu Jahr versicherte, ihm ganz gewiß nun mit Nächstem glücken würde, sollte alles bisher Bekannte überbieten und ganz neue, bis dahin unerhörte Vortheile gewähren.

Allein der Dämon, den Gott in dieses todte und doch so lebendige Räderwerk gebannt hat, und dem du, mein Sohn, wie ich hoffe, durch den heutigen Vorfall auf ewig entrissen bist, gewann auch über meinen armen Vater mit jedem Tage immer größere Macht; immer mehr ließ er sein eigentliches Gewerbe liegen, immer schwerer ward es mir, der ich ihm seit einigen Jahren die Schwiegertochter ins Haus geführt und schon für ein Kind, unsere Margareth, zu sorgen hatte, auch nur das Nothdürftigste unsers Unterhaltes zu erwerben. Dazu kamen die schweren Kriegszeiten damals, wo Verkehr und Handel fast stille standen; selbst für Erfindungen, wie diejenigen, über denen mein Vater grübelte, hätte dazumal kaum irgend Jemand noch Sinn und Muth gehabt. War es nun die rastlose Anstrengung dieses Grübelns, war es dies ununterbrochene Rechnen, Denken, Brüten, bei Tag, bei Nacht, oder war es auch die beängstigende Voraussicht, daß er, selbst wenn die Erfindung ihm geglückt wäre, doch bei damaligen Zeitläuften Niemand finden würde, der die nöthigen Capitalien zur Ausführung geben würde – genug: die Stimmung unseres armen Vaters wurde immer düsterer, immer trüber. Ja wenn ich mir jetzt alle Umstände von damals vergegenwärtige, so kann ich mich kaum des Zweifels erwehren, ob er nicht damals schon mit den Anfällen jener unglücklichen Krankheit gekämpft haben sollte, die seinen Geist kurz darauf völlig zerstörte. Bei lichtem Tage war er wie ein Nachtwandler, Niemand von uns sah er noch an, kaum daß er sich das Nothdürftigste gönnte an Trank und Speise und Schlaf; unausgesetzt, ohne Rast, mit einer Beharrlichkeit und doch einer Unruhe, in der ich jetzt, wie gesagt, die Spuren des beginnenden Wahnsinns erkennen muß, brütete er ewig und ewig nur über seiner Maschine. Schon sahen Noth und Elend zu allen Ecken in unser Haus hinein, schon wollten wir Anderen, die wir von den Plänen unsers Vaters theils nichts verstanden, theils nichts erfuhren (denn mit unglaublicher Eifersucht bewachte er sie, selbst auch vor mir, dem eignen Sohn), und die wir mithin seine Hoffnungen so wenig als seine Befürchtungen zu würdigen wußten – schon, sage ich, wollten wir Andern im Stillen oft verzweifeln, wenn wir den sonst so muntern, so thätigen Mann jetzt so ganz in Trübsinn und scheinbare Unthätigkeit versinken sahen …

Horch, unterbrach an dieser Stelle der Meister seine Erzählung, rührte sich da nichts?

Reinhold sah hinaus in das Zimmer. Aber der Großvater sowohl, wie die Tante lagen in festem Schlaf.

Es wird der Nachtwind gewesen sein, sagte Reinhold, indem er wieder neben dem Vater Platz nahm, der das Fenster hin und her bewegt.


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