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Fünftes Kapitel.
Die barmherzige Schwester

Es ist das eigentlich Herzerhebende an solchen Charakteren wie derjenige, welcher den Mittelpunkt dieser Erzählung bildet, daß Noth und Mißgeschick ihre Heiterkeit wohl vorübergehend trüben, den festen, klaren Grund ihres Wesens aber dennoch nicht erschüttern, geschweige denn zerstören kann. Die angeborene Schwungkraft dieser unverwüstlich freudigen Gemüther schnellt immer und immer wieder in die Höhe; selbst innerlich beängstigt, haben sie gleichwohl kein dringenderes Bedürfniß, als wenigstens nach außen hin noch Trost und Freude zu verbreiten.

Wir erinnern uns des edlen Vorsatzes, der in Angelica während ihrer ersten Unterredung mit Reinhold so rasch und plötzlich aufgestiegen war; sie wollte, wie es früher erzählt ist, ihren Aufenthalt im Dorfe benutzen, gewisse Einrichtungen und Veranstaltungen zu treffen, durch welche nicht blos der äußerlichen Noth, sondern ganz besonders auch dem sittlichen Elend dieser Bevölkerung entgegengearbeitet würde.

Ihr nächster Zweck war dabei gewesen, auf eine würdige und unmerkliche Weise die Hand zu bieten zur Linderung jenes Elends, dessen Anblick sie im Hause des Meisters so schmerzlich überrascht hatte. In naher und natürlicher Anknüpfung an das traurige Ereigniß, welches sie beim Eintritt in ihre Heimath empfangen, hatte sie sich der armen aufsichtlosen Kinder der Fabrikarbeiter annehmen wollen; es sollte, wenn auch fürs erste nur in kleinstem Umfang und mit den bescheidensten Mitteln, ein Wartehaus für die verlassenen Kleinen gestiftet werden, bei welchem Reinhold und Leonhard, in Gemeinschaft mit ihren Schwestern, die Aufsicht führen sollten.

Auf diesen Plan jetzt kam Angelica zurück. Oder besser gesagt: sie hatte ihn, mitten in ihrem eigenen Drangsal, keinen Augenblick aus dem Gesicht verloren. War sie doch selbst solch eine arme Waise, schutzlos hinausgeworfen, preisgegeben von der stiefmütterlichen Laune des Schicksals, vielleicht, wie bald! zertreten unter seinem Hufschlag; es war ihr eine süße Befriedigung, sich, solange sie selbst es noch vermochte, jener unglücklichen Wesen anzunehmen, in denen sie, wenn auch in anderer Form, die Genossen ihres eigenen Schicksals zu sehen meinte, und für die Milderung ihres Looses zu sorgen, zu derselben Zeit und an derselben Stelle, wo das Loos für sie selbst allem Vermuthen nach so unglücklich fiel.

Es wird unsern Lesern wunderbar, vielleicht unglaublich erscheinen, woher dem jungen Mädchen nur der Muth kam, einen so kühnen, den Umständen nach so höchst schwierigen, ja fast schlechthin unmöglichen Plan bei sich zu nähren.

Und wirklich war es auch ein Wunder anzusehen, welche Gewalt der Liebreiz des holden Kindes auch in dieser Angelegenheit über Jeden übte, Jung wie Alt, Vornehm wie Gering, mit dem sie in Berührung kam, und wie keine Roheit so wild, kein Trotz so hartnäckig, keine Schlechtigkeit so verstockt war – vor dem Anblick des Engelchen und seinem heitern, milden, verständigen Zuspruch mußten Roheit, Trotz und Schlechtigkeit sich überwunden geben.

Vielleicht, bei der Schilderung, die wir oben von der Erziehung des Engelchen im Hause des Professors entworfen haben, sind einige unserer Leser auf den Verdacht gerathen, als sollten sie es hier zu thun bekommen mit einem jener philosophischen Frauenzimmer, einer jener demonstrirenden, theoretisirenden, politisirenden Schönheiten, wie unsere neueste Cultur deren leider so viele erzeugt und wie sie nur allzu oft in unsern Tagen den heimlichen Ueberdruß der Gesellschaft und bald auch die offene, stadtkundige Plage der armen Kreuzträger, ihrer Männer, bilden.

Aber dies wäre ein Irrthum, den wir zu berichtigen eilen. Nicht der unglückliche Drang, den social-politischen Blaustrumpf zu spielen, noch weniger gar das coquette Gelüste, sich zur künftigen Parlamentsfrau heranzubilden, hatte Angelica dieser Art von Interessen zugeführt; dergleichen Gelüste lagen dieser reinen, unverbildeten, echt weiblichen Seele überhaupt unaussprechlich fern. Vielmehr was sie dazu geführt hatte, war zunächst und ganz einfach der Vorgang und die Anweisung ihres Lehrers, des Professors, gewesen.

Wir haben schon früher einige Andeutungen gegeben über die freisinnige, im besten Sinn humane Richtung, welche der Professor verfolgte. In genauem Zusammenhange mit dieser Richtung stand es auch, daß er alle Werke der öffentlichen Wohlthätigkeit, alle Fürsorge und Pflege der Armen vornämlich, wenn nicht ausschließlich in die Hände der Frauen gelegt und diese selbst hierzu, als zu einem wesentlichen Theil ihres Berufes, ausdrücklich erzogen und vorbereitet wissen wollte. Alles Elend der Zeit, pflegte der Professor zu behaupten, komme von dem Müssiggang, zu welchem die Mehrzahl unserer Frauen, wenigstens in den sogenannten gebildeten Ständen, erzogen werde und der in vielen Fällen zugleich ein Müssiggang des Herzens und der Seele sei. Die Frauen seien die wahren, natürlichen Hüterinnen alles Edeln und Göttlichen im Leben; auch die politische Gemeinschaft (und nur dieser, nicht der kirchlichen, wollte der Professor Recht und Pflicht der Armenpflege zugestehen) müsse sie als solche anerkennen, und zwar hauptsächlich dadurch, daß sie die Frauen mit der Pflege der Armen, der Wartung der Kranken, der Erziehung der hülfsbedürftigen Jugend, kurzum mit allen jenen Werken der Barmherzigkeit und Bruderliebe, welche der Gemeinde obliegen, gleich wie mit einem bürgerlichen Ehrenamte, förmlich und feierlich betraue. Nur auf diese Weise erhalte der enge häusliche Kreis, in dessen ausschließlicher Begrenzung das moderne Weib sich nun einmal auf die Dauer nicht mehr wohl fühlen könne, noch wohl fühlen dürfe, seine wahrhafte und allein würdige Erweiterung; ja, es werde auf diese Art auch denen noch ein Haus gegründet und eine Familie gebildet, die etwa selbst so unglücklich wären, kein Haus und keine Familie zu haben. – Mit beredten Worten führte er aus, welchen höhern Werth der Zauber weiblicher Anmuth den Werken der Wohlthätigkeit selbst verleihe, und wie viel glücklichere Erfolge daraus hervorgehen müßten, nicht nur für Diejenigen, welche die Wohlthaten unmittelbar empfingen, sondern auch für das ganze Gemeindeleben, den Staat, die Gesellschaft, die Menschheit selbst. – Der Professor gab zu, daß es noch lange dauern werde, bis der Staat diesen Beruf der Frauen begreife und benutze. Allein weil das Gute niemals zeitig genug geschehen könne, so erzog er die ihm anvertrauten jungen Mädchen einstweilen so, als ob die Zeit, auf welche er hoffte, wirklich bereits gekommen wäre, und als ob der Staat die Frauen in der That schon als seine geborenen Almoseniere anerkannt hätte. –

Die Richtigkeit dieser Grundsätze zu prüfen oder gar die weltgeschichtlichen Folgen zu erörtern, die sich nach der Ansicht des Professors daraus ergeben mußten, ist hier natürlich kein Raum. Genug, daß Angelica, einmal in diese Richtung gebracht, dieselbe mit all dem Eifer ergriff, und daran festhielt mit all der Ausdauer, all der Gewissenhaftigkeit, all der Lust am Thun und Handeln, Schaffen und Wirken, welche ihr angeboren war. Sie war überhaupt eine praktische, keine theoretische Natur; wenn sie sich hin und wieder, namentlich in ihren Unterhaltungen mit Herrn von Lehfeldt, in ein Wortgefecht einließ über politische oder gesellschaftliche Fragen, so sollte das nach ihrer eigenen Absicht eben nur ein Wortgefecht, eine anmuthige Unterhaltung, ein Spiel sein, mit einem Wort, wie das gesellige Leben deren mit sich bringt und erfodert. – Weshalb es denn auch so leicht war, sie in dergleichen Gesprächen zu überholen und in Verwirrung zu setzen. In größern Kreisen vermied sie es sogar standhaft, sich in Unterhaltungen dieser Art überhaupt nur einzulassen; es sei das nicht schicklich, meinte sie, für Frauen.

Dagegen, wo es darauf ankam, diese Grundsätze der Humanität, der Wohlthätigkeit und Menschenliebe, die sie von ihrem Lehrer empfangen hatte, und auf deren theoretische Begründung sie um so lieber verzichtete, je mehr die Autorität des verehrten Lehrers ihr selbst genügte, nun auch praktisch durchzuführen, wo es darauf ankam, durch Fleiß, Thätigkeit und bescheidene Unterordnung gleichsam die Probe zu machen auf jene socialen Principien, welche ihr Lehrer so eifrig verfocht: da konnte Niemand bereiter, Niemand unermüdlicher sein als Angelica; da konnte Niemand besser jene kleinen Künste der Weiblichkeit, jenes Schmeicheln, Drohen, Nachgeben, Ermuntern in Ausübung bringen, als es alsdann, zur Erreichung so edler Zwecke, von ihr geschah; da endlich war keine Verhandlung so mislich, keine Besorgung so mühsam, kein Dienst so unscheinbar, sie unterzog sich allen mit Verstand und Anmuth, und brachte eben dadurch alle glücklich zu Ende. – Sie müsse sich bei Zeiten gewöhnen, pflegte sie in solchen Fällen zu sagen, der Welt etwas zu nützen, und nebenher auch sich selbst; Niemand sei es an der Wiege gesungen, wie noch dereinst sein Schicksal sich wende, und vielleicht wäre es auch für sie einmal noch ein rechtes Glück, wenn sie wenigstens zur Lehrerin oder Krankenpflegerin tauglich befunden würde.

Angelica hatte bei solchen Aeußerungen die verhängnißvolle Clausel im Testament ihrer Mutter im Sinne. Das Publicum indeß, das von diesem Verhältniß natürlich keine Ahnung hatte, faßte diese und ähnliche Reden eben nur als wohlberechnete Kundgebungen der Eitelkeit, als eine kleine coquette Schwäche auf, die ihm gerade bei der Millionairstochter sehr am Platze schien, und freute sich im Stillen, somit auch an Angelica jenen kleinen Schatten gefunden zu haben, ohne den die Welt, wie sie ist, sich nun einmal nichts Glänzendes denken mag, und ohne den sie namentlich eine Erscheinung gleich dem Engelchen kaum nur würde verziehen haben.

Doch würde alles dies begreiflicherweise noch lange nicht hingereicht haben, den Widerstand des Commerzienraths zu brechen, einen Widerstand, der in dem ganzen Charakter und der ganzen Stellung desselben aufs Allertiefste begründet lag und der überdies gerade in diesem Fall, der verhaßten Persönlichkeit Angelica's gegenüber, doppelt heftig hervortreten mußte – hätten die Absichten des jungen Mädchens nicht von sehr verschiedenen Seiten her so unerwartete wie kräftige Unterstützung gefunden.

Freilich auch aus sehr verschiedenen Motiven.

Am Ersten und Lautesten für Angelica's Pläne erklärte sich die Commerzienräthin. Oder vielmehr so hatte Angelica es einzurichten gewußt, daß die ganze Idee bei ihrer Stiefmutter zuerst entstanden, von ihr zuerst ausgesprochen schien; sogar die Baronin selbst glaubte es nicht anders. – Trotz der Kälte, mit welcher dieselbe das Engelchen empfangen hatte und mit der sie es auch fortdauernd behandelte, konnte man doch nicht eigentlich sagen, daß sie den Haß ihres Gemahls gegen ihre Stieftochter theilte. Abneigung allerdings hatte auch sie gegen das Engelchen. Doch war diese Abneigung nicht größer, als sie bei einem verblühenden, alternden Frauenzimmer, von dem Charakter und den Lebensschicksalen der Baronin, gegen eine jung aufblühende, allbewunderte Schönheit, wie Angelica, nothwendig sein mußte; es war mehr eine instinctmäßige, unwillkürliche Abneigung, als ein bewußter absichtlicher Haß und daher auch ohne jene Färbung des Ingrimms und der Leidenschaft, welche das Benehmen des Commerzienraths gegen Angelica, trotz der Mühe, die er sich deshalb gab, doch nicht jederzeit verbergen konnte, wenigstens nicht vor Angelica's eigenem Bewußtsein.

Ferner war die Baronin in das geheimnißvolle Testament eingeweiht. Und wie nun jedes Frauenzimmer, das verheirathet ist, an jedem Frauenzimmer, das verheirathet werden soll, ein ganz eigenthümliches Interesse nimmt, ganz besonders, wenn es bei dieser Verheirathung selbst eine Stimme hat oder zu haben glaubt: so wurde binnen kurzem auch Angelica für ihre Stiefmutter ein Gegenstand, wir wagen nicht zu sagen der Theilnahme, aber doch der Aufmerksamkeit, vor Allem der Berechnung und der Intrigue.

Dazu kam nun noch, daß die Baronin allmälig in Erfahrung gebracht, in wie wenig schmeichelhaftem Ruf, dem Ruf des Stolzes, des Hochmuthes, der Hartherzigkeit (um von Schlimmerm zu schweigen), sie bei der Bevölkerung des Dorfes stand, und wie wenig vortheilhaft für sie die Vergleiche ausfielen, welche man zwischen ihr und der ersten, bei all ihren Seltsamkeiten und trotz ihrer unglücklichen Krankheit doch so mildherzigen, so wohlthätigen Frau Wolston anstellte.

An und für sich zwar würde diese Erfahrung die Baronin ziemlich ruhig gelassen haben. Denn sie war in der That, wofür sie galt, stolz, hochmüthig, von hartem, verschlossenem Herzen. Was so geringe Leute wie die Bewohner des Dorfs über sie meinen möchten, war ein Gegenstand, der sie schlechthin nicht kümmerte; es machte ihr mehr Freude und selbst wenn sie die Wahl gehabt hätte, würde sie es vorgezogen haben, von ihnen gefürchtet zu sein, als geliebt.

Allein seitdem nun das Engelchen gekommen war und seit nun überall, wohin sie hörte, alle Lippen überflossen von der Mildthätigkeit, der Sorgfalt und Anstelligkeit des jungen Mädchens, da erwachte die Eitelkeit der Dame – Eitelkeit, wohl zu merken, nicht Eifersucht. Denn um auf Angelica eifersüchtig zu sein, dazu war ihr dieselbe nicht nur viel zu gleichgültig, sondern auch von ihrer eigenen Ueberlegenheit war sie dazu viel zu fest durchdrungen.

Die Baronin setzte sich also, wenn wir es so nennen dürfen, moralisch in Positur; sie beschloß zu zeigen, daß, wenn sie sich bisher um Niemand im Dorf gekümmert, Dies eben nur aus Geringschätzung und nur deshalb geschehen sei, weil sie es selbst so gewollt habe, daß aber, sobald sie anders wolle, sie auch ebenso herablassend, ebenso mildthätig, ebenso hülfreich sein könne, wie das junge, unerfahrene Mädchen, das doch endlich nichts hatte und nichts vermochte als das bischen ungeschickten guten Willen. Wie ganz anders mußten diese Dinge sich gestalten, wie viel wirksamer mußte diese Wohlthätigkeit, wie viel erfolgreicher diese Unterstützung werden, wenn sie selbst, die Herrin des Dorfes, mit der bekannten Energie ihres Charakters, der Macht ihres Ansehens, der Fülle ihres Reichthums sich an die Spitze stellte!

Noch einige andere Motive spielten mit hinein, Motive von so räthselhafter, so geheimnißvoller Natur, daß die Baronin sie gern vor sich selbst verborgen hätte: aber nein, gleich Blutflecken, die an ein Verbrechen mahnen und die kein Wasser und keine Thräne hinwegbringt, drängten sie sich immer und immer wieder in den Vorgrund.

Die Ankunft des Herrn von Lehfeldt hatte die Baronin, wie unsere Leser bereits aus ihrem ersten Gespräch mit demselben und noch deutlicher aus der darauf folgenden Unterredung mit dem Sandmoll gemerkt haben werden, in eine höchst peinvolle Aufregung versetzt. So gleichgiltig es ihr war, was das gemeine Volk von ihr dachte und über sie urtheilte, mit so ängstlicher Vorsicht war sie von jeher darauf bedacht gewesen, ihren Ruf in der Meinung Derjenigen zu bewahren, die mit ihr von demselben Range, das heißt also Derjenigen, die sie im Grunde ihres Herzens überall nur als vorhanden anerkannte. Sie konnte sich selbst nicht verhehlen, daß bei aller Vorsicht ihr dies gleichwohl nicht immer gelungen war, und daß es Zeiten gegeben hatte, wo das heiße Blut und die jugendliche Leidenschaft mächtiger gewesen als die Vorsicht; es gab Geheimnisse in ihrem Leben, von so banger, so peinlicher Beschaffenheit, daß sie sich selbst auf keine andere Weise davor hatte retten können als durch Vergessenheit.

Aus dieser war sie zunächst durch den Brief des Ministers, sodann aber und in noch viel höherm Grade durch die Erscheinung des Herrn von Lehfeldt aufgeschreckt worden. Den Brief, soweit er auf die Abenteuer ihrer Jugend zurückging, konnte sie verschmerzen, sogar belächeln. Der Minister hatte ganz recht, sie kannten sich Beide viel zu genau, als daß sie nöthig gehabt hätten, sich vor einander zu verstellen oder Eines die Indiskretion des Andern zu befürchten.

Aber das Geheimniß, das die Herkunft des Herrn von Lehfeldt bedeckte, und das sie in so bedenklicher Weise an gewisse Geheimnisse ihres eigenen Jugendlebens erinnerte, drohte sie zur Verrätherin zu machen an sich selbst. Sie fühlte – und fühlte zum ersten mal in ihrem Leben, daß es doch noch etwas Höheres, etwas Heiligeres gebe, als jene kalte äußerliche Rücksicht, jenen glatten gesellschaftlichen Anstand, den sie bis dahin als das wahre Palladium ihres Lebens verehrt hatte. – Kein Mensch ist so verderbt, kein Herz so leer gebrannt, daß nicht noch irgendwo ein Funke höherer Empfindung verborgen läge, daß nicht noch irgend ein Moment käme, wo, und wenn es eben nur für den Moment wäre, der ursprüngliche Adel der menschlichen Natur sich auch in ihm herstellte. Für die Commerzienräthin war dieser Moment gekommen, seitdem sie angefangen hatte, die räthselhafte Herkunft des jungen Mannes mit den Räthseln ihres eigenen Lebens in Verbindung zu setzen. Warum sie das gethan, warum sie, unter so viel tausend Möglichkeiten, gerade an dieser mit so zäher Festigkeit festhielt, dafür wußte sie sich selbst keinen völlig ausreichenden Grund anzugeben. Aber eben das Unwillkürliche, Dämonische dieser Ahnungen, die so plötzlich in ihr aufgetaucht waren und die sie seitdem nicht wieder von sich abzuschütteln vermochte, ließ ihr dieselben um so bedeutungsvoller erscheinen. Sie fühlte sich seit der Ankunft des Herrn von Lehfeldt mehr und mehr in einen völlig veränderten, fast traumhaften Zustand versetzt. Fort und fort, ein kleines armes Grab stand vor ihren Augen, ein Grab, das sie nie gesehen hatte, für das ihr bisher kein Winkel des Gebirgs verschwiegen, kein Abgrund tief genug gewesen war – und das sie nun auf einmal hätte aufgraben mögen in verzweiflungsvoller Neugier mit diesen ihren eigenen Nägeln! Ein Wort schwirrte vor ihren Ohren, unablässig, in Schlaf und Wachen, das noch nie von einer menschlichen Lippe war an sie gerichtet worden, das sie nicht zu flüstern gewagt hatte, selbst nicht in der Stille der Nacht, in der Einsamkeit ihres Zimmers, wo kein Mensch sie belauschen konnte, so fürchtete sie sich vor dem Wort – und von dem es ihr jetzt zuweilen däuchte, als wäre es das süßeste Wort der Welt, und dieser eine kleine Laut müßte im Stande sein, alles Lärmen und Treiben der Gesellschaft, ja selbst ihr Zischen und Spötteln zu übertönen, und nie gekannte, unendliche Befriedigung in ein Herz zu gießen, dessen schauerliche Oede sie jetzt zuerst – und jetzt mit viel Schauder erkannte!

Wir wollen die Commerzienräthin nicht besser machen, als sie wirklich war. Deshalb dürfen wir nicht verschweigen, daß auch noch andere sehr weltliche, sehr verwerfliche Rücksichten sich in diese Empfindungen mischten. Julian ging seiner Auflösung mit raschen Schritten entgegen; darüber konnte wohl die egoistische Liebe eines Vaters, wie Herr Wolston, oder die leichtgläubige Zärtlichkeit einer Schwester, wie Angelica, sich täuschen, nicht aber der klare, scharfe Blick einer Frau, gleich der Baronin. Das ungeheure Vermögen ihres Gemahls war alsdann ohne natürlichen Erben, es fiel, nach aller vernünftigen Berechnung, sowie nach der ausdrücklichen Bestimmung des zwischen ihnen errichteten Ehevertrags, nach Herrn Wolston's Tode ihr zu – und wem nach ihrem eigenen? Die Stimme des Herzens, die nach einem Erben ihres Bluts verlangte, konnte sie vielleicht wieder zur Ruhe bringen, die Stimme der Habsucht und des Ehrgeizes nicht.

Der Sandmoll, gleich als hätte er gewußt, in welchen innern Kämpfen und Schwankungen seine Gebieterin sich befand, that durch seine Nachrichten das Seine, den qualvollen Zustand derselben noch zu vermehren.

Unsere Leser entsinnen sich, welcher Auftrag ihm zu Theil geworden. Aber so gewandt der verschmitzte Alte sich sonst in dergleichen Geschäften zu erweisen pflegte, so unsicher und ungeschickt zeigte er sich in diesem Falle.

An Nachrichten zwar ließ er es der Baronin nicht fehlen, im Gegentheil er überhäufte sie damit. Nur Schade, daß in der Regel eine der andern widersprach; die Spur, die er heute entdeckt, hatte ihn morgen bereits im Stich gelassen; was er in der einen Stunde als sicherste Neuigkeit gemeldet, beeilte er sich selbst, in der nächsten zu widerrufen. Mit wie viel frommer Emphase nicht hatte er der Baronin widersprochen, als sie die Echtheit des Todtenscheins in Zweifel gezogen! Und gleichwohl wenige Tage später kam er herbeigeschlurft: es wäre allerdings nicht ganz unmöglich, daß die gnädige Frau doch recht gehabt, er wolle Niemand etwas Böses nachsagen; aber die Frau im Gebirge, der das bewußte Kind damals übergeben worden, scheine in der That nicht so ehrlich und zuverlässig gewesen zu sein, als er, in der Einfalt seines Herzens, geglaubt. Er habe neuerlich allerhand zweideutige Streiche von ihr erfahren, denen zufolge sie allerdings wohl eine Person gewesen, zu welcher man sich einer derartigen That versehen könne. Aber leider sei sie verschollen und todt, ganz unzweifelhaft todt, schon seit fünfzehn Jahren; woher also etwas Genaueres erfahren?

Und dann gleich darauf kam er wieder geschlichen: nein, er habe dem Dinge weiter nachgedacht und da sei er dahintergekommen, daß er der armen tobten Frau am Ende doch unrecht gethan. Zwar habe er selbst keinen Begriff davon, wie man einen falschen Schein ausstellen könne: allein jedenfalls gehöre mehr Kunst und mehr Einsicht dazu, als jene bäurische Frau gehabt haben könne. Auch wäre ja ihr eigener Vortheil an das Leben des jungen Pfleglings geknüpft gewesen; ob sich denken lasse, daß sie selbst einen Todesfall erdichtet, der sie um alle Vortheile gebracht, welche sie von dem Lebenden würde gehabt haben? – Von einem zweiten Kinde zu wissen, das ungefähr zu derselben Zeit unter ähnlichen Umständen zur Welt gekommen sein sollte, gab er zuweilen zu, andere male wieder wollte er nie etwas davon vernommen haben. Ja es gab Tage, wo er sich vollkommen unwissend stellte und überhaupt von gar keinem Kinde, weder einem ersten noch einem zweiten, jemals das Geringste gehört zu haben behauptete.

Machte die Baronin ihn auf diese und ähnliche Widersprüche aufmerksam, so entschuldigte er sich bald mit der Gedächtnißschwäche, welche sein Alter und seine lange Gefangenschaft ihm zugezogen, bald auch mit seinem Diensteifer gegen die gnädige Frau, der ihn, bei seinem schwachen guten Herzen, wohl ab und zu verleite, mehr nach ihren Wünschen zu sprechen, oder nach Dem wenigstens, was er in seiner Einfalt für ihre Wünsche halte, als er in Wahrheit verantworten könne. Die gnädige Frau möge deshalb nicht auf ihn zürnen, noch ihm ihren christlichen Beistand entziehen; so werde er zuletzt wohl noch des Teufels Herr werden, den er gleich allen Menschen in sich trage und der ihm denn zuweilen auch, wider Wunsch und Willen, die eigenen Worte im Munde verkehre.

Daß seine Gebieterin ihm dabei jede seiner Neuigkeiten, die unerheblichsten, unwahrsten nicht ausgenommen, mit baarem Gelde auswiegen mußte, brauchen wir natürlich gar nicht erst hinzuzusetzen. Aber noch mehr als die Habsucht, fühlte die Bosheit des Alten sich in diesem Verhältniß befriedigt. Diese stolze, herrschsüchtige Frau, war sie nicht in seine schmutzige, schwielige Hand gegeben, gleich einem Rohr, das er biegen konnte nach seinem Willen? Ob dies feurige Auge lächeln oder sich in Thränen verschleiern, diese fein gewölbte Wange in Scham erglühen oder in Angst erblassen sollte, hing es nicht ab von einer Miene seines garstigen Angesichts, einem Hauch nur seines unreinen Mundes? Die Nächte dieser Frau selbst, ob sie sich schlaflos, verzweifelnd zwischen ihren seidenen Decken umherwälzen oder ob ein schmeichlerischer Traum ihr Trost zuflüstern sollte – waren nicht auch ihre Nächte in seiner Gewalt? Geld ist süß, ganz gewiß: aber noch süßer war dem Alten das Bewußtsein dieser Herrschaft, die er über seine eigene Herrin übte; seine ganze niedrige Seele erhob sich und er mußte lachen vor sich selbst, wenn er dachte, daß die reichste, die vornehmste, die mächtigste Frau des Dorfes zitterte vor ihm, dem ehemaligen Zuchthäusler!

Was inzwischen Herrn von Lehfeldt selbst anbetraf, blieb der Sandmoll standhaft bei der Behauptung, daß derselbe in der That sein Sohn. Allein mit so viel Eiden und Betheuerungen er diese Aussage auch bekräftigte, so kannte die Commerzienräthin ihn doch viel zu wohl und verstand sich zu gut auf dieses unheimliche, boshafte Glitzern der kleinen versunkenen Augen, auf dies Näseln, Quäken, Händefalten, als daß nicht bei alledem ein Stachel des Zweifels in ihrem Herzen hätte zurückbleiben sollen. –

So zwischen den verschiedenartigsten Stimmungen hin- und hergeschleudert, mit einem Geheimnisse ringend, dessen Enthüllung sie ebenso sehr fürchtete als hoffte, ging die Baronin mit einer fast leidenschaftlichen Begier aus die Pläne ein, welche Angelica ihr so geschickt, als wären es die ihren, untergeschoben hatte. – Die Gesinnung, die im Mittelalter Klöster stiftete und Kirchen weihete, nicht blos um Vergebung für begangene Sünden zu erkaufen, sondern selbst für das Böse, was man noch erst zu thun gedachte, für die verbotenen Wünsche, die man noch hegte, glaubte man die Zustimmung des Himmels damit erkaufen zu können, ist keineswegs unter uns ausgestorben, wenn sie sich auch nicht mehr so augenscheinlich, in so großartiger Weise äußert. – Auch dem Verfahren der Baronin lag etwas Aehnliches zu Grunde. Trotz der Lockerheit ihres Lebenswandels, und so entblößt sie von allem ernstern sittlichen Gehalt auch war, war sie dennoch von jeher überzeugt gewesen, unter einer ganz besondern, ganz unmittelbaren göttlichen Führung zu stehen; aristokratisch durch und durch, war sie auch fest überzeugt, ein besonderes Lieblingskind der Vorsehung zu sein. Die Vergehungen und Fehltritte ihrer Jugend, weit entfernt sie in diesem Glauben zu erschüttern, hatten sie im Gegentheil erst recht darin befestigt. Wie oft nicht hatte sie das göttliche Gebot übertreten! welche bedenklichen Geheimnisse hatte sie zu verbergen gehabt! wie oft nicht war sie in der Gefahr gewesen, zu Schanden zu werden vor der Welt! Und jedesmal wieder hatte die Vorsehung ihr herausgeholfen, jedesmal hatte sie ihr Mittel an die Hand gegeben, sich dem drohenden Untergange zu entziehen; wo alle Rettung verloren schien und kein Ausgang mehr zu sehen, hatten sich plötzlich Wege vor ihr eröffnet, die allerdings an sich eben nicht die löblichsten waren, die zu beschreiten sie aber gleichwohl keinen Anstand nahm, da unzweifelhaft Gott selbst es war, der sie ihr gewiesen.

Einen solchen Weg, wie ehemals den äußern, so jetzt den Gefahren und Verlegenheiten ihres eigenen Innern zu entfliehen, erblickte sie denn nun auch in dieser Werkthätigkeit, zu welcher sie durch Angelica's heimliches Anstiften ermuntert ward. So peinvolle Gegenstände, wie diejenigen, in welchen die Baronin sich seit Ankunft des räthselhaften Fremden befand, lassen überhaupt jede Beschäftigung, welche den Geist nach außen leitet, als willkommene Rettung erscheinen; um sich selbst zu entfliehen, thun die Menschen so unendlich viel Böses, warum nicht, wenn die Gelegenheit es so mit sich führt, auch einmal etwas Gutes? Die Commerzienräthin aber, nach ihrer eigenthümlichen Denkweise, schmeichelte sich damit zugleich auch, die Gunst des Himmels zu erkaufen, sei es um ihn mit der Vergangenheit auszusöhnen, sei es um ihn zu bestechen für die Zukunft. Diese forcirte Wohlthätigkeit, der sie sich auf einmal hinzugeben anfing, entriß sie nicht nur den unbequemen Gedanken des Augenblicks, sondern sie fand darin namentlich auch eine trostreiche Beruhigung wegen des Künftigen; hatte der Himmel sich ihrer so oft erbarmt, als sie noch eine Sünderin war, in den Verlockungen und Irrthümern der Welt befangen, um wieviel kräftiger mußte er sich ihrer nicht erst jetzt annehmen, seitdem sie, nach der buchstäblichen Verheißung des Evangeliums, die Hungrigen speiste und die Nackten bekleidete?

Wir brauchen wohl kaum erst zu erwähnen, daß auch bei dieser Entscheidung die Stimme des Herrn Waller, den wir ja recht eigentlich als den geistlichen Rath der Baronin kennen, von entscheidendem Einfluß gewesen war. Dies Verhältniß ist indessen wichtig genug, um damit ein eigenes Capitel zu eröffnen.


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