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Drittes Buch.
Das Testament


Erstes Kapitel.
Die Heimkehr

Während so, unter dem niedern Dach des Weberhauses, zwei langgetrennte Herzen sich wieder zusammenfanden, bereiteten Ereignisse ganz entgegengesetzter Art sich in dem prächtigen Schlosse des Fabrikherrn vor.

Wir haben Angelica verlassen in dem Augenblick, da die Pferde wieder anzogen und das arme, geängstigte Mädchen, überwältigt von Aufregung, Furcht und Scham, halb ohnmächtig in die Kissen des Wagens zurückgesunken war. Aber nur wenige Sekunden – und der Wagen donnerte über die Brücke, durch das alte gewölbte Klosterthor, das noch immer den Eingang in das Innere des sogenannten Schlosses bildete.

Angelica fuhr in die Höhe …

Da war er nun wirklich, der Moment, dem sie seit so Langem, halb mit Sehnsucht, halb mit Beängstigung, entgegengeharrt hatte! da war es nun wieder, das Haus, das sie, wie immer, doch wenigstens dem Namen nach als ihr väterliches begrüßen mußte! da waren sie wieder, dieselben düstern, einförmigen Mauern, da winkten ihr, über das langgestreckte Klosterdach herüber, jene Bäume des Gartens wieder, zwischen denen sie aufgewachsen und in deren Schatten sie, neben mancher bittern, qualvollen Stunde, doch auch, in froher Gemeinschaft mit Julian und Reinhold, so manche glückliche, so manche kindlich selige verlebt hatte!

Der helle, grelle Mondschein, der über dem weiten Platze lagerte, hier einen Giebel taghell beleuchtend, dort einen andern in tiefsten Schatten begrabend, vermehrte noch das seltsam Unheimliche der Scene. Angelica, in deren elastischer Seele noch der Eindruck des soeben erlebten Auftritts nachzitterte, ließ die schönen, noch halb von Thränen verdunkelten Augen verwundert umherschweifen …

Ja wohl, dort in jener Ecke, wo der Mond jetzt so hell auf dem rastlos plätschernden Wasserstrahl glitzerte, hinter dem alten Brunnen, mit dem seltsamen Schnitzwerk und den Heiligenbildern, die ihnen als Kindern so viel Lust und Grauen zugleich gemacht hatten, dort war es gewesen, dort hatten sie gesessen, wie oft! zu Dreien, in der warmen Mittagsstunde, wenn Julian einmal das Zimmer verlassen durfte, und die schwüle Hitze unter dem dichten Laubdach des Parks sie hierher verscheuchte! Auf jenen halbverfallenen Stufen, wo – sie konnte es natürlich nicht sehen: aber, verloren in die Erinnerung vergangner Stunden, deuchte es ihr, es müsse auch jetzt wieder so sein – die Eidechs mit den klugen funkelnden Aeugelchen zwischen den Steinritzen hervorlauschte, wie viel Märchen hatten sie sich da erzählt, wie viel Bilder der Zukunft sich ausgemalt nach Kinder Weise! Durch jene Pforte, die in den Maschinensaal führte, mit seinem unheimlichen Sausen und Brausen, seinem Klappern und Hämmern, das Julian jedes Mal so wehe in den Nerven that, daß er nicht einmal den Anblick jener Pforte ertragen zu können behauptete, und in die sie doch bei alledem so gern hineinlauschten mit wollüstigem Grausen, zwischen diese riesenhaft geheimnißvollen Räder und Walzen, Stangen und Hebel – aber nein, die Pforte war nicht mehr zu finden, sie war vermauert, und ein hohes geräumiges Thor statt dessen, mit einem stolzen Porticus und einer goldfunkelnden Inschrift, wölbte sich in der Nähe.

Und da, gerade über, wo jetzt Alles so öd und finster war, neben der alten Wendelstiege, o wahrhaftig, das war ja das trauliche Stübchen, wo sie so oft mit Julian beisammengesessen, hinter seinen großen bunten Bilderbüchern, und hatte sich ausspotten lassen von ihm, daß sie die lateinischen Namen so lustig verdrehte! Da, zwischen diesen jetzt so öden Mauern (denn sie wußte wohl, daß Julian seitdem andere, viel prächtigere Gemächer bezogen) war jenes herzige Gelächter erklungen, im Chor, zu Dreien, das jetzt noch so süß in ihrem Gedächtniß wiederklang und nach dem sie sich sehnte – ach, so kindlich innig! Dicht darunter – ja wohl, jetzt fand sie sich gleich zurecht, das waren die Fenster, hinter denen ihre Mutter zu wohnen pflegte, die ewig verhangenen, geheimnißvollen, zu denen sie als Kind so oft in banger Sorge emporgestarrt hatte, nachgrübelnd über das Räthsel eines Schmerzes, den ihr klares, ewig heiteres Gemüth nicht verstand, und der sie eben darum doppelt ängstigte. Aber auch hier hatte sich alles verändert, ein prächtiger Altan war herausgebaut, die engen, kleinen Fenster hatten sich erweitert zu hohen, stolzen Glasthüren, duftige Blumengewinde, die über das zierliche Geländer herabhingen, schaukelten sich lustig im Nachtwind, und schienen der Wehmuth zu spotten, mit der Angelica zu ihnen emporblickte! – Soviel Veränderungen seit ihrer Abwesenheit waren mit dem Gebäude vorgenommen und doch so viel altes Bekanntes war auch jetzt noch vorhanden, daß Altes und Neues, in seltsamer Mischung, vor den überraschten Blicken des jungen Mädchens zusammenfloß, und sie, wie unter den Erscheinungen eines Traumes, sich bekannt und fremd, vertraut und unheimlich zugleich fühlte.

Ach, und wenn auch sie sich nun erinnerte, zu welchem Zweck sie hierher zurückkam, und welches die nächste Veranlassung dieser Heimkehr war, so wollte ihr das arme junge Herz vor Gram und Bangigkeit ja vor die Füße sinken. War dies das Wiedersehen eines Vaterhauses? dies die Heimkehr einer Tochter? Einer Tochter – und indem sie das Wort dachte, mußte sie schmerzlich lächeln über sich selbst: in fernem, ungekanntem Grabe schlummerte ihre Mutter, und die Frau, welche jetzt den Namen derselben in Anspruch nahm, hatte sie noch nie mit Augen gesehen, wohl aber schon viel zu viel von ihr vernommen, um selbst nur jene Achtung, jene Ehrerbietung vor ihr zu empfinden, ohne die das Verhältniß doch ein schlechthin unerträgliches werden mußte. Sie kam in ihr älterliches Haus zurück, weder freiwillig noch eingeladen, sondern nur durch die gehässigste Nothwendigkeit gezwungen, und mit dem niederbeugenden Bewußtsein, höchst unwillkommen zu sein bei den Gebietern des Hauses selbst. Verletzt in tiefster Seele durch ein Unrecht, das ihr angethan werden sollte und das ihr um so gefährlicher, um so unerträglicher deuchte, weil es mit allem Anspruch des Rechtes auftrat und von der Einzigen kam, die ihr armes, ödes Jugendleben, zu Zeiten wenigstens, mit einem Schein von Aelternliebe verklärt hatte, ihrer eignen todten Mutter – böse Geheimnisse ahnend, vor deren Enthüllung sie eben so sehr zurückschauderte, als dieselbe nöthig war zu ihrer Rettung, kam sie, einem Vater unter die Augen zu treten, der ihr niemals auch nur den kleinsten Anspruch väterlicher Liebe gegönnt hatte, und der gleichwohl jetzt im Begriff stand, alle strengsten Vaterrechte gegen sie geltend zu machen. Sie, deren ganze Seele nur Heiterkeit und Klarheit athmete, ja deren Natur es mit sich brachte, daß, wo immer sie erschien, sich auch Freudigkeit und Frieden um sie verbreitete – sie jetzt kam, gerüstet zu Widerspruch und Streit, entschlossen, mit allen Mitteln, welche Gesetz und Klugheit ihr zu Gebote stellen würden, das bedrohte Recht ihrer Selbständigkeit zu bewahren. – Die Scene von vorhin, schon so erschütternd an sich für ein junges, schutzloses Mädchen, erschien ihr unter diesen Umständen als eine Vorbedeutung der trübsten Art. Haß und Zwietracht erwarteten sie im Hause ihres Vaters – und Haß und Zwietracht empfingen sie, noch bevor sie die Schwelle desselben betreten. Was alles mußte geschehen sein während ihrer Abwesenheit, welche Veränderungen nicht blos im Aeußerlichen, sondern auch in den Gemüthern der Menschen mußten sich zugetragen haben, daß sie, der Liebling ehemals des Dorfes, hatte auf diese Weise empfangen werden können? Auf welche Höhe mußten der Druck des Elends und die Abneigung gegen ihren Vater unter der Bevölkerung gestiegen sein, um sich in so gewaltsamem Ausbruch selbst gegen sie zu entladen?

Denn in der sehr natürlichen Aufregung, in welcher die junge Dame sich befand, hatte sie weder die Veranlassung noch auch den Verlauf des ganzen Vorgangs eigentlich begriffen; so unverständlich das Wuthgeschrei, mit welchem man ihren Wagen angehalten, ebenso unverständlich waren ihr auch die Segenswünsche und Begrüßungen geblieben, mit welchen die rasch umgestimmte Volksmasse das Engelchen entlassen hatte. Nur das begriff sie, daß sie in einer großen Gefahr geschwebt – und erst allmälig, wie sie sich den Ausdruck der Züge, vor Allem den Klang der Stimme wieder ins Gedächtniß rief, dämmerte es in ihr auf, daß es Reinhold, ihr theuerer Reinhold, der unvergessene Gefährte ihrer Jugend gewesen, durch den sie der Gefahr entrissen worden. Auch die Züge des alten Sandmoll (die freilich unvergeßlich waren für Jeden, der sie einmal erblickt hatte) erinnerte sie sich dunkel in dem Gewühl von Gestalten, in das sie plötzlich versetzt war, gesehen zu haben. Welche Rolle bei diesem ganzen Zufall spielte der Unheimliche? ja oder war es – sie fühlte selbst, wie Schamröthe ihre edle Stirn übergoß, als sie den Gedanken dachte: aber sie kannte den Alten zu wohl, um ihn nicht zu denken – war es vielleicht nicht Zufall, war es Veranstaltung, absichtliche, daß sie, der verhaßte Gast, so empfangen ward? und hatte jene Spukgestalt, wie bei allem Bösen und Verbrecherischen, die Hand vielleicht auch hier im Spiel?

Aber gleichwohl, aus allen diesen Eindrücken und Empfindungen, die mit Blitzesschnelle die Seele der Heimkehrenden überfluteten – Ein Bild, in Sonnenklarheit, leuchtete vor allen übrigen hervor und kämpfte alle Zweifel und alle Bangigkeit nieder, die ihr das Herz übrigens zusammenschnürten: das Bild ihres Bruders. Dieses war der eigentliche Stern der Heimkehr, der sie bis hierher geleitet hatte; aus ihm floß ihr auch jetzt Trost und Frieden in das stürmisch bewegte Herz. Was galt ihr ihr eigenes Schicksal? oder wenn es ihr etwas galt, war es nicht deshalb blos, weil sie dasselbe aufs Innigste verbunden wußte mit dem Schicksal ihres Bruders? weil sie wußte, daß es keine Freude gab für Julian, wo sie traurig, keinen Genuß für ihn, wo sie in Entbehrungen wäre? Es war ihr wohl bekannt, in welcher unseligen Lage ihr Bruder sich befand, und wie sein junges Leben, gleich einer Pflanze, die in fremdem Erdreich steht, fern von der Luft und der Sonne ihrer Heimat, verschmachtete in der kalten, herzlosen Umgebung des väterlichen Hauses. Seine Briefe freilich hatten es ihr nicht melden dürfen, mit keinem Wort, keiner Silbe – sie gingen ja allemal erst durch die Hand ihres Vaters! Aber auch ohne Wort und ohne Silbe, ihr Herz hatte den Jammer seiner Seele dennoch verstanden, hatte dennoch den Nothschrei gehört, mit dem der Verschmachtende ihr rief! Dies, ja dies allein war der eigentliche, der innerste Zweck ihrer Heimkehr: sie kam, ihrem Bruder, in der entsetzlichen Vereinsamung seines jungen Lebens, Trost, Freude, Erheiterung zu bringen, sein kummervolles Auge sollte sich widerspiegeln in dem heitern Glanz des ihren, sein armes, verwaistes, freudloses Herz sollte genesen, indem es wieder den Herzschlag einer Schwester fühlte. Zu jedem Opfer und jeder Entsagung bereit, die nur ihr eigenes Schicksal betraf, war sie gleichwohl fest entschlossen, den hartnäckigsten Kampf für ihren Bruder zu wagen, um ihn aus dieser unseligen, seiner Natur so ganz widersprechenden Lage zu befreien, in welcher die thörichte, selbstsüchtige Eitelkeit seines Vaters ihn gefangen hielt. Eine Empfindung wie von Mutterliebe durchströmte das Herz des jungen Mädchens und gab ihr eine Entschlossenheit und einen Muth, den sie für sich selbst niemals gehabt haben würde. Sie wollte dem Commerzienrath die Binde von den Augen reißen, sie wollte ihm zeigen; wie er, in strafwürdiger Verblendung, auf dem besten Wege war, durch die falsche Art, mit welcher er Julian behandelte, selbst alle die Hoffnungen zu vernichten, an denen er übrigens mit so viel stolzer Begierde hing; sie wollte ihn zu der Erkenntniß nöthigen, daß Julian niemals wieder gesund werden, niemals seine Kraft und Heiterkeit wiedergewinnen könne, wenn er nicht in eine andere Umgebung käme, eine Umgebung, in welcher sein von der Natur so weich geschaffenes Herz mehr Nahrung, das Bedürfniß nach Freundschaft und Vertraulichkeit, das seine arme kranke Brust erfüllte, mehr Befriedigung fände. Namentlich und ganz besonders aber wollte sie darauf hinarbeiten, das Verhältniß mit dem Sohne des Meisters wieder herzustellen und, wenn irgend möglich, auch Leonhard in seine alte Stellung wieder zurückführen, da ihr nicht verborgen war, was Julian durch die Entfernung dieser beiden von ihm so geliebten Personen litt und wie sehr er sich nach der Erneuerung ihres Umgangs sehnte. Sie gelobte sich selbst, alle Abneigung, selbst alle Furcht, die sie gegen Herrn Wolston empfand, zu unterdrücken und so ehrerbietig, so herzlich zu ihm zu reden, wie sie, ach so gern! in früherer Zeit zu ihm geredet hätte, und wie gleichwohl er selbst es ihr niemals verstattet hatte.

Es ist ja um meines Bruders willen, daß ich es thue, dachte sie: er ist ja auch eine Waise so gut wie ich, nicht blos ohne Mutter, o nein, auch ohne Vater, und hat ja Niemand mehr auf der Welt als mich …

Dieser eine Gedanke, der Gedanke an die heilige, edle Pflicht, die sie zu erfüllen kam, genügte auch jetzt wieder, alle Besorgnisse zu verscheuchen und ihr den ganzen Muth und die ganze Frische der Seele wiederzugeben. Mit festem Tritt stieg sie aus dem Wagen, warf nur einen flüchtigen Blick hinauf zu der Fensterreihe, wo sie das Wohnzimmer ihres Vaters wußte und wo längst kein Licht mehr brannte, einen zweiten auf die Fenster des Gesellschaftszimmers, die im Gegentheil noch in hellem Kerzenglanz leuchteten, und eilte dann rasch durch die zahlreiche, glänzend gekleidete Dienerschaft, die sie am Eingang empfing, die breiten, teppichbedeckten Treppen hinauf.


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