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Drittes Kapitel.
Dämmerstunde

Angelica verabschiedete sich. Auf ihrem Zimmerchen angekommen, das sie, zu ihrer unsäglichen Freude, noch vollkommen unverändert fand, in derselben einfachen Ausstattung wie ehedem, war sie von allem Erlebten so aufgeregt, namentlich auch von dieser Unterhaltung mit Herrn Waller, daß sie noch kein Bedürfniß des Schlummers empfand. Sie entließ das Kammermädchen, öffnete das Fenster und lehnte hinaus ins Freie, wo schon die ersten leisen Spuren des dämmernden Morgens sichtbar zu werden begannen.

Angelica's Zimmer ging nach der Gartenseite hinaus, in demselben Flügel, wo auch Julian's neue Wohnung lag. Sie hatte sich die Lage der Zimmer von der Dienerschaft bezeichnen lassen und sah jetzt deutlich, indem sie in den Garten hinunterlauschte, den Schein der Lampe, der zwischen den Vorhängen hindurch aus seinen Fenstern auf das gegenüberstehende schwarz beschattete Laubwerk fiel. Eine unendliche Sehnsucht nach ihrem Bruder überkam sie; nur hinauflauschen zu dürfen zu den erleuchteten Fenstern, nur zu horchen an der verschlossenen Thür seines Zimmers, schien ihr ein unendlicher Genuß …

Dazu lag der Garten so still, so feierlich da in der linden Morgendämmerung; die Bäume rauschten so geheimnißvoll, so lockend, und horch, dort aus dem Buchenwäldchen her ließ der Finke sein erstes lustiges Morgenlied ertönen …

Rasch entschlossen warf Angelica das Tuch um und schlich, indem sie die Thür hinter sich geöffnet ließ, auf leisen Zehen, Treppen und Gänge entlang, hinunter in den Garten.

Denn auch dorthin wie viel liebe Erinnerungen zogen sie! wie viel kleine stille Plätzchen hatte sie aufzusuchen, um das Andenken, bald an Jugendfreuden, bald an Jugendleiden zu erneuen! Morgen sollte sie Herrn Wolston und seine Gemahlin sprechen, wer weiß, trotz aller guten Vorsätze, was morgen begegnete! So wollte sie diese stille, heilige Stunde der Dämmerung benutzen, um ungestört das Wiedersehen ihres geliebten Gartens zu feiern und gleichsam ihre Andacht zu verrichten vor den Erinnerungsmalen ihrer Kindheit.

Ihr Weg führte sie an Julian's Zimmer vorüber. Auch hier sah sie, wie der Lichtschein durch die Spalten der Thüre drang; noch leiser, noch unhörbarer wurde ihr Schritt; sie sank, im Vorübergehen, in die Knie und streckte die ausgebreiteten Arme gegen die verschlossene Thür, als könne sie den Theuren zu sich heranziehen und ihn aufwecken mit ihren schwesterlichen Küssen.

Um aus dem Flügel, in welchem Angelica wohnte, in den Garten zu gelangen, mußte man über einen kleinen, abgelegenen Seitenhof, der dicht an die eigentlichen Fabrikgebäude grenzte; mit allerhand Schuppen, Bretterwänden und ähnlichen Baulichkeiten besetzt, wurde er selten oder nie von irgend Jemand, es sei denn von einem der Fabrikarbeiter zu geschäftlicher Verrichtung, betreten. Ein langes Stangenwerk, das, mit einem Bache in Verbindung stehend, welcher den Garten durchfloß, gewisse Maschinen im Fabrikgebäude in Bewegung setzte, lief, in wenig mehr als Mannshöhe, quer darüber hin. Schon da Angelica noch Kind war, hatte dies Stangenwerk mit seiner unaufhörlichen, gespenstigen Bewegung, gleichmäßig Tag wie Nacht, den Gegenstand ihres stillen Entsetzens gebildet Auch jetzt wieder, indem sie hinaustrat in den engen Hof und sah in der Dämmerung den schwarzen, ungewissen Schatten endlos, langsam hin und hergleiten, und hörte das eigenthümliche Aechzen und Stöhnen, das die Bewegung der Maschine begleitete, und fühlte, indem sie darunter hinwegschritt, wie die kalten Tropfen, aus der Rinne hindurchsickernd, ihr auf Hals und Stirne fielen – fuhr sie zusammen, wie von Gespensterhand berührt, und ihr Fuß, unwillkürlich, wurzelte im Boden …

In diesem Augenblick, dicht neben sich, in einem der Schuppen, dem Fabrikgebäude zunächst, nur durch eine dünne Bretterwand geschieden, hörte sie eine Stimme, der eine zweite antwortete …

Ihre Knie schlugen zusammen vor Ueberraschung und Schreck, der Athem in ihrer Kehle stockte – horch, jetzt wieder …

Nein, ihre Furcht war kindisch, diese Stimme zum wenigsten kannte sie, kannte sie ach, nur allzugut –: es war die Stimme ihres Vaters!

Und du bist gewiß, sagte er, daß jedes andere Zeugniß vernichtet ist? Es ist ein keckes Mädchen, wie du selbst wohl weißt, und wir haben von ihrem Trotz das Schlimmste zu befürchten. Aber darum eben mußte sie in meine Hand gegeben werden, daß ich sie bändige. Alter Sünder, ich warne dich! es ginge um deinen Hals, wie meinen: und ich bekanntlich hätte noch Mittel mich herauszuziehen, während du elend verzappeln müßtest. Es müssen noch irgendwo Papiere sein, ich erinnere mich genau, daß ich sie noch an etwas Anderm schreiben sah, das wir bis jetzt noch nicht gefunden haben …

Sowie Angelica die Stimme des Herrn Wolston erkannt, hatte sie sich fortschleichen wollen. Aber noch immer lähmte der Schreck ihre Glieder, wider Willen hörte sie – und was sie hörte, war nicht geeignet, ihre Erstarrung zu lösen. Sie stand an einem der Pfeiler, auf denen das Stangenwerk sich bewegte, das feuchte Holz durchkältete ihre Kleider; dennoch, in ihrer Angst, drängte sie sich so dicht an den Pfeiler, daß es schien, als wäre sie ein Stück von ihm.

Jetzt begann die zweite Stimme – freilich, wie wäre es auch nur einen Augenblick möglich gewesen, diese zu verkennen! Dies Gurgeln und Röcheln, dies langgedehnte Zischen und Aechzen, das machte dem Sandmoll Niemand nach auf Erden: und auch das vergaß Niemand wieder, der es nur einmal gehört hatte.

Ah, ah, stöhnte der Sandmoll, was der Herr Commerzienrath heut spaßig sind, so spät noch in der Nacht! Aber der Herr Commerzienrath haben Recht, wie immer, habe auch schon so etwas gemerkt, ah, habe ich das! habe auch schon eine Art von Spur, ja, solch ein alter abgetriebener Jagdhund ich bin …

Wo? stieß der Commerzienrath heftig hervor.

Der Alte mußte durch eine bloße Geberde geantwortet haben, denn unmittelbar darauf fuhr der Andere fort:

Ich dachte es mir, knirschte er: es ist ja der Fluch meines Lebens, der unter diesem heillosen Dache wohnt, und den ich nicht eher lösen werde, als bis das kleinste Stäubchen verwest ist, von dem Dach sowohl, als von den Leuten, welche darunter wohnen. Sie suchen mir eben Alles zu stehlen, Alles; das Herz meines Julian haben sie mir schon entwandt, warum sollen sie nicht auch die Schriften gestohlen haben? Auf die Fährte, alter Jagdhund! Der Vorfall von heute Nacht gibt eine prächtige Veranlassung, es könnte leicht zu einer Haussuchung kommen – Haussuchung, verstehst du? Es wird sich ohne Mühe machen lassen, daß du, der du, zur Strafe deiner Thorheiten, doch einmal so ein Stück Beamter bist, dabei zugegen sein kannst – wachsam, wachsam, alter Schnüffler! und wenn du mir die Beute geschleppt bringst, will ich dich aller deiner Sorgen ledig machen auf einmal!

Ah, ah, röchelte der Andere, und selbst wie er mit den langen, dürren Fingern dazu knackte, konnte Angelica von ihrem Versteck aus hören: weiß wohl, sehr gnädiger Herr der Commerzienrath, sehr gnädig im – Versprechen! Nichts für ungut, unterbrach er sich mit heiserm Gelächter, wollen es schon besorgen, meine Lore soll dran, der Herr Commerzienrath wissen doch, was die Lore für ein Prachtweib ist? Aber dafür wollen der gnädige Herr auch Acht geben, um was ich bitte – bitte sowohl für mich, wie für ihn selbst! Das Männchen da aus der Stadt, der Herr Maler – nun, was wird es sein? Sie werden Wind haben, die Herren in der Stadt: aber wo er herkommt, wissen sie noch lange nicht, auch wenn er ihnen dicht unter die Nase weht, auch nicht wo er hinfährt. – Aber bei alledem Vorsicht, Vorsicht, gnädiger Herr! Ich glaube nicht, daß es eigentlich um deshalb ist, daß der Herr Maler gekommen – aber immerhin, man kann nicht wissen, ich habe den Spaß schon einmal gehabt, und ein vorsichtiger Mann deckt sich bei Zeiten …

Hier, wie die beiden Sprechenden den Zaun entlang gingen, in das Innere des Fabrikgebäudes zurück, verloren sich die Stimmen. Angelica seufzte schwer auf – was war das? war sie im Traum? war es ein Trugbild ihrer aufgeregten Sinne?

Aber nein, noch hörte sie den ungeschickten, schweren Tritt des Alten am Zaun entlang schlurfen, hörte, wie er stolperte an den Stufen der Schwelle, und wie der Commerzienrath mit dem raschen, energischen Geist, der ihm eigenthümlich war, die Thür des Fabrikgebäudes ins Schloß warf. Sie wachte, ganz gewiß, sie wachte! Der Angstschweiß hier auf ihrer Stirn, der Frost, der ihre Glieder schüttelte – o das Alles war ja keine Täuschung, konnte nicht durch bloße Täuschung entstanden sein!

Aber wenn es denn Wirklichkeit war, was bedeutete sie? was war der Sinn dieser geheimnißvollen Reden? Was überhaupt konnte es sein, das in dieser späten Stunde der Nacht, in diesem entlegensten Winkel des Hauses, ihren Vater zusammenführte zu heimlichem Zwiegespräch mit diesem Verworfensten aller Sterblichen?

Sie rief sich das Gehörte noch einmal einzeln ins Gedächtniß zurück, sie hätte es gern geleugnet vor sich selbst – aber nein, kein Zweifel, sie selbst war mit dabei im Spiel! sie selbst war das kecke, trotzige Mädchen, dessen Uebermuth der Vater bändigen wollte! Briefschaften ihrer Mutter waren es, ihrer theuren, unglücklichen, todten Mutter, denen nachgeforscht ward und die der Commerzienrath in seine Hände bekommen wollte – Briefschaften ihrer Mutter?! Wie Schatten des Todes, streckte ein Argwohn, den sie seit Langem kaum mehr unterdrücken konnte, sich über ihr armes, schuldloses Herz; eine unsägliche Angst überfiel sie, eine Angst, gegen die Alles, was sie bei dem Auftritt, vor dem Wirthshaus empfunden hatte, gleichsam nur Kinderspiel war: – als streckten zwei lange, unsichtbare Arme sich durch die Dämmerung ihr entgegen und würgten sie in eiserner Umklammerung …

Die Schatten inzwischen waren mehr und mehr gesunken, zum zweiten Mal stimmte der Fink im Buchenwäldchen sein Morgenlied an, hell und siegreich wie der Jubel eines reinen, festen Herzens wirbelten die Töne in die Luft.

Auch Angelica's Herz fühlte sich von dem Morgenlied des Vögelchens erleichtert; ihre Augen schwammen in Thränen, aber doch schon wieder lächelte sie durch die Thränen …

Du wirst es wohl machen, mein Gott, sagte sie, indem sie die treuen Augen emporschlug zum Himmel, der sich schon mit rosigen Wölkchen umsäumte: dir befehl' ich mich, meinen Bruder und Alles, was mir lieb und heilig ist.

Damit hüllte sie sich dichter in ihr Tuch und schlich, unhörbar, wie sie gekommen, und eben so unbemerkt in ihr Zimmerchen zurück.


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