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Zweites Kapitel.
Der Empfang

Wenn das gnädige Fräulein die Güte haben wollten –, sagte der Diener, der Angelika den silbernen Armleuchter vorantrug: der Eingang zum Gesellschaftszimmer ist jetzt hier …

Das Engelchen, beschäftigt mit dem Zusammentreffen, das ihr bevorstand, und in Gedanken die Anrede prüfend, mit der sie den Commerzienrath und seine Gemahlin begrüßen wollte, war mechanisch, einer Erinnerung von ehedem folgend, in einen falschen Corridor eingebogen und mußte sich nun zurechtweisen lassen von Fremden in ihrer Aeltern Hause.

Angelica warf das Köpfchen anmuthig zurück: Ich werde, dachte sie, halb neckisch, mich wohl noch in andere Veränderungen finden müssen …

Die Flügelthüren gingen auf, schwere seidene Vorhänge, welche dieselben von innen verschlossen, rauschten zurück, ein heller Lichtglanz, verbunden mit dem Duft fremder köstlicher Blumen, quoll ihr entgegen: auch dieser Luxus der Einrichtung eine Neuerung, die erst mit der zweiten Gemahlin in das sonst ziemlich bürgerliche Haus des Herrn Wolston gekommen war und die daher auch Angelica, so gleichgiltig ihrem unbefangenen Sinne dergleichen Aeußerlichkeiten sonst auch waren, ein wenig stutzig machte …

Als Angelica die Augen in die Höhe schlug, sah sie sich – weder Herrn Wolston noch ihrer Stiefmutter gegenüber, sondern einem jungen Mann, in gewählter schwarzer Kleidung, mit edlen ausdrucksvollen Zügen, denen sie sich erinnerte schon einmal begegnet zu sein.

Es war der uns bereits bekannte Prediger, Herr Waller, der, da Julian's kränkliche Reizbarkeit gerade in den letzten Wochen bedeutend gewachsen war, seine Wohnung ganz im Schlosse genommen hatte, um dem geliebten Zögling jeden Augenblick in möglichster Nähe zu sein.

Herr Waller, dem der Ausdruck der Ueberraschung in Angelica's Zügen nicht entgehen konnte, führte sie mit weltmännischer Gewandtheit, zugleich mit einer Sicherheit, welche deutlich verrieth, wie sehr er sich hier zu Hause fühlte, zum Sopha.

Ich begreife, sagte er, vollkommen, gnädiges Fräulein, die Ueberraschung, mit der Sie Sich im Hause Ihres Vaters, statt des väterlichen Grußes, den Sie erwarten durften, von einem Fremden bewillkommt sehen. Denn wenn ich selbst auch während meines Aufenthaltes in der Hauptstadt Gelegenheit hatte, mich in dem Glanz Ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit zu sonnen, so war und ist der Prediger Waller doch ein viel zu unbedeutender Mensch, als daß er hoffen dürfte, auch Ihnen im Gedächtniß geblieben zu sein.

Herr Waller? erwiederte die junge Dame, in einem Ton, der nur ihre wachsende Ueberraschung verrieth; ob dieselbe eine unangenehme oder angenehme, ja ob es ihr am Ende wol gar lieb sei, dies erste Zusammentreffen statt mit ihren Aeltern selbst, nur mit dem anerkannten Freund und Vertrauten derselben zu haben, war ihr noch nicht anzumerken, selbst nicht für das scharfe Ohr des Predigers. In der That jedoch war das Letztere der Fall: trotz aller löblichen Vorsätze, die sie gefaßt, und ohne daß sie es sich selbst eingestehen mochte, hatte sie dennoch eine große Scheu vor dem ersten Wiedersehen ihres Vaters – und eine vielleicht noch größere vor dem Zusammentreffen mit ihrer Stiefmutter; es war ihrem Herzen eine ordentliche Erleichterung, daß die peinliche Scene sich noch um etwas hinausschob. Auch durfte sie hoffen, von Herrn Waller zuerst und am vollständigsten unterrichtet zu werden von dem, was ihr am meisten am Herzen lag, vom Ergehen ihres Bruders.

Ich habe um Verzeihung zu bitten, Herr Waller, fuhr sie fort, daß ich Sie nicht sogleich wiedererkannte. Aber das Licht blendete mich – und außerdem war ich allerdings nicht darauf vorbereitet, hier irgend Jemand anders zu treffen, als den Herrn Commerzienrath und seine Gemahlin. Ich entsinne mich, setzte sie mit verbindlichem Lächeln hinzu (denn dieser Mann hatte ja das Schicksal ihres Bruders zunächst in Händen; seinem Rath, wußte sie, folgte ihr Vater in Allem, was die Erziehung Julian's betraf, mit blindem Vertrauen: wie hätte sie gegen ihn nicht sollen freundlich sein?) Ich entsinne mich jetzt sehr wohl, schon früher in der Gesellschaft mit Ihnen zusammengetroffen zu sein – und vor allem, wie könnte ich denn wol den Namen unsers beliebtesten Kanzelredners vergessen haben?

Dem Sie aber, auch wenn er wirklich der beliebteste gewesen wäre, gleichwohl selten oder niemals die Ehre Ihrer Zuhörerschaft gegönnt haben, erwiederte der Prediger mit feinem, doch gutmüthigem Lächeln. Irre ich nicht, so war Fräulein Angelica im Hause meines würdigen alten Freundes, des Professor Ferber – ein vortrefflicher Mann, ein Kernmann, unterbrach er sich selbst unter lebhafter Betheuerung, indem er sah, wie bei dieser Wendung des Gesprächs ein gewisses Befremden in Angelica's Antlitz aufstieg, das von dem frühern sehr merklich unterschieden war: wären Alle, die das erhabene Wort der Humanität im Munde führen, zugleich so ausgezeichnete praktische Muster derselben, wie unser verehrungswürdiger Freund Ferber, o wahrhaftig, unser Freund hätte Recht, und wir Prediger, mitsammt Kirchen und Kirchengehen, wären in der That ziemlich entbehrliche Leute. Ich weiß, setzte er begütigend hinzu, da er noch immer eine Wolke auf Angelica's Stirn bemerkte, die Wohnung unseres Freundes liegt etwas entfernt von der Kirche, in der ich damals zu predigen pflegte, und außerdem fühle ich mich auch frei von der schwachherzigen Eitelkeit so vieler meiner Amtsbrüder, die es als eine Beleidigung nicht blos gegen sich, o nein, gegen Gott selbst betrachten, wenn man nicht fleißig zu ihnen in die Kirche geht. Ueberhaupt, theures Fräulein, da der Zufall nun einmal gewollt hat, daß gleich unser erstes Gespräch diese Wendung genommen, so gestatten Sie mir die Versicherung, daß ich in dem Hause Ihres Herrn Vaters niemals der Prediger, immer nur der Mann Waller bin, der aus Kräften bemüht ist, das Vertrauen, mit welchem Ihr Herr Vater ihn beehrt, immer nur zum Besten dieses Hauses und aller, ja gewiß aller seiner Glieder zu benutzen.

Dies Vertrauen, fuhr der Prediger fort, da er sah, wie Angelica die großen klaren Augen noch immer fragend auf ihn gerichtet hielt, mag Ihnen denn auch erklären, meine Gnädige, wie ich zu einem Auftrag gekommen bin, der Sie allerdings mit Recht befremdet; daß ich ihn angenommen, kann nur eben jenes Bestreben entschuldigen, dessen ich Sie so eben versicherte. Ihr Herr Vater – und hier ward seine sonst so klare, feste Stimme ein Wenig unsicher: aber Angelica merkte auch sehr wohl, daß ihm nichts daran lag, diese Unsicherheit zu verbergen, im Gegentheil, sie sollte sie merken …

Ihr Herr Vater, sagte der Prediger, ist durch ein plötzliches Geschäft genöthigt gewesen, noch mit Anbruch der Nacht über Land zu reisen. – Sie wissen ja wohl, gnädiges Fräulein, wie viel Noth die reichen Leute mit ihrem Reichthum haben, und wie wenig es ihnen vergönnt ist, sich jener Behaglichkeit und Ruhe hinzugeben, die das bescheidene Glück des Mittelstandes jedem wahrhaft fühlenden Herzen so theuer macht. Ihre Frau Mutter – die Frau Commerzienräthin, verbesserte er sich selbst, ist … unpäßlich. So wurde mir der Auftrag, Sie im Namen Ihrer Aeltern beim Wiedereintritt in das väterliche Haus zu begrüßen: ein Auftrag, zu dem ich, Ihnen gegenüber, freilich kein anderes Anrecht habe, als nur dies, daß ich der Erzieher, ich wage zu behaupten, der Freund Ihres Bruders bin.

Angelica athmete hoch auf vor Freuden, als sie ihren Bruder nennen hörte.

Und wie geht es meinem theuren, theuren Bruder? rief sie: ach Herr Waller, wenn das wirklich so ist, wie Sie sagen, wenn Sie sich wirklich den Freund meines Bruders nennen dürfen, wie wollt' ich Ihnen dankbar sein!

Ihre Augen leuchteten, indem sie dies ausrief, und unwillkürlich, in der schönen, edlen Aufwallung ihres schwesterlichen Herzens, streckte ihre Hand sich dem fremden Manne entgegen.

Herr Waller verneigte sich, ohne ihre Hand anzunehmen. Aber auch aus seinen Augen leuchtete eine Rührung, auch in seiner Stimme lag ein Ausdruck von Wärme und Herzlichkeit, die Angelica's ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, indem er ihr folgendermaßen erwiederte:

Nein, sagte er, theures Fräulein, so beschämend es für mich ist, so muß ich dennoch, so gefragt, wie Sie mich fragen, wol nur eingestehen, daß ich zu viel gesagt und mich einer Auszeichnung gerühmt habe, die ich wol innigst wünsche, aber noch lange nicht verdiene. Julian liebt mich noch nicht wirklich, kann mich noch nicht wirklich lieben als seinen Freund: nur erst Ersatz bin ich ihm eines Freundes den auch Sie lieben und verehren, theure Angelica – ach, unser edler, wackrer Leonhard …

Herrn Waller's Stimme verhallte hier so leis, so ehrerbietig – Angelica, die mit aller Zärtlichkeit einer reinen, dankbaren Kinderseele an dem verehrten Lehrer hing, hätte aufjauchzen mögen vor Freuden über das Zeugniß, das dem verehrten Manne hier gestellt ward. Zugleich aber konnte sie sich einer gewissen innern Beschämung nicht erwehren. Zwar hatte sie in den Kreisen der Hauptstadt jederzeit nur das Beste von Herrn Waller gehört, selbst auch von solchen, die, wie der Professor, in dessen Hause sie gelebt hatte, die kirchliche Richtung desselben nicht theilten. Nichts desto weniger jedoch, seit sie Herrn Waller im Schlosse ihres Vaters wußte, seit sie wußte, daß Julian seiner Leitung übergeben war, hatte sie sich von einem gewissen Mistrauen, einer gewissen vorgefaßten Meinung gegen ihn nicht frei machen können. Wie Unrecht, dachte sie jetzt, hab' ich dem Manne gethan, und wie verkehrt war es von mir, den Ausdrücken, in denen Julian von ihm schrieb, einen geheimen Rückhalt von Kälte und Mistrauen unterzulegen, die gewiß nirgend existirten, als nur in mir selbst! Er liebt meinen Bruder, er spricht mit Ehrerbietung von Leonhard – nein, gewiß nicht, das kann kein böser Mensch sein! So natürlich war es diesem reinen, kindlichen Herzen, von allen Menschen immer nur das Beste zu denken, und so schwer fiel es ihr selbst, gegen irgend Jemand Argwohn oder Mistrauen zu hegen, daß sie sich ordentlich erleichtert fühlte, wie von einer Last, da sie Herrn Waller so ganz anders fand, so viel milder, menschlicher, als sie ihn vermuthet hatte. Und so war es denn mit dem Ausdruck herzlichster, reinster Freude, daß sie ihm antwortete.

Ah Herr Waller, rief sie, wie dank' ich Ihnen dies Wort, und wie freut es mich, daß auch Sie den werthen Leonhard in seiner Vortrefflichkeit anerkennen! Nun wird, nun muß ja noch Alles gut werden! Nicht wahr? es ist nicht so, wie man mir in der Stadt erzählte? Sie haben Herrn Leonhard nicht angezeigt? er ist nicht abgesetzt von Amt und Brod? und auch, daß er draußen im Hirtenhause wohnt, mein guter Leonhard mit seiner braven tüchtigen Schwester, und mit Hunger und Elend kämpft, auch das ist nicht so?

Der Prediger hatte sich während ihrer Frage erhoben und war, die Hände auf dem Rücken, das Haupt nachdenklich vorn übergeneigt, einige male vor ihr auf und niedergegangen. Endlich, in ehrerbietiger Entfernung, stand er vor ihr still und die dunkeln schwärmerischen Augen fest auf sie gerichtet, mit gedämpfter Stimme, die um so unwiderstehlicher zu Herzen drang:

Es soll nun einmal, wie es scheint, sagte er, Alles ungewöhnlich sein in dieser Unterredung, wie die Stunde, in welcher sie stattfindet. Sie tragen einen schönen Namen, Angelica, und der Mund der Leute hat ihn längst richtig gedeutet: auch uns werden Sie als ein Engel des Friedens und der Versöhnung kommen. Es sind viele Verhältnisse in diesem Hause und in seiner Nachbarschaft, die an innerer Unklarheit, auch wol manche an innerer Ungesundheit leiden; wir bedürfen eines Gestirns, das mit siegreichem Aufgang die Nebel niederkämpft und die Rinde löst, die sich hier zwischen die Herzen gelagert hat. Lassen Sie mich hoffen, Angelica – und verzeihen Sie diesmal meinem Stande, wenn meine Worte zudringlich erscheinen, er soll Ihnen nicht oft lästig fallen, ganz gewiß nicht – lassen Sie mich hoffen, daß Sie dieses Gestirn sein werden …!

Ich brauche, fuhr er fort, indem seine Stimme sich wieder zu ihrer alten Festigkeit erhob, Ihnen nicht erst zu sagen, gnädiges Fräulein, welche Verhältnisse es sind, die ich im Sinne habe. Auch das mit Leonhard gehört dazu. Die letzten beklagenswerthen Ereignisse, die aber bei alledem, ich versichere Sie! nur vorübergehende Irrungen sind und sich ganz gewiß in Kürze aufs Glücklichste lösen werden, haben den vortrefflichen Mann einigermaßen verbittert. Der Kirche und ihren Dienern schreibt er zu, was doch in der That nur Ausfluß jener Beamtenherrschaft ist, unter der wir Alle seufzen. Weltliche wie Geistliche. Mit Ihrem klaren freundlichen Sinn werden Sie auch das ins Gleiche stellen und den verbitterten Mann sich selbst und seinen Freunden wiedergewinnen. O was es für eine Qual ist, rief er, mit diesem Beamtenthum und seinen todten, herzlosen Formeln! Ich darf das zu Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, ohne Besorgniß, mißverstanden zu werden nach der einen oder der andern Seite; denn ich weiß, zu welchem verständigen Freimuth mein verehrter Freund, der Professor, Sie auch in diesem Stücke erzogen hat. Hat der gute Leonhard sich wirklich etwas zu Schulden kommen lassen, so wird es ein Irrthum, zum Höchsten eine Nachlässigkeit sein; man verweise sie ihm, aber man entziehe ihn nicht einem Beruf, in dem er soviel Gutes und Nützliches leistet. Ein Lehrer, der das Herz seiner Schüler so an sich zu knüpfen weiß, der solche Bande des Vertrauens und der Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler zu flechten versteht, wie dies zwischen Leonhard und Ihrem Bruder der Fall ist, der, unter allen Umständen, muß ein vortrefflicher Lehrer sein. Julian muß Leonhard's Unterricht wiedergegeben werden – was sage ich? seinem Unterricht? Vielmehr seiner ganzen Führung, er kann nie eine bessere finden. Ich selbst würde längst darauf gedrungen haben, wenn nicht theils mein amtliches Verhältniß im Wege stände, und wenn andererseits mein Einfluß in diesem Hause größer wäre, als er trotz allen Anscheins ist. Aber von Ihnen, der einsichtigen, liebevollen, geliebten – ach, wie geliebten Schwester! erwarte ich Rath und Beistand in dieser Sache.

Angelica, indem das Gespräch sich jetzt wieder auf ihren Bruder wendete, erschrak ordentlich vor sich selbst und wußte sich nicht zu erklären, wie es nur jemals von ihm, diesem vorzüglichsten Gegenstand ihrer Sehnsucht und Sorge, hatte abkommen können.

Und nun, rief sie, wenn ich bitten darf, von nichts Anderm mehr, als nur von meinem Bruder! Wie geht es ihm? wie ist seine Stimmung? wie seine Gesundheit? Sie können sich nicht vorstellen, Herr Waller, wie ich mich um ihn ängstige und sorge!

Herr Waller ging wiederum schweigsam einige male auf und nieder.

Sie werden nicht von mir verlangen, gnädiges Fräulein, sagte er endlich, daß ich Ihnen schmeichle, auch in dem nicht, was Ihrem Herzen am theuersten. Herr Commerzienrath Wolston ist ein einsichtiger und kluger Mann, aber das Geheimniß der Erziehung, fürchte ich, versteht er bei alledem nicht. Auch hierüber erlassen Sie mir gewiß gern jede weitere Ausführung; Sie wissen nicht nur, sondern haben wol gar selbst an Sich erfahren, was ich meine. Die Frau Commerzienräthin – Sie werden sie kennen lernen, sie ist eine feine, gebildete Dame, von viel zarter Empfänglichkeit, und ich kann nicht anders sagen, als daß sie auch in dem Verhältniß zu ihrem Stiefsohn sich als solche zeigt. Aber bei alledem ist das hier im Hause die Luft nicht, in der ein Gemüth, wie das Ihres Bruders, gedeihen kann; er muß heraus aus dieser bangen Einsamkeit, muß wieder einen Gefährten bekommen, einen Jugendgenossen. Noch (unterbrach er sich selbst, da Angelica ihn zweifelnd ansah) fürchte ich nicht, daß seine Kränklichkeit einen ernstern Grund hat – noch nicht, auf mein Wort, theuerstes Fräulein –! Aber wenn die Richtung verfolgt wird, die man mit Julian's Erziehung eingeschlagen, so wäre es immerhin möglich, daß es Ernst mit seiner Krankheit würde. Ihrem Herrn Vater natürlich darf ich mit offenen Einwendungen dieser Art nicht kommen; er ist ein Mann von sehr festem Willen, der nur den Argwohn zu fassen braucht, als wolle man ihn lenken, so genügt das ganz gewiß, ihn völlig unlenksam zu machen. Der bloße Rath eines Mannes, eines Freundes ist hier zu schwach, hier bedarf es jener zarten, leisen und dabei so unwiderstehlichen Einwirkung, die nur eine Tochter üben kann. Theure Angelica, es ist nun einmal mein Schicksal heut, daß ich Ihnen immer ungeschickt und zudringlich erscheine: sei es darum! ich will ja nichts für mich, ich will ja gern in dem Dunkel der Vergessenheit bleiben, in dem ich seither bei Ihnen gestanden habe. Aber dies Eine noch lassen Sie mich frei aussprechen: es sind – Mishelligkeiten zwischen Ihnen und Ihrem Herrn Vater, es ist nicht ganz das Verhältniß zwischen Ihnen, wie es sein sollte, wenn auch aus keinem andern Grunde, so doch gewiß schon um des Andenkens willen, das Sie einer theuren Todten bewahren und das durch die Fortsetzung Ihrer Mishelligkeiten nur gefährdet werden kann …

Wieder war das Gespräch hier an einer Wendung, welche Angelica, trotz ihrer großen Unbefangenheit und Gutmüthigkeit, dennoch nicht behagte.

Sie scheinen sehr genau unterrichtet zu sein, sagte sie, indem sie jetzt ihrerseits sich vom Platze erhob, von allen Zuständen dieses Hauses. Umsomehr muß es mich überraschen, daß Sie mit dem gelinden Ausdruck Mishelligkeiten bezeichnen, wo ich doch, mit widerstrebendem Herzen, Gott weiß es! genöthigt bin, mein Recht und meine Unabhängigkeit zu vertheidigen. Sie warnen mich, das Andenken meiner unglücklichen Mutter nicht aufs Spiel zu setzen – ich verstehe Ihre Anspielung sehr gut, Herr Waller. Aber erlauben Sie auch mir jetzt Sie zu versichern, daß weder ich noch meine arme selige Mutter es sind, die diesen Streit zu scheuen haben, und daß, wenn Sie doch nun einmal, wie ich aus Ihrer Vertrautheit mit meinen Verhältnissen schließen muß, mit dem Wortlaut jenes angeblichen Testaments bekannt sind, Sie sich auch selber sagen müssen …

Halten Sie ein, gnädiges Fräulein! rief der Prediger, indem er abwehrend einige Schritte zurücktrat: halten Sie ein, und machen Sie mich nicht selbst erst, wider Absicht und Willen, zum Mitwisser eines Geheimnisses, von dem ich, mein Wort zum Pfand! bis zu diesem Augenblicke nichts weiß, noch bin ich lüstern darnach, es zu wissen. Die Zeiten, wo die Geistlichen die Vertrauten der Familien waren, sind ja vorüber, und Sie wollen mir Glauben schenken, daß ich am wenigsten darnach trachte, sie zu erneuen, zumal in weltlichen Dingen. Ich trage schwer genug, setzte er mit einem heimlichen Seufzer hinzu, an meiner eignen Last, wenn auch sie freilich keine weltliche ist. – Auch hatte ich bereits die Ehre Ihnen zu sagen, daß ich hier niemals der Geistliche bin, es wäre denn, daß auch dieser einmal verlangt werden sollte, woran ich jedoch fürs Erste noch zweifle, sondern immer nur der Freund, der geduldete Freund (setzte er mit einer Verbeugung hinzu) des Hauses: und die erste Regel der Freundschaft bekanntlich ist, daß sie sich in kein Vertrauen eindrängt, das ihr nicht freiwillig entgegengetragen wird. Es ist längst Mitternacht vorüber, Sie werden der Ruhe bedürfen, gnädiges Fräulein, und ich selbst habe morgen, am Sonntag, den heiligen Pflichten meines Amtes zu genügen. Dennoch, so spät diese Stunde auch ist, und auf die Gefahr hin, eine Theilnahme zu verscherzen, die ich freilich noch niemals besessen, gestatten Sie mir meinen Satz zu vollenden. Wie es sich auch mit dem verhalte, was ich vorhin – irrthümlich, wie ich jetzt belehrt bin – als Mishelligkeit bezeichnete, und ohne auch mit dem leisesten Gedanken nur die Ehrfurcht zu verletzen, die ich Ihren Geheimnissen schuldig bin, kann ich gleichwohl nicht umhin, Sie zu ersuchen, gnädiges Fräulein: kommen Sie Ihrem Herrn Vater mit einiger Freundlichkeit entgegen! machen Sie den Versuch wenigstens, jenen Ton anklingen zu lassen, der vielleicht seit lange nicht, vielleicht noch niemals zwischen Ihnen erklungen ist – ohne Ihre Schuld, gnädiges Fräulein, ich weiß es: den Ton kindlicher Verehrung, väterlicher Herzlichkeit! Suchen Sie vor sich selbst zu vergessen, was eigentlich die trübe Veranlassung dieser Heimkehr ist, und lassen Sie auch hier, wenn es selbst nur zur Probe sein sollte, jene Sonne der Freundlichkeit und des Wohlwollens scheinen gegen Jedermann, durch die Sie in allen andern Verhältnissen die Freude und der Stolz Ihrer Umgebung gewesen sind. Es wird Ihnen schwer werden, gewiß: denn ich sehe Ihrer schönen Stirn an, wie schwer es Ihnen jetzt schon fällt, nur den zudringlichen Schwätzer zu Ende zu hören, und schließe daraus auf die Schwere einer Kränkung, die ein so sanftes Herz in so ungeduldigen Zorn versetzen konnte. Aber ich lasse doch nicht ab, und bitte doch wieder und immer wieder: bringen Sie das Opfer, theures Fräulein! bringen Sie es für Einen, der sich in diesem Augenblick in unruhigen Träumen umherwirft, auf dessen Lippen im Schlummer selbst Ihr Name schwebt, der keine andere Hoffnung und keine andere Erretterin hat, als Sie – bringen Sie es, gnädiges Fräulein, um Ihres Bruders willen, dessen ganzes Glück und ganze Zukunft abhängt von dem Frieden, den Sie in diesem Hause werden herzustellen und zu erhalten wissen!

So verletzt Angelica sich bei dem Anfang der Rede gefühlt hatte, so wenig konnte sie sich doch jetzt, beim Schluß derselben, der innigsten Rührung erwehren, mit so viel lebendiger Wärme, so viel herzlicher, ungekünstelter Dringlichkeit, zugleich so viel Bescheidenheit und Würde flossen die Worte von der beredten Lippe des Predigers.

Sie sprachen nur aus, erwiederte sie, mit eben so sanfter als fester Stimme, was ich mir selbst gelobt habe, noch bevor ich dieses Haus betrat. Weil es aber immer gut ist, setzte sie halb scherzend hinzu, für uns schwache Sterbliche, wir legen unsere Gelübde noch einmal und öffentlich vor Zeugen ab, gut denn, so verspreche ich es Ihnen: ich will mich nach Kräften bemühen, alles Unrecht zu vergessen, das mir aus diesem Hause theils geschehen ist, theils angedroht wird, und will ganz solche ergebene, liebevolle, folgsame Tochter zu sein suchen, als ob meine arme Mutter noch am Leben und Herr Wolston wirklich mein Vater wäre – Alles, wie Sie gesagt haben, um meines Bruders willen. Wann darf ich ihn sehen? und ist er von meiner Zurückkunft unterrichtet?

Julian's Zustand, erinnerte der Prediger nicht ohne Verlegenheit, ist leider seit einigen Wochen von der Art, daß wir ihn vor jeder heftigen Aufregung behüten müssen, selbst auch jeder freudigen. Bis zu diesem Augenblick weiß er von Ihrer Zurückkunft noch nicht. Aber wie er sich täglich, in Schlaf und Wachen, mit Ihnen beschäftigt und wie Sie unausgesetzt den Gegenstand seiner liebsten Unterhaltung bilden, so wird es nur einer geringen Vorbereitung bedürfen, ihn stark genug zu machen für die Freude, die ihm bevorsteht; ich hoffe, daß Sie ihn noch morgen vor Mittag in die Arme schließen sollen.


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