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Viertes Kapitel.
Die Ringe

Unter diesen Umständen war Julian denn auch durch Reinhold's Weigerung beiweitem nicht so überrascht worden, als Angelica es befürchtet hatte, und als sie selbst es im ersten Augenblicke gewesen war. Im Gegentheil, hatte er gesagt, er habe seinen Freund deshalb nur um so lieber. Wenn er selbst auch kaum noch ein Jüngling, ja nur noch ein Knabe sei, und sogar keine Hoffnung habe, jemals zum Manne heranzureifen, so empfinde er in seinem Unverstande doch so lebhaft wie Einer, daß die Ehre das Höchste des Mannes sei und daß keine Freundschaft, keine Zärtlichkeit, kein Mitleid selbst dem Manne jemals so über den Kopf wachsen dürfe, daß er darüber seine Ehre und seine Selbständigkeit in Gefahr setze. Seine Schwester habe es gut mit ihm gemeint und er danke ihr dafür herzlich: aber Reinhold habe besser gewußt, was ihnen Allen wirklich gut sei. Was ihm zum Glücke denn noch fehle, seitdem er seine Schwester leibhaftig in den Armen habe, diese Schwester, in deren treuem, liebevollem Herzschlag er zugleich das Herz des Freundes pochen fühle? So glücklich, wie er jemals auf Erden werden könne, sei er jetzt, glücklicher sogar, als er jemals zu werden gehofft; ein Tropfen mehr noch in diesen Becher der Freude würde das Gefäß selbst zersprengen. Angelica möge Reinhold nur ruhig gewähren lassen, es sei ihm selbst keine Entsagung; schon längst habe er sich ja daran gewöhnt, seine Freunde nur aus der Entfernung, nur wie vom Dämmer des Jenseit her zu lieben, ja sie selbst müßten, unwissend, dem Geisterrufe seines Herzens folgen, und müßten Nachts vor sein Bette treten, in unbelauschtem, traulichem Geschwätz die langen Stunden mit ihm zu verplaudern. Was er noch weiter brauche? und wenn es ja noch einer Verständigung zwischen Reinhold und ihm bedürfe, welches Herz ihre leisesten Gedanken besser verstehe, welcher Mund sie lieblicher aussprechen könne als Angelica's? –

Er hatte heimlich drei ganz gleiche Goldreife anfertigen lassen, mit Locken seines Haares; die wollten sie gemeinsam tragen, er, seine Schwester und Reinhold, und wie ein Jeder von ihnen seinen Ring anblickte, würde das Herz des Andern es empfinden, und sie würden beisammen sein, unsichtbar, und sich verstehen ohne Worte, selbst dann noch, wenn er schon längst im Grabe läge.

Es war kein leichter Gang gewesen für Angelica, da sie sich eines Tages aufmachte, im Auftrage ihres Bruders den Ring an Reinhold zu überreichen: die Erinnerungsgabe eines Lebenden, der sich selbst bereits unter die Todten zählte, ausgehändigt an einen Freund, der im ersten, freudigsten Augenblick eines langersehnten Wiedersehens ebenfalls kein anderes Geständniß für sie gehabt hatte, als daß er nur noch ein todter Mensch sei und daß Glück, Muth, Hoffnung seit Langem weit, weit hinter ihm liege …

Aeußerlich zwar war Reinhold in den letzten Monaten ungleich gefaßter und ruhiger geworden, als Angelica ihn an jenem ersten Sonntagmorgen gefunden hatte; das unselige Ereigniß, welches den Abend desselben Tages für ihn beschlossen, hatte eine merkwürdige und tiefgreifende Aenderung in ihm hervorgebracht.

Ueber den Vorfall selbst war kein Wort wieder gesprochen worden, nicht einmal zwischen Reinhold und seinem Vater; ebenso wenig über das verhängnißvolle Geheimniß, in welches Reinhold in jener Nacht eingeweiht worden. Den alten Großvater behandelte er mit derselben ehrerbietigen Ergebenheit wie früher.

Auch zur Wiederherstellung jener Zeichnungen und Modelle, die ihn ehemals so lebhaft beschäftigt und auf die er so kühne Hoffnungen gebaut hatte, machte er nicht den geringsten Versuch; nicht blos Lust und Muth, sondern selbst auch die bloße Erinnerung an diese Arbeiten schien völlig aus seiner Seele ausgelöscht. Wenn Leonhard oder Anna ihn nach dem Stande derselben fragten, that er in der Regel ganz fremd, als wüßte er gar nicht mehr, was sie meinten; wenn sie lebhafter in ihn drangen, so entschuldigte er sich theils mit den Bestellungen des geheimnißvollen Fremden, welche ihn an den Webstuhl gefesselt hielten, theils mit den Verhältnissen seines Hauses überhaupt.

Und allerdings waren diese auch jetzt noch immer traurig genug und wenig geeignet, Arbeiten und Pläne zu befördern, wie diejenigen, zu welchen namentlich die Schwester des Schulmeisters ihn antrieb. Die Krankheit der Tante hatte in Besorgniß erregendem Grade zugenommen. Es ist früher erzählt worden, in welche unheimliche Aufregung die Kranke, nach der ersten freudigen Begrüßung, durch die Ankunft des Engelchen versetzt worden war. Diese Scenen wiederholten und steigerten sich fast mit jedem Tage. Es war ein unerklärlicher Widerspruch in dem Benehmen der Kranken: so lange Angelica nicht an ihrem Bette saß, wollte sie vergehen vor Ungeduld und Sehnsucht nach ihr – und wenn sie nun gegangen kam und wenn ihr melodischer Gruß an das Ohr der Kranken schlug, was war es dann, was bedeutete es, daß diese auf einmal so wild in die Höhe fuhr, mit angstvollen Blicken jetzt das Engelchen zu sich heranzog, dann wieder weit von ihm rückte, dicht an die ärmliche Wand heran, jetzt sprechen wollte, jetzt wieder verstummte und endlich unter bitterlichen Thränen bat, Angelica möge sie allein lassen, sie sei jetzt nicht im Stande, es sei noch nicht die Zeit jetzt, mit ihr zu sprechen?

Und kaum wieder daß Angelica den Rücken gewendet, was wollten diese jammervollen Bitten, diese schmerzlichen Selbstanklagen, mit denen sie dieselbe wieder zurückzurufen suchte, um gleich darauf das alte Spiel mit ihr zu beginnen? Ueberall sonst, wo Angelica auftrat, verbreitete sie Heiterkeit und Freude um sich her; welch Geheimniß lag denn hier zu Grunde, durch welchen seltsamen Zusammenhang geschah es, daß die Nähe der jungen Dame gerade hier so anders wirkte, hier, wo sie mit so viel Ungeduld erwartet, mit so viel Freude begrüßt worden war?

Natürlich wurden die Kräfte der Kranken durch diese fortwährende peinliche Aufregung aufs Aeußerste erschöpft; es war nicht wahrscheinlich, daß sie nur den Winter überleben würde.

Aber um das Maß dieser Widersprüche voll zu machen: dieselbe Frau, die sonst so voll Duldung und Ergebenheit gewesen, über deren Lippe während der ganzen jahrelangen Krankheit kaum je eine Klage gekommen war, wie bangte sie jetzt vor dem Tode! wie hing sie, voll verzweifelter Begier, sich an jede leiseste Hoffnung! wie verwirrte sich, in grauenvollsten Bildern, dieser sonst so klare, so gottergebene Sinn, sobald der Gedanke des Todes vor ihre Seele trat!

Der Meister litt unsäglich bei diesen Leiden seiner Schwester. Allein auch seine Angst und Unruhe schien noch andere Quellen zu haben, als nur die zunehmende Krankheit der armen Lene. In stiller Nacht, wenn der Meister den Sohn längst in tiefem Schlummer glaubte, hatte Reinhold, wach gehalten durch den Kummer, der auch auf seinem Herzen lastete, den Vater gesehen, wie er aufrecht stand am Bette der Kranken und Worte mit ihr tauschte – von Sarg, Grab, Sterben – Worte, so dunkeln, so grauenhaften Sinnes, daß Reinhold sich gern überredet hätte, es wäre Alles nur ein Traum …

Und dann wieder ein ander Mal, an einem Abend, da der Vater weggegangen war, wie er sagte, zum Besuch beim Schulmeister – Reinhold hatte seinen eigenen Augen nicht getraut: aber dennoch war es so, er hatte es zu deutlich gesehen, der Mond schien zu hell und so vorsichtig die beiden Gestalten sich auch in den Schatten der alten Schloßmauer versteckten, so hatte das Auge des jungen Mannes sie dennoch erkannt: – den Vater in heimlichem, ängstlichem Zwiegespräch mit dem Sandmoll, demselben Sandmoll, den er übrigens so tief verachtete, der sich in seinem Hause nicht mehr durfte sehen lassen, ja an dem er fast schon einmal zum Mörder geworden war?! –

Auch auf der andern Seite des Hauses hatten Kummer und Trübsal ihre Wohnung aufgeschlagen. Die Besserung, welche Konrad in der ersten stürmischen Aufwallung seiner Vaterfreude seiner Frau gelobt hatte, war nur von sehr kurzer Dauer gewesen; noch ungezügelter als früher überließ er sich seinen bösen Neigungen. Die Fabrik besuchte er wenig mehr; wenn Margareth ihm Vorstellungen deshalb machte und ihre Besorgniß aussprach, er möchte, bei solcher Unregelmäßigkeit, die Arbeit in derselben wohl ganz verlieren, lächelte er verschmitzt: weshalb sie sich denn jetzt auf einmal so sehr für die Fabrik interessire? Sie möge nur ganz ruhig sein, Herr Wolston werde sich wohl hüten, ihn wegzujagen; und wenn er die Fabrik gar nicht mehr besuche, so müsse Herr Wolston ihn dennoch in Lohn und Brot behalten, dafür sei er ihr gut, er kenne seinen Mann und habe seine Mittelchen …

Auch war es allerdings seltsam, daß es ihm, trotz dieser wenigen Arbeit und trotz der wüsten Lebensweise, welche er führte, doch niemals an Geld fehlte. Wenigstens nicht für die Wirthin, die ihn seit einiger Zeit zu ihren respectabelsten Kunden zählte. Er spielte, zechte, schwärmte, wie kaum ein Anderer im Dorf. Daß Margareth inzwischen zu Hause mit der bittersten Noth zu kämpfen hatte, daran dachte er in seinem Leichtsinn nicht; genug, daß er dafür in der Schenke bei seinen Spiel- und Trinkgenossen in desto unbestrittenerm Ansehen stand. Freilich ging auch unter diesen allerlei seltsames Gemunkel über die Quellen, aus denen Konrad seinen Aufwand bestritt, besonders, da man auch ihn seit einigen Monaten in geheimnißvollem Verkehr mit dem alten Sandmoll erblickte.

Konrad hatte an diesem Gerede großes Behagen; es schmeichelte seiner Eitelkeit und gab zugleich seiner Schadenfreude Nahrung. Ich habe einen Drachen im Schornstein, rief er, indem er die Würfel klappern ließ und rechts und links die Gläser vollschüttete, daß sie überströmten: Das ist's, ihr Narren, und nun laßt nur meine Margareth erst mit einem tüchtigen Jungen niederkommen, ich sag' euch, Das soll einen Kindtaufschmaus geben, im Schlosse da drüben sollen sie es nicht besser können!

Wirklich war Dies bei ihm zu einer Art von fixer Idee geworden. War es die rohe, sinnliche Natur des Mannes, der selbst für die reinste und edelste Freude, welche dem menschlichen Herzen vergönnt ist, keinen höheren Ausdruck kannte, oder war es seine Eitelkeit, welche sich schämte, ein leichtfertig gegebenes Wort wieder zurückzunehmen: kurz, seitdem er einmal, halb im Rausche und gedrängt durch die Neckereien seiner Kameraden, die ganze Gesellschaft, wie sie sich in dem Wirthshause zu versammeln pflegte, zum Taufschmause eingeladen hatte, war er von diesem Gedanken nicht wieder abzubringen. Im Gegentheil, es war sein Lieblingsgedanke geworden, den er unermüdlich ausmalte, selbst auch vor Margareth's Ohren, und Das nicht selten in Augenblicken, wo das arme Weib Mangel am Nothwendigsten litt.

Margareth hatte es sich zum Gesetz gemacht, weder ihrem Vater noch ihrem Bruder jemals mit Klagen über ihren Mann beschwerlich zu fallen. Auch hatte der Meister, wenigstens dem Anscheine nach, für Alles, was auf der andern Seite des Hauses vorfiel, kein Auge; sogar die Großvaterfreude, welche ihm bevorstand, hatte ihn in kein besseres Verhältniß zu Konrad bringen können.

Reinhold freilich entging nichts von Allem. Allein da auch er sich längst hatte überzeugen müssen, daß alle gütlichen Vorstellungen an seinem Schwager verloren waren, so konnte die unglückliche Lage seiner Schwester nur dazu dienen, die Last seiner eigenen zu vermehren.

Und doch, wie schon gesagt, ertrug er dies Alles äußerlich mit der vollkommensten Fassung; als hätten die entsetzlichen Enthüllungen jener Nacht ihn auf einmal zum Manne gereift, war sein ganzes Wesen jetzt so fest, so ruhig, so gleichmüthig geworden, daß Angelica ihre herzliche Freude daran hatte. Ach, es war eine ähnliche Täuschung wie diejenige, in welcher das arme junge Mädchen sich in Betreff Julian's erhielt; auch hier ahnte sie nicht, welcher Abgrund unter dieser scheinbar so ruhigen Oberfläche sich verbarg. Wer mit allen Hoffnungen und allen Wünschen abgeschlossen hat, für den ist es freilich leicht, gefaßt und gleichmüthig zu erscheinen. Dies war Reinhold's Fall. Das unglückliche Geheimniß, welches sein Vater ihm in jener Nacht anvertraut, lag auf ihm mit Felsenwucht; fort und fort, im Innersten der Seele, arbeiteten seine Gedanken daran und vermochten es dennoch nicht zu lösen. Das war es, warum er jetzt so ruhig und still erschien: ganz andere Gedanken hielten ihn gefangen, über ganz andern Dingen, in unheimlicher Stille, brütete sein Geist; er hatte keine Zeit, sich um das Uebrige zu grämen. Nur mitunter, wenn er am Webstuhl seinem Vater gegenüber saß – mechanisch, von der Arbeit hinweg, irrte sein Blick hinüber zum Dach des Schlosses und unwillkürlich, wie gelähmt, fiel seine Hand nieder und das muntere Schnurren der Räder verstummte, daß der Vater verwundert in die Höhe sah: und nun begegneten sich die beiden bleichen, kummervollen Gesichter, begegneten sich in demselben Schmerz, derselben stummen, fürchterlichen Frage – ja wohl, da seufzte er tief auf, da, an diesem schmerzlichen Zucken des Herzens, an dieser Glut, die ihm da aus dem Auge blitzte, an dieser Faust, die sich unwillkürlich ballte, da fühlte er und mußte sich selbst eingestehen, daß seine Ruhe nur eine erlogene war, und daß dies dem Anscheine nach so schweigsame, so stille Herz im Gegentheil Dämonen beherbergte, vor denen er selbst sich entsetzte! –

Aber auch diese Dämonen schwiegen, sobald er mit dem Engelchen zusammen war; die beruhigende Macht ihrer Erscheinung, die an der kranken Lene auf so wunderbare Weise verloren ging, übte wenigstens auf Reinhold noch den ganzen alten Zauber. Mit schmerzlicher Ironie gedachte er jetzt selbst der verwegenen Wünsche, die er ehemals vielleicht genährt – sie waren vorbei, ganz vorbei jetzt – und mit desto offenerer Seele, von keiner Hoffnung, keiner Furcht mehr bewegt, gab er sich dem Glück dieser zauberischen Nähe hin. Wie ein Kranker, der mit dem Leben längst abgeschlossen hat, am Morgen vor seinem Tode noch einmal den schönen warmen Strahl der Sonne trinkt, noch einmal, zum letztenmal, das schon halbumflorte Auge an der Pracht der Schöpfung weidet, so innig, so andächtig und doch zugleich mit so ruhiger Entsagung hing Reinhold an der theuren Jugendfreundin. Hätte er noch einen Wunsch, eine Hoffnung genährt, o gewiß, er würde sich gerettet haben vor dem klaren, milden Glanz dieser Augen, die so sanft, so tief in seine Seele schienen. Jetzt aber, was hatte er zu fürchten? Er durfte so glücklich scheinen, weil er in der That so tief unglücklich war.

Auch den Ring, welchen Angelica ihm in Julian's Namen überbrachte, nahm er mit derselben ruhigen, beinahe heitern Fassung hin. Er hielt das Geschenk des Freundes wie ein Heiligthum; um kein Aufsehen zu erregen, trug er es auf der Brust verborgen, zunächst am Herzen. Und wenn er Angelica erblickte und sah den kleinen unscheinbaren Reif an ihrem Finger und fühlte den Druck des seinen auf seiner Brust, da war es ihm, als wäre er selbst an der Stelle des kranken Julian, ja als lägen sie Alle, Alle schon in der stillen, traulichen Gruft, und diese drei Seelen, so geschieden durch Schicksalsschluß und Eigensinn der Menschen, dürften frei und ungehindert, in seligem Entzücken, ineinanderfließen. –

Unter diesen Umständen konnte denn auch der Verkehr mit dem Hause des Meisters, so fleißig Angelica ihn auch erhielt, ihr im Ganzen nur wenig Trost in ihrer kummervollen Lage gewähren. Nur mit dem einzigen Reinhold war es ihr gelungen, das alte herzliche Einverständniß wiederherzustellen. Oder wenigstens glaubte sie es so, und Reinhold selbst, bei der ehrfurchtsvollen Ergebenheit, welche er der jungen Dame zollte, fand eine schmerzlich süße Befriedigung darin, sie in diesem Glauben zu erhalten.

Doch wurde ihm Das bald recht schwer gemacht, und zwar von Niemand geringeres als von Angelica selbst. Eines Herzens bedürftig, in das sie ihre Angst und ihre Sorgen ausschütten konnte, hatte sie mehr als einmal schon im Begriff gestanden, den ganzen Stand ihrer Angelegenheiten an Reinhold zu entdecken und bei seinem, wie es ihr schien, so klaren, so festen, so gemäßigten Sinne Rath und Beistand zu suchen in den mancherlei Zweifeln, von denen sie sich hin- und hergerissen fühlte.

Allein jedesmal wieder hielt eine ihr selbst unerklärliche Scheu ihr das Wort auf der Lippe zurück; so fest sie es sich immer aufs Neue vornahm, so unmöglich fiel es ihr dennoch, gegen Reinhold von der seltsamen Clausel des Testaments Erwähnung zu thun. Sie zürnte mit sich selbst deshalb und klagte sich, in ihrer kindlichen Einfalt, desselben Mangels an Vertrauen an, durch den Reinhold ihr beim ersten Wiedersehen so viel Kummer bereitet hatte. Aber der Instinct des Herzens war mächtiger als ihr noch so ernstlich gemeinter Vorsatz; und wenn ihr Leben von diesem Worte abgehangen hätte, sie hätte es dennoch nicht aussprechen können – zu Jedermann, wenn es sein mußte, selbst zu Herrn von Lehfeldt – aber nur zu Reinhold nicht!

Reinhold seinerseits hatte viel zu viel Ehrfurcht vor Angelica, als daß er auch nur durch die leiseste Frage, die zarteste Hindeutung hätte an ein Geheimniß rühren mögen, welches, wie er wohl merkte, Angelica absichtlich vor ihm verbarg. Auch hatte er seit jener unseligen Nacht eine sehr begründete Scheu vor allen vertraulichen Mittheilungen und Enthüllungen …

Auf diese Weise kam denn in das Verhältniß der beiden jungen Leute eine gewisse absichtliche Zurückhaltung, eine Spannung, möchten wir es nennen, wenn nicht auch dieser Ausdruck schon viel zu herb wäre, welche auch den Gleichmuth, den Reinhold äußerlich angenommen, allmälig zu erschüttern drohte und besonders dem Engelchen wie eine wirkliche Schuld auf dem Gewissen lastete.

Am allermeisten aber peinigte sie das seltsam räthselhafte Benehmen der kranken Lene. Daß die Geheimnisse, mit denen dieselbe rang, in genauem Zusammenhänge mit Angelica's eigenem Schicksale standen, Das unterlag für diese selbst keinem Zweifel mehr. Aber nur wie den Schlüssel dazu finden? da der Zustand der Kranken kein ernsthafteres Eindringen verstattete.

Aber gerade diese Geheimnisse, von denen das Engelchen sich auf Schritt und Tritt umgeben sah, bestärkten sie wiederum in dem Entschlusse, das Feld zu behaupten. Es lag ein gewisser trotziger Muth in der Natur dieses jungen Mädchens, der durch die Gefahren, von denen sie sich auf allen Seiten umlagert wußte, erst recht herausgefordert ward. Selbst von ihrem eigenen, so dringenden Interesse abgesehen, fühlte sie sich schon durch ihren Wahrheitssinn allein genöthigt, den dunklen, räthselhaften Mächten in ihrer Umgebung Stand zu halten, ja das eigene Interesse verschwand allmälig gegen das höhere, das unparteiische Interesse der Wahrheit. Das Testament der Mutter, diese Ueberzeugung stand in ihr fest, war falsch; sie durfte nicht nachgeben, durfte nicht vom Platze weichen, nicht blos um ihre eigene Ehre, die Ehre der tobten Mutter, nein, um die Ehre der Wahrheit selbst zu retten!

Unzählige Male, in den trüben, bangen Wochen, die auf diese Weise für sie dahinschlichen, gedachte sie des Traumes, der sie in der ersten Nacht, die sie im väterlichen Hause zugebracht, so gewaltig erschüttert hatte. Diese Besorgnisse und Zweifel, die sie unablässig hin- und herwarfen, diese Anschläge, Pläne und Intriguen, die sie rings um sich her in geheimnißvoller Thätigkeit wußte, ohne ihnen doch entrinnen zu können – ja wohl, das waren jene Räder und Schrauben, die ihr im Traume immer näher und näher gerückt waren und immer begieriger, immer unvermeidlicher mit eisernen Armen nach ihr geschnappt hatten; diese einförmigen, unthätigen Wochen, die sie hier verleben mußte, und die in unmerklichem Verlaufe sie der entscheidenden Stunde immer näher und näher führten, da war er ja, jener unabsehbare, endlose Meeresstrudel, der sie damals mit so unwiderstehlicher Gewalt in seine furchtbare Tiefe herabgespült hatte! Werden auch die übrigen Scenen jenes entsetzlichen Traumes sich verwirklichen? die übrigen alle – vielleicht nur bis auf die letzte?!


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