Theodor Hermann Pantenius
Die von Kelles
Theodor Hermann Pantenius

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Seit die alte Burg von Kongota stand, war es in ihr nicht so traurig hergegangen, wie seit dem Tage, an welchem Barbara als Gefangene ihren Einzug in dieselbe gehalten hatte. Die Stirn des Burgherrn lag in tiefen Falten, sein Erstgeborner sprach kaum ein Wort und selbst der leichtlebige Werner ließ den Lockenkopf hängen.

»Bei meiner Mutter Grab,« schwur der von Kongota, als er sich heute von der Morgensuppe, die alle schweigend eingenommen hatten erhob, »der Herrgott hat mich nicht zum Stockmeister bestimmt und wenn der Handel nicht morgen ein Ende hätte, ich schickte nach dem von Randen und bäte ihn, das Mädchen mit sich zu nehmen.«

Darauf ergriff er den neben ihm liegenden Schlüssel und stieg die beiden Treppen hinan, die zu dem Zimmer führten, in dem Barbara gefangen gehalten wurde. Am Fuße jeder Treppe hielt ein bewaffneter Diener Wache, aber sie hatten heute wie bisher nichts zu melden.

Der von Kongota klopfte an die Thür und schloß dann auf. Das Zimmer, das er betrat, sah nicht aus wie ein Gefängnis, sondern war reich und behaglich ausgestattet.

Als der Burgherr eintrat, erhob sich Barbara und verbeugte sich. »Wie habt Ihr geruht, Jungfrau? Habt Ihr einen Wunsch, den ich erfüllen kann, so nennt ihn mir.«

»Ich danke Euch, edler Herr,« war die Antwort, »ich wüßte nicht, worum ich Euch bitten sollte.« 381

Der Junker vermied es die Gefangene anzusehen, sondern ließ seinen Blick über die Wand hinter ihr hingleiten. Sie ihrerseits sah ihm fest ins Auge.

»Ihr habt über die Hausmeisterin nicht zu klagen?«

»Ich danke Euch edler Herr. Nein.«

»Dann lebt wohl.«

»Lebt wohl, edler Herr.«

Der Junker verließ das Zimmer und schloß die Thür hinter sich. »Du behältst doch die Ohren offen, Klaus,« sagte er, »daß du es gleich hörst, wenn das Fräulein klopft?«

»Ich höre es, wenn ein Brummer dort an die Fensterscheibe stößt,« erwiderte der Diener, »aber das Fräulein hält sich so still wie eine Tote.«

Der Junker blickte finster auf die Stufen der Treppe. »Wie eine Tote!« dachte er. »Die Arme! nach ein paar Tagen wird sie eine Tote sein.«

Er schüttelte sich, als ob er fröre und stieg die Treppe hinab. Er hatte das Mädchen gar nicht angesehen, aber ihr Bild verfolgte ihn und ihre Augen blickten ihn an, kalt, hart und herausfordernd, wo er ging und stand.

Er begab sich wieder in das Zimmer, von dem er ausgegangen war. »Um zwölf Uhr übernimmst du die Wache, Walter« sagte er.

Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu, als der Türmer ins Horn stieß. Die Herren begaben sich ans Thor und erblickten jenseits des Grabens eine verhüllte Frau und den Junker von Kelles. Als die Zugbrücke herabgelassen war und die Reiter sie hinter sich hatten, half Eilhard der 382 Dame aus dem Sattel. Die von Kongota erkannten jetzt, daß es Anna war.

»Was führt Euch zu uns, edles Fräulein und Euch edler Junker?« fragte Bruno Thedingsheim verwundert.

»Edler Herr,« nahm Eilhard das Wort, »es ist Euch nicht unbekannt, daß meine Base hier mit dem Mädchen, das Ihr gefangen haltet, in meiner Eltern Hause aufwuchs wie eine Schwester. Hat nun auch jene dadurch, daß sie wider alle Ehre mit jenem elenden Manne davonlief, gegen jede schwesterliche Liebe verstoßen und gehandelt, so will das Fräulein hier aus christlicher Liebe und Barmherzigkeit, ob sie gleich selbst durch ein heftiges Reißen im Gesicht arg geplagt wird und deshalb mehr ins Bett gehört denn auf den Zelter, sie doch nicht dahin fahren lassen, ohne ihr lebewohl gesagt zu haben. Sie richtet daher die ganz dringende Bitte an Euch, Ihr möchtet ihr zu der Gefangenen auf eine Stunde oder zwei Zutritt gewähren.«

Der Junker überlegte. So wie er Anna kannte, konnte aus diesem Besuch nur Heilsames erwachsen.

»Gnädiges Fräulein,« sagte er, »ich will Eure Bitte gern erfüllen und ich will wünschen, daß es Euch gelingen möge ihr das Herz zu öffnen, daß sie erkennt, wie sehr sie sich gegen alle göttliche und menschliche Ordnung vergangen und daß sie, wenn ihr letztes Stündlein kommt, es geschehe nun früher oder später – reuig hintritt vor den Richter über die Toten und die Lebenden. Hier Walter, geleite du das gnädige Fräulein hinauf und bleibe auf der Treppe, bis sie dich ruft.«

Der Junker ergriff den Schlüssel und ging voraus. Anna folgte ihm. 383

»Wie das Fräulein gewachsen ist und wie es sich in die Breite gestreckt hat,« sagte der von Kongota, indem auch er und Eilhard sich gegen das Schloß hin in Bewegung setzten, »ich hätte es bald nicht wiedererkannt«

»Das wackere Mädchen,« erwiderte Eilhard, »sie hat so heftige Schmerzen im Gesicht, daß sie kaum den Mund aufthun kann und hat doch den weiten Ritt nicht gescheut.«

»Gnädiges Fräulein,« flüsterte unterdes Walter Thedingsheim, »wenn Ihr bis zur Dämmerung oben bleibt, wird es gelingen. Ich habe die beiden blödesten Diener aufgestellt, die wir haben und Ihr seht jetzt wirklich fast so groß und breit aus wie Barbara. Wie habt Ihr das nur angefangen?« ^

Anna nickte nur. Ihr klopfte das Herz zum Zerspringen.

Der Junker stieß den Schlüssel ins Schloß, öffnete die Tür und Anna trat ein.

Bärbchen fuhr, als sie die Pflegeschwester eintreten sah aus ihrem dumpfen Dahinbrüten auf und eilte auf sie zu. »Anna,« rief sie, »dich schickt mir Gott, sie haben ihn doch nicht?«

Anna blickte sie traurig an. War das Mädchen bezaubert? Es lebte nichts in ihr, als »er« und immer wieder »er«.

»Nein, Bärbchen!«

»Gott sei Dank!« rief Barbara. »Wenn sie ihn bisher nicht fingen, wird er ihnen auch künftig entgehen. Nun will ich fröhlich sterben.«

»Bärbchen,« sagte Anna leise, »du sollst überhaupt nicht sterben.« 384

Barbara schüttelte den Kopf. »Laß dir nichts weißmachen,« erwiderte sie, »ich darf von meinem Bruder ebenso wenig Mitleid erwarten, wie der Hase vom Windhund.«

»Ich meine auch nicht, daß dein Bruder und die Deinigen dich verschonen werden, Bärbchen. Du hast sie allzu sehr beleidigt. Aber es sind andere da, die dir helfen wollen.«

Barbara blickte die Pflegeschwester mißtrauisch an.

»Und wer sind diese ›anderen‹?« fragte sie.

»Bärbchen,« begann Anna, indem eine zarte Röte sich über ihre blassen Wangen verbreitete, du hast von uns allen, die wir von klein auf mit dir zusammen den Löffel in die Suppe steckten, nichts wissen wollen, und bist deine eigenen Wege gegangen, bis sie dich hierher führten. Wir aber haben dich nicht vergessen und wollen alles daran setzen dich zu retten.«

»Und wer sind diese ›wir‹?«

»Elert, unser Jürgen, Walter Thedingsheim, der Pastor Westermann und ich. Wir haben diesen Anschlag gemacht. Wir beide, du und ich, müssen die Kleider miteinander wechseln. Damit ich breiter und stattlicher aussehe und man dich leichter für mich nehmen kann, habe ich drei Kleider über einander gezogen und gehe in Schuhen, in die wir etliche Bogen Papier schoben. Auch habe ich mich unter dem Vorgeben, daß mich das Gesichtsreißen plagt, dicht eingetuntelt. Du nimmst nun mein oberstes Kleid, bewickelst dir das Antlitz und trittst hinaus zu Walter Thedingsheim, der dich zu Elert führt. Wenn du thust, als ob du vor Weinen nicht reden könntest, wird der von Kongota sich nicht wundern, wenn du nicht antwortest, falls er 385 dich anspricht, und du kannst dir mit dem Thränentüchlein gut die Augen verdecken. Sobald ihr über die Zugbrücke seid, reitet ihr scharf zu auf dem Wege nach Kelles. bis ihr zu dem Kreuzweg kommt, an dem drei Trauerbirken stehen. Dort erwartet euch der Pastor, du kriechst unter das Leder seines Wagens und während wir nach Kelles reiten, bringt er dich, wenn am Morgen das Thor aufgemacht wird, in die Stadt, wo du in seinem Hause verborgen bleibst, bis die Luft frei ist und du über die See nach Finnland kannst. Dort liegt eine Stadt, die heißt Abo. In dieser Stadt lebt dem Pastor eine Schwester, die heißt Katzchen und ist eines Pfarrers Eheweib. Dort wird dich niemand suchen, und du kannst da leben bis an deinen Tod.«

Auf Bärbchens Wangen kam und ging das Blut. »Anna« rief sie, »es ist doch nicht möglich, daß Elert mir in den Sattel hilft, auf dem ich zu Bonnius reite!«

»Nein, Bärbchen,« war die Antwort, »das ist allerdings nicht möglich. Du mußt mir schwören, daß du dein Lebtag nichts mehr mit dem Schreiber zu schaffen haben willst.«

Barbara richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf. »Also dahinaus will der Anschlag?« rief sie, »dachte ich es mir doch. Und nun will ich dir eine Antwort geben, die soll rund und klar sein wie ein Juliapfel. Sage ihm, daß wenn hier die Folterbank wäre und das Rad, mit dem man mich von unten auf zu Tode stoßen sollte und dort er mit allen Gütern der Thedingsheim und mit des Ordens Tresekammer dazu, daß ich mir dann die Kleider vom Leibe risse und streckte mich auf die Bank und spräche zu des Scharfrichters 386 Knechten: ›Greift zu. Ich will euch so still halten wie das Lamm dem Schlächter.‹ Sage ihm das und thue dazu, daß jener ›Knecht‹, auf den er so hochmütig herabsieht, so fromm ist und so gut, so tapfer und so klug, so adelig und so groß, daß wer einmal in seinen Armen lag, tausendmal lieber den schmählichsten Tod erleidet, als daß er einem anderen angehört.«

»Du brauchst ihm nicht anzugehören, Bärbchen,« erwiderte Anna sanft, »er ist nicht hier, weil er um dich freien, sondern weil er dich retten will.«

»Ich aber will von ihm nicht gerettet werden, Anna. Er hat in Franz immer nur den ›schlechten Gesellen‹ gesehen, er hat die Pernauer Beredung gut geheißen und er meint, daß er von Natur besser sei als Franz. Ich will von ihm nicht gerettet werden.«

»Bärbchen,« sagte Anna traurig, »ich weiß wohl, daß du seine treue Liebe vergolten hast mit Haß und Hohn, aber all dein Spott hat nicht vermocht, dieses Feuer auszulöschen. Trotzdem ist er nicht hier, weil er dein begehrte. O weise uns nicht zurück, Bärbchen. Ich weiß wohl, daß dir ein mutiges, furchtloses Herz in der Brust schlägt, aber bedenke, was es heißt, sterben zu müssen. Sie werden Ernst machen, sie müssen Ernst machen, denn das was du über sie gebracht hast, liegt klar am Tage.«

Barbara warf den Kopf zurück. »Nenne das Kind beim rechten Namen, Anna,« rief sie trotzig. »Wenn's eine Schande ist, daß eine von Thedingsheim den besten adligsten Mann in Livland liebte, ja dann habe ich Schande über sie gebracht. Dafür aber will ich fröhlich in den Sack treten, und 387 wenn ich mit einer Wimper zucke, während sie ihn mir über den Leib ziehen, so sollt ihr recht haben und ich will eine schlechte Dirne sein, und er soll ein schlechter Geselle sein. Und nun genug davon Anna. Ich gehöre zu ihm, wie ein treuer Hund zu seinem Herrn. Läßt man mich los, so will ich die Welt durchlaufen, bis daß ich ihn finde.«

Anna blickte die Base traurig an. Sie hatte nur um Eilhards Willen mit schwerem Herzen in diesen Befreiungsversuch gewilligt, nicht weil sie den Ausgang fürchtete, sondern weil er sie in Lug und Trug verwickelte und nun sah sie sich so abgewiesen. Zugleich empfand sie ein tiefes Mitleid mit der unglücklichen Gefährtin ihrer Jugendjahre.

Barbara war bisher ganz von der Entrüstung beherrscht gewesen, welche Eilhards Forderung in ihr wach gerufen hatte. Erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, ein wie großes Opfer Anna selbst ihr bringen wollte. Sie umschlang die zarte Gestalt und drückte sie innig an sich. »Du Gute,« flüsterte sie »und du scheutest um meinetwillen nicht den Zorn der Herren! Habe tausend, tausend Dank! Danke auch Walter und sage ihm, ich wüßte wohl, was er heute zu Markt trug.«

»Bärbchen,« rief Anna, indem sie zurücktrat, »ich that es nicht um deinetwillen.«

Barbara ergriff Annas Hand. »Einerlei, Anna, ich habe es auch nicht anders verstanden, als du es meintest, aber ich danke dir doch. Und nun gehe Anna, die armen Junker werden mit kurzem Atem auf dich warten.«

Sie umarmte die Pflegeschwester und klopfte dann schnell entschlossen an die Thür. Als Walter Thedingsheim sie 388 verwundert öffnete, schob sie die Retterin mit sanftem aber festem Druck hinaus. »Danke auch Elert,« flüsterte sie im letzten Augenblick.

»Gnädiger Junker, Ihr habt vergessen, die Thür zu schließen,« rief der Diener, als der von Thedingsheim mit Anna die Treppe hinabstieg.

Der Junker kehrte um, verschloß die Thür, zog den Schlüssel ab und kehrte zu Anna zurück. »Um Gotteswillen, Fräulein, was ist das?« fragte er leise.

»Bärbchen weigerte sich, in unseren Anschlag zu willigen,« gab Anna ebenso zurück. »Sie will lieber sterben als von dem Schreiber lassen.«

»Das unselige Mädchen! Es weiß nicht, was es thut. Sie werden Ernst machen.«

»Sie weiß es, aber sie ist trotzdem geblieben.«

»Fräulein,« sagte der Junker, »wenn sie Euch nicht folgte, so hat sie es nicht besser verdient.«

Sie betraten das Zimmer, in dem der von Kongota, sein Sohn Werner und Eilhard beim Bier saßen. Als Eilhard Anna erkannte, wurde er totenbleich. »Um Gott Junker, was ist Euch,« rief der von Kongota. Eilhard raffte sich auf. »Willst du reiten, Anna?« fragte er.

Anna nickte und bald ritten sie davon.

»Der arme Junker,« sagte der von Kongota, indem er ihnen nachblickte, »irre ich mich nicht, so hätte er selbst auch gern Abschied genommen.«

Eilhard wandte sich, sobald sie außer Hörweite waren zu Anna. »Sie hat uns verschmäht?« fragte er.

Anna berichtete, wie Barbara ihren Antrag aufgenommen 389 und zurückgewiesen hatte. Eilhard hörte schweigend zu. Als Anna mit dem Gruß den eigentlichen Bericht geschlossen hatte, fuhr sie fort: »Es ist kein Zweifel, der Schreiber ist mit dem Teufel im Bunde und hat sie durch höllische Künste arglistig umgarnt und verzaubert. Wir können jetzt nichts mehr für sie thun, als beten, daß Gott und der liebe Heiland ihre Seele aus des höllischen Feindes Stricken erlösen mögen.«

Eilhard richtete sich in den Steigbügeln auf. »Hab' tausend Dank, Anna,« sagte er »für deine treue, tapfere Hilfe. Nun aber, sprich nie wieder von ihr. Für mich ist sie tot, gleichviel, welches Urteil die von Thedingsheim über sie finden. Ich will nie wieder etwas von ihr hören.«

Bei den Birkenbäumen am Wege nach Kelles fanden sie den Pastor und Jürgen Nötken. Eilhard ritt mit kurzem Gruß schnell an ihnen vorüber, Anna aber blieb bei ihnen und erzählte von dem Verlauf ihres Rettungsversuches.

»Gott sei Dank,« meinte Jürgen schließlich, »es wurde mir schwer genug, für die Dirne mein Leben in die Schanze zu schlagen, aber ich wollte es dir und Elert nicht anthun, daß ich euch im Stich ließ. Sie hat den Tod reichlich verdient, mag sie ihn finden.«

Der Pastor schüttelte zu dem Bericht den Kopf. »Ich dachte es mir wohl, daß, was mit Lug und Trug anfangen mußte, nur einen schlechten Fortgang haben würde, aber ich ließ mich von dem Junker fortreißen und dachte: Gott könne es wohl wollen, daß dem armen Mädchen eine Gnadenfrist gewährt würde. Wenn Ihr aber, gnädiges Fräulein, meint, der Schreiber könne die Jungfrau nur mit des Teufels 390 Hilfe bezaubert haben, so erwidere ich, daß wer aus so schönen Augen schaut und so stattlichen Leibes ist wie Bonnius, des Teufels in solchen Dingen wohl entraten mag. Auch kenne ich ihn gut und weiß, daß er mit dem Satanas nicht mehr zu schaffen hatte, als andere Leute auch, die sich gewöhnten, ihres Herzens Begehren allezeit nachzuleben. Daß aber die Jungfrau nicht von ihm, als ihrem herzallerliebsten Schatz lassen will, scheint mir erst recht nicht vom Teufel zu sein.«

»Wie?« rief Jürgen hitzig, »Ihr, ein Pastor, ein Diener Gottes, wagt es zu loben, daß die Dirne wider alle göttlichen und menschlichen Gebote mit einem Knecht ihres Oheims davonlief, sich selbst, uns, ihrem Geschlecht, dem ganzen Adel zur höchsten Schmach und Schande?«

»Ich lobe das ganz und gar nicht,« erwiderte Westermann, »und ich bin der Meinung, daß die Jungfrau dadurch, daß sie wider ihres Bruders und der Herrschaften von Kelles, als ihrer natürlichen Vormünder, Willen dem Schreiber gefolgt ist, sich arg vergangen hat, aber ich sollte meinen, daß die Leiden, welche durch Angst, Sorge, Kälte und Hunger bei währender Flucht über sie kamen, dieses Vergehen reichlich gestraft haben. Was endlich den Pernauer Beschluß anlangt, so kann ich darin nur eine ganz greuliche, hoffärtige, gottlose und teuflische Ordnung sehen, eine Ordnung wider alle göttlichen und menschlichen Gebote, sintemalen sich nirgends in der Schrift angegeben findet, daß eine oder ein paar Familien sich sollen zusammenrotten, Obrigkeit sollen vorstellen und mit dem Schwerte derselben sollen spielen dürfen wie Knaben mit Knippkügelchen, ob es gleich um Leib 391 und Leben geht und niemand sonst Richter und Kläger sein kann in einer Person.«

Die Antwort des Pfarrers versetzte Jürgen in den äußersten Zorn. »Daß mich aller Welt Plage bestehe,« schrie er, »wenn ich Euch nicht, wäret Ihr statt eines Kapaunes ein Hahn, den Kamm vom Kopfe schnitte und die Sporen von den Füßen, Euch frechem Lästerer des Adels und schändlichem Lügenschmied. Steigt in Euren Wagen, Pfaffe, und fahrt zu, oder Ihr sollt meinen Dolch in Euerem Dickwanst fühlen, so gewiß ich ein Ehrlicher vom Adel bin.«

Anna warf sich auf den Bruder und umklammerte ihn, der Pfarrer aber verzog keine Miene. »Stoßt zu, junger Mann,« sagte er, »stoßt zu, wenn Ihr kein Wortdrescher seid und mehr könnt als fluchen und zechen und Drohworte drechseln. Ich habe es nicht anders verdient, der ich mit meinem grauen Haar hier bei nächtlicher Weile auf der Landstraße mit jungen adligen Raufbolden ausreite und auf ihren Mut und der Weiber List traue, statt auf mein Gebet und den Herren Zebaoth. Laßt ihn fahren, Fräulein, ist es Gottes Wille, so soll er mit all seinen Dolchen und Schwertern nicht an mir zum Ritter werden.«

»Jürgen,« flehte Anna, »bedenke, was der alte Mann eben erst für uns gethan hat.«

»Das soll ihm der Teufel lohnen,« schrie Jürgen, »ihm und der Metze, die uns in alle diese Händel gebracht hat.«

Damit band er sein Pferd los, schwang sich hinauf und sprengte davon.

Anna blickte ihm eine Weile starr nach, dann brach sie weinend zusammen. Der Pfarrer hob sie auf und setzte sie 392 am Rande des Weges so nieder, daß sie mit dem Rücken an einem Baum lehnte. Dann hielt er mit beiden Händen die ihrigen. »Verzeiht, edle Jungfrau,« sagte er, »ich hätte das junge Blut nicht so reizen sollen, aber die Galle lief mir über, wie immer, wenn ich an jenen unseligen Beschluß denke.«

»Ach, lieber Pastor,« klagte Anna, »in welch einer argen Zeit leben wir, daß mein lieber, guter Jürgen sich an Euch so versündigen kann, eben jetzt, wo Ihr doch um unsertwillen so große Gefahren nicht gescheut, ja sogar eingewilligt habet, zu unserer größeren Sicherheit der Muhme die Unwahrheit zu sagen und mich von ihr zu erbitten, daß ich mit Euch nach Kelles führe. O, denkt deshalb nicht schlecht von ihm.«

Der Pastor schüttelte den Kopf. »Das ist ja das ärgste in arger Zeit,« sagte er, »daß auch die Guten arg werden. Und gilt das nicht auch von Euch und mir? Wenn einer uns vor einem Jahr gesagt hätte, daß wir einst ausziehen würden mit Lug und Trug an der Deichsel und mit Arglist und Verschlagenheit als Vorspann! Was hätten wir dazu gesagt? Das sei ferne, hätten wir erwidert. Nun aber ist es da. Wenn ein Leib krank ist und er wird nur geritzt, so gibt es eitel Geschwüre und Eiterbeulen, und es frißt und frißt weiter bis nichts da ist als nur Schwären und offene Wunden und der Mensch dahinfahren muß in seinem Gestank und in seinem Schmutz. Es ist nicht anders, wenn unser aller Seelen krank sind, und die gesunden Säfte, als: Frömmigkeit, Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit, Gehorsam, Keuschheit, Nüchternheit, weg sind und statt ihrer kamen: 393 Frechheit, Haß, Lüge, Zuchtlosigkeit, Begierde, Trunksucht. Da wird die Unart zum Laster, der Fehltritt zum Verderben, das Vergehen zum Verbrechen.«

Eilhard kam zurückgesprengt. »Jürgen erzählt mir eben, daß er in Unfrieden von Euch gegangen sei,« rief er. »Verzeiht ihm, Pastor, er ist hitzigen Gemütes. Ich aber danke Euch herzlich für Eure freundliche Hilfe. Ihr kommt jetzt natürlich mit nach Kelles. Kannst du reiten, Anna?«

Anna nickte. Eilhard half ihr in den Sattel, der Pastor stieg in seinen Wagen und alle eilten Kelles zu. Dort fanden sie Jürgen nicht vor.

»So mag es unter Strauchdieben hergehen, wenn sie vorher vergeblich im Busch lagen,« dachte der Pastor mit bitterer Beschämung.

Am anderen Morgen zogen die drei nach Dorpat. Von Barbara war mit keinem Wort mehr die Rede.

Als Anna die Tante aufsuchte, fand sie dieselbe in lebhaftem Gespräch mit dem Gatten. »Du mußt hin, Elert,« sagte sie. »Daß die von Thedingsheim dich einluden, mit zu Gericht zu sitzen über sie, ist eine Ehre, die sie dir bezeigen. Schlägst du sie aus, so werden sie das im Gedächtnis behalten.«

»Mögen sie,« erwiderte Herr Kruse. »Ich bin froh, wenn ich mit dem Handel nichts zu schaffen habe. Geht es gegen einen Feind, so will ich allezeit zu ihnen stoßen mit soviel Pferden als ich auftreiben kann, aber mit dem armen Mädchen mögen sie allein fertig werden.«

»Mit dem ›armen Mädchen‹!« rief Frau Katharina grimmig. »Sie hat unseren Sohn verschmäht und verhöhnt, 394 unseren Schreiber verführt, unser Haus und mein Geschlecht beschimpft, aber für dich ist und bleibt sie ein ›armes‹ Mädchen. Es ist nur gut. daß der von Randen nicht von deiner Art ist. Der glaubt nicht, daß die Schande aus dem Hemde ist, wenn es in Thränen eingeweicht wurde. Ihr anderen aber seid, wenn es sich nur um eine hübsche Larve handelt, gleich bereit zu verzeihen.«

»Was willst du denn?« rief der Stiftsvogt unwillig. »War nicht der ganze Adel im Sattel, sobald die von Thedingsheim ihre Briefe aussandten? Wären sie so schnell fertig gewesen, dem Moskowiter entgegenzutreten wie jetzt, wo es sich darum handelte, ein flüchtiges Mägdlein zu fangen, unser Dorf stünde heute noch.«

Damit erhob sich Herr Kruse und ging davon.



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