Theodor Hermann Pantenius
Die von Kelles
Theodor Hermann Pantenius

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel.

Am Abend vor dem Aufbruch nach Wolmar ging es im Kruseschen Hause bunt her, denn die Thedingsheim von Kongota, Kawelecht und Ülzen, sowie der von Randen wollten mit den Kruses zusammen reiten. Da auch die Frauen und Töchter der Junker in der Stadt weilten, so gab es eine große Gesellschaft. Anfangs war man in gedrückter Stimmung, aber bald brach der alte livländische Frohsinn wieder durch, und nach ein paar Stunden zechten die älteren Männer und tanzte die Jugend, als ob die Dörfer der Herren noch unverletzt dastünden und nie der Huf eines tatarischen Rosses livländischen Boden betreten hätte.

Barbara hatte anfangs ihr verschlossenes und zurückhaltendes Wesen beibehalten, als aber die schnell herbeigeholten Musikanten bliesen und die Füße der Tanzenden den Boden stampften, ergriff sie das unbezwingliche Verlangen, sich noch einmal in ausgelassener Lustigkeit zu ergehen. Bald kam es über sie wie ein Rausch und nie vorher schritt sie leichtfüßiger im Tanze einher, nie sprang sie höher als an diesem Abend. Die Augen, aus denen Frau Katharina auf ihre Nichte blickte, wurden immer größer und sahen immer verwunderter aus. War dieses Mädchen nicht schlechthin unbegreiflich? Während in so viel Monaten eine tiefe Falte nicht von ihrer Stirn verschwunden war, umspielte heute ein siegesgewisses Lächeln ihre roten Lippen und ihre sonst so ernst, ja traurig blickenden Augen leuchteten in ausgelassener 310 Lust. Und doch war sie nicht das alte leichtlebige, leichtsinnige Bärbchen, sondern eine andere. So wie sie heute, sah ihr Bruder Jürgen aus, wenn er eine Jungfrau im Tanze schwang und sich unter der Jugend tummelte.

Die jungen Männer waren wie verzaubert. Alle drängten sich um Bärbchen, wer nicht mit ihr tanzen konnte, verfolgte wenigstens mit den Augen ihre hohe Gestalt. Den alten Herren ging es nicht anders. Wer von ihnen für einen Augenblick an die Thüre kam, um dem Tanze zuzusehen, der blieb gefesselt stehen, so daß sich nach und nach alle als Zuschauer hier wieder zusammenfanden. »Daß mich aller Welt Plage bestehe,« schwur der von Kongota, »wenn Bärbchen nicht die schönste Rose ist, die unser alter Stamm je getrieben hat.«

Das Wort flog von Mund zu Mund, als der Tanz zu Ende war, brachte Werner Thedingsheim ein Hoch aus auf ›die Rose von Kelles‹. Das Hoch fand begeisterten Anklang, man umringte Barbara, man küßte sie und jubelte ihr zu.

Barbara hatte wohl bemerkt, wie sehr sie alle bezauberte, und ihre Brust hob sich in stolzer Freude. Ja, alle diese Jünglinge aus dem vornehmsten Geschlechte Livlands lagen ihr zu Füßen, und sie – sie hob ihre Huldigungen auf und legte sie nieder vor dem so tief verachteten Schreiber von Kelles! Was sie dem Geliebten darbrachte, sich selbst – konnte nicht wertlos sein, wenn es von so vielen begehrt wurde. Und weiter: wie tödlich mußte es die Junker beleidigen, wenn sie erfuhren, daß die Rose von Kelles sie alle verschmäht hatte um des landfremden Bürgersohnes willen! 311 Sie rächte so so manche Kränkung, die man dem Geliebten einst zugefügt hatte.

Der von Randen hatte mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen den Huldigungen zugesehen, die man seiner Schwester darbrachte. »Sie ist doch mein Fleisch und Blut,« dachte er, »und eben darum wird sie eine vortreffliche Gefährtin für Elert sein.« Er ging auf die Schwester zu, legte seinen Arm um ihren Leib und zog sie an sich. »Recht so, Bärbe,« sagte er, »du hast dich darauf besonnen, daß, wer im Adlerhorst ausgebrütet wurde, nicht im Gebüsch sein Wesen treiben darf, wie ein Rotkehlchen.«

Barbara blickte ihn spöttisch an. »Ja,« erwiderte sie »und ich rege die Schwingen zum Fluge.«

»Wie klug er nun wieder zu sein glaubt und wie thöricht er doch ist,« dachte sie.

Eilhard kam auf die Geschwister zu. Der Zauber, den Barbara heute ausübte, hielt ihn ganz und gar gefangen. Alle die mit so viel Herzleid erkämpfte Entsagung war wie weggefegt. Sie hatte mit ihm so lustig getanzt wie mit allen anderen, als aber Worte heißer Leidenschaft über seine Lippen quollen, hatte sie ihm mit einem energischen »später« den Mund geschlossen. Nun glaubte er das »später« gekommen.

»Ich bin hier jetzt wohl unnütz,« meinte der von Randen lächelnd, als Eilhard herantrat, und ging davon.

»Bärbchen,« begann Eilhard stockend, »mir ist, als hätte ich einen wüsten Traum gehabt und erwachte nun erst.«

Barbara blickte ihm gerade ins Auge. Der da vor ihr stand mit liebefunkelndem Blick war ja jener Eilhard, der 312 auf die schlechten Gesellen so verachtungsvoll herabblickte und den Pernauer Beschluß nicht genug rühmen konnte. Sie wußte, daß der Stoß, zu dem sie aushob, den ›Dompfaffen‹ ins Herz treffen mußte, aber sie war in der Stimmung ihr Opfer erst noch zu verhöhnen. »Jetzt nicht, Elert,« sagte sie, »wo aller Augen auf uns gerichtet sind, aber wenn ihr aus Wolmar zurück seid, dann.«

Damit ging sie davon, Eilhard aber hielt sich kaum aufrecht vor Jubel. Also der Bann war endlich gebrochen, Bärbchen endlich, endlich wieder die alte. Alle die Wünsche, die er unter so viel Schmerzen zu Grabe getragen hatte, sollten nun wieder auferstehen und eine ungeahnte Erfüllung finden dürfen.

Als die Herren am folgenden Morgen die Pferde bestiegen, befand sich auch Bonnius auf dem Hof. Er war noch in der Dunkelheit eingetroffen, um sich von Herrn Kruse und den Junkern zu verabschieden. »Bonnius,« rief Jürgen Nötken lachend, »reitet nur die neuen Pferde fleißig in der Wildnis spazieren, damit sie sich an die Buschwege gewöhnen.«

»Seid ohne Sorge, Junker,« erwiderte Bonnius lächelnd, »wir wollen die Gäule tüchtig schwitzen machen.«

»Na, falls Ihr über Wolmar hinausreitet,« scherzte der Stiftsvogt, »so reitet wenigstens nicht vorüber, sondern kehrt in unserer Herberge ein und stärkt Euch an einem Trunk.«

»Dazu haben wir es zu eilig,« versetzte Bonnius.

Der Stiftsvogt lachte. »Eure Zunge ist so flink wie Eure Feder,« sagte er.

Die Frauen standen auf einer kleinen Freitreppe, die in 313 den Hof hinunter führte. Der Stiftsvogt ritt jetzt an diese heran und seine ehrlichen, blauen Augen blickten noch einmal in alter Freundlichkeit auf Barbara.

»Bärbchen,« rief er, »wenn ich aus Wolmar zurückkehre, gibt es eine Überraschung. Nicht?«

Das Mädchen lief die Stufen herab, der Stiftsvogt schwang sich schnell noch einmal aus dem Sattel und beide hielten sich eng umschlungen. »Lebe wohl, Bärbchen,« rief er, »will's Gott, so bleiben wir nicht lange fort.«

»Hab' tausend Dank,« schluchzte Barbara und verhüllte ihr Antlitz, über das die Thränen rollten, mit den Händen. Der Stiftsvogt bestieg wieder seinen schweren Hengst, das Roß, das Jürgen Nötken trug, machte ein paar lustige Sprünge, Eilhards Rappe steilte und warf sich ungeduldig im Zügel hin und her. Noch ein Augenblick und die Federbüsche auf den Helmen der Herren neigten sich unter dem Hofthor, dann klapperten die Hufen der Rosse, welche die Diener trugen, auf dem Pflaster und die Schlitten der Troßkerle schleiften knirschend über die Steine. Dann war alles vorüber.

»Daß Gott erbarm,« sagte die Ahne und zog fröstelnd den Pelz dichter an sich, »daß die Junker zu dieser Zeit, in der die Bahn alle Tage ein Ende haben kann, einen so weiten Ritt machen müssen. Wenn die Sonne so schräg ins Fenster sieht, kann es noch frieren, daß das Eis Sprünge bekommt oder auch regnen, daß alle Flüsse aufgehen. Dazu sind die Schneetreiben zu keiner Zeit so schlimm, als wenn der Saft in die Bäume schießt.«

»Sorgt Euch nicht, Ahne,« erwiderte Frau Katharina 314 lächelnd, »die Junker schweifen ja nicht wie Landstreicher in der Nacht auf Buschwegen durch die Wildnis, sondern reiten am hellen lichten Tage und selbst dreißig oder gar selbst vierzig von Schloß zu Schloß.«.

»Muhme,« sagte Anna, »gestern erzählte mir die gnädige Frau von Ülzen, daß im Walde von Kawelecht die Wölfe bei nächtlicher Weile drei fahrende Leute, ein Weib und zwei Männer zerrissen hätten.«

»Die Leute mögen wohl ohne Waffen gewesen sein,« meinte Bonnius.

»Nein, sie sollen gut bewaffnet gewesen sein,« erwiderte Anna, »mit Faustrohren, Pistolen, Schwertern und Dolchen. Auch müssen sie sich furchtbar gewehrt haben, denn man fand den Schnee weithin mit Blut bedeckt, aber weder das Feuer, das sie angemacht hatten, noch ihre Waffen haben die Armen geschützt, und man hat nur bitter wenig von den Leichen bestatten können.«

»Aber warum haben denn die Leute im Walde geschlafen, Mutter, und nicht lieber in einem Kruge?« fragte Christinchen.

Frau Katharina zuckte die Achseln. »Sie mögen wohl ein böses Gewissen gehabt und das Auge der Menschen gescheut haben,« erwiderte sie. »Wer auf heimlichen Wegen wandert, darf sich nicht wundern, wenn er ein solches Ende findet.«

Damit gingen alle ins Haus.

Die Sonne ging eben unter, als Bonnius sich von Frau Katharina verabschiedete. »Ich muß, ehe ich reite, noch eine große Buß- und Strafpredigt halten,« sagte er 315 lachend, »und ich habe mir dazu alles, was Reitstiefel tragen kann, in die große Gesindestube bestellt. Die Kerle sehen sonst die Tage, in denen weder ein Junker noch ich da ist, für Festtage an und ziehen mit hängenden Strängen.«

»Recht so,« meinte Frau Katharina, »versäumt nur nicht den Thoresschluß darüber.«

Bonnius verbeugte sich und ging. In der Gesindestube fand er das gesamte männliche Dienstpersonal des Hauses und hielt ihm eine ungewöhnlich lange Strafrede, welche die Aufmerksamkeit der Anwesenden durchaus in Anspruch nahm. Unterdessen öffnete sich eine der auf den Hof führenden Thüren, und ein in einen Reitermantel gehüllter Mann, dem die Pelzmütze tief in der Stirn saß, trat heraus. Er blickte um sich und schritt dann mit schnellen Schritten über den Hof und zum Thore hinaus auf die Straße.

Als Bonnius mit seinen Auseinandersetzungen fertig war, begab er sich auf den Hof und man führte ihm seinen Hengst und den Klepper des Jungen vor, mit dem er am Morgen zur Stadt gekommen war. Bonnius stieg zu Pferde und ergriff die Zügel des anderen Tieres. »Soll ich Euch nicht den Gaul wenigstens bis ans Thor bringen?« fragte einer der Stallknechte.

»Es ist nicht nötig,« erwiderte Bonnius, »der Junge erwartet mich ja am Stadtthor.«

Damit ritt Bonnius zum Thore hinaus und die Straße hinunter. Der Knecht, der sich erboten hatte, ihm das Geleit zu geben, sah ihm vom Hofthor aus nach und gewahrte noch, wie der Junge auf Bonnius zutrat und sich auf den Klepper schwang. »Es ist merkwürdig, wie der Juhann 316 wächst,« dachte er, »er ist wirklich schon fast zu groß für einen Jungen.«

An der Stadtpforte war man eben im Begriff die Zugbrücke aufzuziehen, als die beiden Reiter sie betraten. »Das nenne ich vor Thorschluß kommen,« rief der Thorwärter lachend. »Was hat denn der Junge?« fragte er weiter. »Er hat sich ja eingetuntelt wie ein Bauernweib bei starkem Frost.«

»Der arme Kerl hat Zahnschmerzen,« meinte Bonnius, indem er weiter ritt.

Die Reiter ritten, ohne ein Wort zu sprechen, in schnellem Trabe durch die verbrannte Vorstadt und verfolgten die menschenleere Landstraße, auf die sich die Dunkelheit immer schneller herabsenkte. Erst nachdem sie von der Heerstraße auf einen der vielen aus dem Walde kommenden Winterwege eingelenkt waren, rief Bonnius, während sie mit unverminderter Geschwindigkeit weiter ritten: »Gott sei Dank. Aus dem Thore wären wir also.«

Bärbchen schlug den Kragen zurück und schob die Pelzmütze herauf. »Ich war in Todesangst,« sagte sie, »daß mir, so lange ich zu Fuß war, auf der Straße jemand begegnen und mich erkennen könnte. Sobald ich erst im Sattel war, wußte ich, daß wir das Spiel gewonnen hatten.«

»Wie machtest du es mit den Kleidern?«

»Ich zog erst ein anderes Kleid an, als das braune, welches ich den Tag über getragen hatte, dann nahm ich das braune und versteckte es im Kleiderschrein der Muhme ganz hinten. Dort wird es niemand suchen und sie werden glauben, daß es mit mir davon sei. Das andere Kleid aber, in 317 dem mich niemand gesehen hatte, hing ich wieder an seinen Platz.«

»Das ist recht. Sie dürfen nicht wissen, daß du als ›Junge‹ reitest.«

Sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander her. Es war ein verhältnismäßig warmer, windstiller Abend und die Sterne standen hellleuchtend und funkelnd am Himmel. Das Schneelicht war hell genug, um den Weg auch in so schneller Gangart verfolgen zu können.

»Hast du noch Atem?« fragte Bonnius.«

»Sei ohne Sorge,« erwiderte Barbara. »Und nun, ein für allemal, Franz, thue, als ob ich wirklich ein Reiterjunge wäre und laß solche Fragen. Ich bin kein Kind und weiß, was wir thun. Wir sind nicht im Walde, um irgend einem Nachbarn einen lustigen Schabernack zu spielen, sondern wir reiten ums Leben. Noch ehe die Sonne wieder untergeht, wird der ganze Adel hinter uns her sein und wenn sie uns fangen, sind wir verloren. Ich weiß das alles, Franz. Was ich einst war, liegt hinter mir in Dorpat und Kelles, von jetzt ab bin ich nichts anderes als dein treuer Geselle, flüchtig und der Acht verfallen, wie du. Hinter uns reitet der Tod mit dem Strick und dem Sack am Sattel. Wollen wir ihm entgehen, so dürfen wir den letzten Atemzug von Mann und Roß nicht scheuen.«

Bonnius ergriff Barbaras Hand und drückte sie innig.

»Es ist wahr,« sagte er, »wir würfeln mit dem Knochenmann, aber an diesen Einsatz würde ich tausend Leben wagen, wenn ich sie hätte. So wie du bist, so klug und stolz und kühn, habe ich mir in den kühnsten Träumen das Weib 318 ersehnt, nach dem mein Herz verlangte. Wir werden steigen, Bärbchen und es kommt einst noch die Stunde, in denen dein Geschlecht dir verzeihen wird, daß du dein Herz an den landfremden Schreiber von Kelles hingst.«

»Das werden sie nie thun, Franz, ich frage auch nichts darnach, was die von Thedingsheim thun und lassen. Wir werden auch nicht steigen, aber ich frage auch darnach nichts, ob wir einmal steigen oder ob wir sinken werden. Ich will nur sein, wo du bist, mit dir leben, für dich sterben. Darauf rechne: neben dir reitet dein Schatz, der nur eine Furcht kennt, die für dich und der nur eine Sorge hat, die, er könnte dich überleben. Und nun genug von solchen Reden, Franz, die das Herz weich machen und das Auge trübe. Wenn wir in Deutschland sind, will ich dein Weib sein und wir wollen girren wie ein Paar Tauben, bis dahin aber bin ich dein Kriegsgeselle und weiter nichts.«

»Du hast recht, Bärbchen, während der Auerhahn balzt, sieht und hört er nichts. Und nun noch eins, nenne mich jetzt nicht Franz, sondern Hermann und ich will dich Melchior nennen. Es muß uns das zur Gewohnheit werden.«

»Gut, Hermann. Sind wir bald am Ziel?«

»Noch eine Viertelstunde und Christopher hört uns kommen.«

Sie ritten weiter und erreichten schließlich eine kleine Lichtung, auf der Christopher mit sechs Pferden hielt. »Guten Abend.« sagte er. »Kamt ihr unbemerkt aus der Stadt?«

»Ja. Und Ihr? Machten Euch die Pferde viel zu schaffen? Und wie wurdet Ihr die Leute los?«

»Die Gäule folgten mir, wie die Hämmel dem Hirten und die Leute schickte ich zurück. Ich hätte mich besonnen, 319 sagte ich, sie sollten doch lieber zwei Schlitten anspannen. Mit denen werden sie nun, sobald das Thor geöffnet wird, in der Stadt sein. Nun Junker,« wandte er sich dann zu dem angeblichen Jungen, »Ihr werdet froh sein wieder einen Hengst zwischen den Schenkeln und ein Faustrohr in der Faust zu haben.«

»Gewiß,« erwiderte Bonnius schnell für den Freund »und nun Melchior,« fuhr er fort, »schnell auf das andere Tier und dann fort. Was machen wir mit den beiden hier, Christopher, binden wir sie nur an oder stoßen wir sie nieder?«

»Man darf sie nicht so schnell finden.« erwiderte Christopher. Er ergriff den Zügel des Hengstes, auf dem Bonnius gekommen war und führte das Tier in das Dickicht, das hinter ihm zusammenschlug. Bonnius folgte ihm mit dem Klepper. Nach einiger Zeit hörte Barbara, die zurückgeblieben war, ein dumpfes Dröhnen und ein stöhnender Laut machte, daß die Rosse die Köpfe hoben, die Ohren spitzten und leise schnaubten. Dann kamen Bonnius und Christopher zurück. Sie musterten noch einmal Zaumzeug und Sattelgurte, sowie die Mantel- und Hafersäcke an den Sätteln der Handpferde, dann schwang sich jeder in den Sattel und ergriff auch den langen Halfter je eines der überschüssigen Tiere. »Und nun kein Wort gesprochen, so lieb uns unser Leben ist,« rief Christopher, der voranritt. »Schon mancher Vogel wäre nie in den Sack des Vogelstellers gekommen, wenn er nicht gesungen hätte. Junker Melchior, Ihr reitet hinter mir, Bonnius schließt den Zug. Sobald ich den Arm hebe, haltet ihr. Ebenso zieht ihr, wenn ihr Verdächtiges bemerkt nur die Zügel an. Ich merke das schon.« 320

Der Zug setzte sich in Bewegung. Da die Pferde in den letzten Wochen daran gewöhnt worden waren, nahmen die Handpferde ohne weiteres den Platz hinter den Reitpferden ein, so daß die sechs Tiere sich in einer langen Linie vorwärts bewegten. So zogen die Flüchtigen in schnellem Schritt durch die Wildnis. Christopher wählte mit wunderbarem Geschick den Weg, trotzdem nahmen die Hindernisse, welche zu überwinden waren, die ganze Aufmerksamkeit der Reiter in Anspruch. Das dichte Wurzelwerk machte die Pferde ausgleiten, die Stämme umgestürzter Bäume mußten überklettert werden, herabhängende Zweige peitschten Reiter und Rosse. Endlich war ein Bach erreicht und man ritt ein paar Stunden lang auf dem Eise desselben. Dann ging es eine gute Strecke auf einem Waldwege fort, der aber verlassen werden mußte, weil er an einem einsamen Bauerhof vorüberführte. Und wieder begann das Straucheln und Klettern und die Not mit den Zweigen.

Die Pferde gingen langsam, sie schnaubten und schwitzten. Christopher stieß ein leises: »Halt!« aus. »Wechseln!« kommandierte er. Man wechselte schweigend mit den Pferden, wobei Bonnius Barbara beim Umzäunen half und ritt dann weiter. Die Pferde gaben bereits unverkennbare Zeichen von Ermüdung, und die Handpferde wollten den Reitern nicht mehr folgen, plötzlich aber fuhr alles erschreckt zusammen, denn vor ihnen entstand ein jäher Lärm. Im Dickicht rauschte es, die Erde erdröhnte, und es brach lärmend durch die Zweige. Es waren Elentiere, die in schneller Flucht davon eilten. »Ich meine, wir sollten uns in 321 die Betten der Graubärte legen, Christopher,« rief Bonnius. »Wir müssen unseren Mähren doch etwas Ruhe gönnen.

»Ihr habt recht,« erwiderte Christopher.

Zwei riesige Tannen hatten hier ihre Zweige so ineinander verschränkt, daß sie ein dichtes Laubdach bildeten. Unter demselben war es so finster, daß nur Christopher und Bonnius in dieser Dunkelheit hantieren konnten. Barbara sah nichts und erst als Bonnius sie vom Pferde gehoben hatte, erkannte sie die dunkelen Umrisse der Menschen und Pferde. Die beiden Männer banden nun die Tiere an die Zweige, bedeckten sie und hingen ihnen Haferbeutel um. »Wir können hier getrost ein wenig Feuer machen,« sagte Christopher, »der Busch ist so dicht, daß man es keine zwanzig Schritt weit sieht.« Bonnius riet ab, aber er gab nach, als Christopher wiederholte, es sei gefahrlos. Da unter den Zweigen kein Schnee lag, brannte das schnell zusammengeraffte Reisig bald hell auf. Bonnius befand sich in einer gewissen Spannung. Christopher, dem er soeben einen Geldbeutel mit dem versprochenen Lohn in die Hand gleiten ließ, mußte jetzt erkennen, wer der Junker Melchior war, denn Barbara hatte den Kragen zurückgeschlagen und die Mütze hinaufgeschoben, so daß ihr Gesicht beim Scheine der Flamme deutlich gesehen werden konnte. Christopher richtete seinen durchdringenden Blick auf dasselbe, aber er schien zu Bonnius' Freude durch das, was er sah, nicht überrascht zu werden, wenigstens verzog er keine Miene. Er half Bonnius, mit Hilfe der Satteldecken einen warmen Platz für Barbara herrichten und lud sie dann mit den Worten: »Setzt Euch hierher, Junker, hier ist es am wärmsten!« ein, 322 Platz zu nehmen. Er selbst benutzte seinen Sattel als Kopfkissen, hüllte sich in seinen Pelz und schloß die Augen. Bonnius nahm neben Barbara Platz.

Die Nacht war ohnehin windstill und hier im Dickicht der Wildnis bewegte kein Hauch die Zweige. Die Flamme, die anfangs hoch emporlohte, schlug jetzt nur in feurigen Zungen um die stärkeren Reisigstücke, und die Zweige über der Lagerstätte sowie die Pferde waren in dem einen Augenblick grell beleuchtet, um im nächsten wieder in tiefen Schatten gehüllt zu sein. Man hörte nichts als das Schroten der Pferde und das Knistern des Feuers.

»Seid Ihr sehr ermüdet?« fragte Bonnius leise.

»Nein,« erwiderte Barbara, »aber ich möchte immerhin etwas schlafen.« Sie lehnte sich an den Stamm der Tanne und schloß die Augen. Bonnius rückte ein wenig weiter und blickte dann zu dem Mädchen hinüber, das ihm alles geopfert hatte, was Menschen teuer ist: Verwandtschaft und Freundschaft, Heimat und Reichtum, ja die Ehre. Zum erstenmal regte sich in ihm die Frage, ob er denn auch recht gethan hatte, ein solches Opfer anzunehmen und ob denn das auch die rechte Liebe war, die die Geliebte mit vollem Bewußtsein solchen Gefahren aussetzte. Aber er war nicht der Mann dazu, in solcher Lage solchen Gedanken lange Raum zu geben. »Hat der Brandmeister sein Werk gethan und die Stadt ist verbrannt,« dachte er, »so soll man nicht darnach fragen, ob es nicht besser wäre, sie stünde noch aufrecht, sondern man muß sich an die Beute halten, die man davon getragen hat.« Und Bonnius blickte hinüber zu seiner ›Beute‹. »Nie führte ein Mann ein schöneres Weib heim,« 323 dachte er, während sein Blick in heißer Leidenschaft auf dem schönen Mädchen ruhte. Dann wandten seine Augen sich dem Feuer und seine Gedanken der nächsten Zukunft zu.

So sah ihn Barbara dasitzen, als sie ihre Augen aufschlug. Sie war viel zu aufgeregt, um Müdigkeit fühlen zu können, aber sie hatte gehofft, daß Bonnius vielleicht schlafen würde, wenn er sie schlafend glaubte und deshalb die Augen geschlossen. Jetzt blickte sie hinüber zu ihm, dessen Antlitz in dem ungewissen Licht der auf und nieder zuckenden Flamme finsterer aussah, als sie es je gesehen hatte. Welche Sorge mochte dem Armen jetzt das Herz bewegen! Gott sei Dank, daß sie wenigstens neben ihm saß und künftig alles mit ihm teilen durfte. Sorgen und Gefahren und Not und, wenn es sein mußte, den Tod. Es war ja schrecklich, daß der teuere Mann um ihretwillen ein so großes Wagnis unternommen hatte, aber sie verstand es, daß ihm keine Wahl geblieben war. War es ihr doch nicht anders ergangen. Barbara dachte mit keinem Gedanken an das, was sie hinter sich gelassen hatte. Sie war bei ihm. Damit war alles, was einst war, ausgelöscht aus ihrem Gedächtnis, damit verlor die Wildnis ihre Schrecken und wurde zum Paradiese.

Barbara blickte von Bonnius hinüber zu Christopher. Schlief er? Er hatte die Augen geschlossen, aber es war Barbara mitunter, als blinzele er zu ihr hinüber. Indessen das mochte eine Täuschung sein, denn in dem scharf geschnittenen Gesicht des Reiters bewegte sich sonst keine Muskel.

Als Bonnius wieder zu Barbara hinüberblickte und ihre Augen auf sich gerichtet sah, nickte er ihr zu und nahm 324 wieder dicht neben ihr Platz. »Franz,« flüsterte Barbara, »wenn sie uns doch einfingen und uns trennten und dann zu dir sagten, ich hätte es bereuet mit dir geflohen zu sein, dann glaube ihnen nicht.«

Bonnius legte seinen Arm um ihren Leib und küßte sie. »Sie werden nie Gelegenheit haben, das zu sagen,« tröstete er.

Nach einer Stunde etwa berührte Bonnius den Schläfer. »Wir können weiter reiten,« sagte er. Christopher erhob sich sofort und man rüstete zum Aufbruch. Nach zehn Minuten war das Feuer ausgelöscht und die Reiter zogen wieder in langer Reihe durch den schweigenden, nächtlichen Urwald.

Als man, nachdem es ganz hell geworden war, an einer Stelle, wo umgestürzte Baumstämme mit ihren riesigen, aufrecht stehenden Wurzeln und dichtes Unterholz ein sicheres Versteck boten, längere Rast zu halten beschloß, nahm Christopher Bonnius bei Seite. »Warum sagtet Ihr mir nicht, daß der Junker, dessen Flucht Ihr plantet, unser gnädiges Fräulein ist?« fragte er. »Ihr sagtet, es ginge gegen alles, was Thedingsheim heißt, das Fräulein ist aber doch auch eine von Thedingsheim. Das ist gegen unseren Pakt.«

»Christopher,« erwiderte Bonnius, »zürnt mir nicht, daß ich Euch täuschte, allein ich wollte das Geheimnis bis zuletzt hüten. Was aber die Thedingsheim betrifft, so hätte nichts ihnen einen größeren Tort anthun können, als daß das Fräulein mir gefolgt ist und mein Ehegemahl werden will.«

»Das verhält sich alles so,« erwiderte Christopher, »aber gegen unsern Pakt ist es.« 325

»Ja, Christopher, aber ich hoffe, Ihr erwägt, daß, wo es um Hals und Hand geht, jedes Wort zu viel vom Übel ist.«

Christopher schüttelte den Kopf. »Ihr hättet mir vertrauen sollen,« sagte er. »Glaubt Ihr denn, daß ich nicht auch weiß, wie der Junge, dem die Augen verbunden sind, es treibt? Ich hätte auch dann die Hand nicht vom Schwert gelassen, aber den Spruch erwogen: ›Kurzen Mut und lange Kleider haben alle Frauen leider.‹«

»Deshalb seid ohne Sorge,« erwiderte Bonnius. »Ihr seht ja selbst, daß das Fräulein nicht in langen Kleidern reitet, die hat sie zugleich mit dem kurzen Mut hinter sich gelassen. Ihr werdet auch sonst gesehen haben, daß die Jungfrau kein Zierchen ist.«

»Das ist schon richtig, aber ein rechter Kriegsmann ist sie deshalb doch nicht, wir sind daher nur zwei statt drei und doch stehen wir so, daß wenn wir nicht bissig sind, man uns fressen wird.«

»Nun, das läßt sich jedenfalls nicht mehr ändern.«

»Ihr habt recht, darum wollen wir fernere Rede sparen.«

Die beiden kehrten zu Barbara zurück.

Drei Tage lang zogen die Flüchtigen so durch die Wildnis. Es fror nicht stark und die Menschen litten nicht allzu sehr unter der Kälte, die Pferde aber gerieten bald in einen jammervollen Zustand, denn der gefrorene Schnee, durch den sie meist waten mußten, machte ihnen die Füße wund. Zwei von ihnen mußten getötet werden, und auch die anderen kamen nur langsam vorwärts.

Am Abend des dritten Tages erlebte man ein sehr 326 gefährliches Abenteuer. Die Reiter waren auf einer Stelle, wo vor Jahr und Tag eine Windsbraut die Bäume wirr durcheinander geworfen hatte, gewissermaßen in eine Sackgasse geraten. Umgestürzte Bäume und ihre emporragenden Wurzeln türmten sich von allen Seiten so hoch auf, daß gar nicht daran zu denken war, mit den Pferden über sie hinwegzukommen. Christopher und Bonnius stiegen von den Pferden und suchten zu Fuß nach einem Durchgang. Indem sie sich nun durch das Wurzelwerk hindurcharbeiteten, stießen sie ganz unerwartet auf das Lager eines Bären, der bereits aus dem Winterschlaf erwacht war. Die wütende Bestie stürzte sich sogleich auf Christopher und er wäre verloren gewesen, wenn nicht Bonnius dem Tier sein Schwert ins Herz gestoßen hätte, noch ehe es recht zupacken konnte.

»Das danke Euch Gott, Bonnius,« rief Christopher, sobald er wieder auf den Füßen stand. »Dieser Stich soll Euch unvergessen bleiben.«

Am vierten Tage brachte ein warmer Südwest Schnee in großer Menge und machte dadurch die Lage der Flüchtigen zu einer sehr bedenklichen.

Es war, als ob sich ganze Schneewolken auf den Wald herabsenkten und bald bedeckte eine trügerische Schneedecke alle Hindernisse, welche sich dem Vordringen in den Weg stellten. Eines der Pferde brach ein Bein und mußte getötet werden, ein anderes lahmte stark.

»Bonnius,« sagte Christopher, »so schlimm es ist, wir müssen aus der Wildnis heraus und zusehen, wo wir für ein paar Tage unter Dach und Fach kommen, oder wir 327 verhungern und erfrieren. Seht den Junker Melchior an – so sehr er sich auch zusammenhält, man merkt es doch, daß ihm die Kälte nach dem Herzen greift. Lange hält er es sicher nicht mehr aus.«

»Um Gotteswillen,« flehte Barbara, »denkt nicht an mich. Ich muß aushalten und werde aushalten.«

»Auch dann, wenn wir die letzte Mähre abstachen?« fragte Christopher. »Getraut Ihr Euch ein paar Wochen lang zu Fuß durch solchen Schnee zu waten? Wir brächten das jedenfalls nicht fertig. Aber das ist es nicht allein, ich kann auch, wenn weder Sonne noch Sterne am Himmel stehen den Weg nicht finden. Da kann es geschehen, daß wir Tag für Tag im Kreise herumlaufen wie der blinde Gaul beim Lehmtreten. Nein, das geht nicht an. Wir müssen näher an die Höfe und Dörfer heran und zusehen, daß wir eine Heuscheune finden, wie sie auf den Waldwiesen stehen. In dieser Zeit sind wir dort so sicher wie hier.«

»Aber die Wölfe!« mahnte Bonnius.

»Was ist es mit den Wölfen?« fragte Barbara.

»Die Wölfe halten sich zu dieser Zeit,« erwiderte er, »auch mehr am Rande der Wildnis auf.«

»Darauf müssen wir es ankommen lassen,« meinte Christopher. »Muß denn doch gestorben sein, so will ich wenigstens lieber von den Waldhunden zerrissen werden als im Schnee zu Grunde gehen wie ein weidwundes Tier. Glaubt mir, es bleibt uns keine Wahl, wir müssen auf den Plan und wenn da Steinkugeln fielen wie Hagelkörner.«

Bonnius blickte auf Barbara. Wie hatten Wind und Wetter sie entstellt! Das Gesicht war aufgedunsen, die 328 Lippen waren geschwollen. Es blieb ihnen in der That keine Wahl.

»Getraut Ihr Euch, eine Heuscheune aufzufinden, Christopher?« fragte Bonnius.

»Wir wollen es versuchen,« war die Antwort.

Sie schlugen nun eine andere Richtung ein und es gelang ihnen wirklich nach einem angestrengten Marsch noch vor dem Einbruch der Dunkelheit eine leere Heuscheune zu erreichen.

Nicht nur Barbara, sondern auch die Männer waren an der Grenze ihrer Kraft angelangt, denn die letzteren hatten, um das lahme Pferd zu schonen, abwechselnd zu Fuß gehen müssen. Sobald daher die Pferde in die Scheune gezogen und das Thor hinter denselben wieder geschlossen worden war, sanken alle drei erschöpft zu Boden, während die Tiere, die in den letzten Tagen nur Hafer gefressen hatten, begierig über die kleinen Heubüschelchen herfielen, die am Boden zerstreut umherlagen. Erst nach einiger Zeit gingen Bonnius und Christopher daran, für Barbara ein Lager herzurichten. Sie ließ das willig geschehen und verfiel, sobald sie sich niedergelassen hatte, in einen tiefen Schlaf. Bonnius bedeckte sie mit allem Wärmenden, das irgend entbehrlich war und zum erstenmal erfüllte wieder Wärme die fast erstarrten, todmüden Glieder der Jungfrau.

Die Männer banden die Pferde an, schütteten ihnen den letzten Hafer vor und genossen selbst etwas von dem Brot, das sie mit sich führten. Dann senkten sich auch ihre Köpfe auf die als Kissen dienenden Sättel und die Natur machte ihre Rechte geltend. 329

Draußen aber heulte der mittlerweile zum Sturm gewordene Wind und häufte ungeheure Schneemassen rings um den gebrechlichen Bau, auf dessen kaltem hartem Boden die Flüchtlinge von Kelles einer ungewissen, gefahrvollen Zukunft entgegenschlummerten.



 << zurück weiter >>