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Vorwort.

Als ich vor Jahren auf der Landstraße und in Herbergen leben mußte, hörte ich Lieder von seltsamem Klang. Gewiß, alte Volks- und Wanderlieder wurden auch gesungen. Aber die echten »duften Kunden«, die gewohnheitsmäßigen Landstreicher, sangen andere Weisen. Wenn der verzweifeltste Galgenhumor sie überkam, wenn ihr Elend sie fast erstickte – oder wenn es ihnen unerwartet üppig, üppig in ihrer erbärmlichen, dürftigen Art, erging, dann brach das heraus, was ihr Leben erfüllte und darstellte.

Wie so viele meiner wandernden Genossen schrieb ich mir diese Lieder auf. Es ward der erste Stamm meiner Sammlung. Viele dieser Lieder waren trocken und hölzern, aber andere waren mit so echter Empfindung gefüllt, sprühten so voll ungefälschten Erlebnisses, daß ihre Mängel weit von ihren Vorzügen übertroffen wurden. Diese Lieder sind eine treffliche Illustration zum poetischen Schaffen des Volkes. Sie zeigen, wie das Volk mit dem gegebenen Text eines Gesanges sich nicht begnügt, wie es so ein Lied erst durch die Einfügung seines eigenen Lebensinhaltes für sich gewinnt und für sich lebensfähig macht. Das Volk benutzt irgend eine singbare, weitverbreitete Melodie und macht sich seinen eigenen Text dazu. Und dabei ist es meist ehrlich rücksichtslos gegen sich selbst. Seine Texte gleichen häufig Spottliedern. Es sind Spottlieder gegen übergroße Sentimentalität, Spottlieder gegen die einem urwüchsigen Menschen widerwärtige Weichheit des ersten Textes. Und so schreiben denn jene, die die Verse weitergeben, unter die meisten Lieder die Bezeichnung: Parodie. Hierhin gehört das »Berliner Dirnenlied«, hierhin gehören zahlreiche andere Lieder, die wegen allzugroßer Derbheit oder wegen mangelnder Poesie aus diesem Bändchen ausblieben. Sie stellen aber immerhin eine wohltuende Befreiung von unerträglicher, schwächender Süßlichkeit und falscher Sentimentalität dar. Und in diesem Aufwallen der Gesundheit, der Kraft, liegen ihre – allerdings oft versteckten – Reize und Naivetäten, die sie mancher vollendeten Kunstpoesie gleichwertig machen.

Nicht nur Couplets und irgendwelche anderen, oft gesungenen Gesangsstücke dienten als Unterlagen. Auch echte Volkslieder wurden benutzt. So das Hauff'sche »Morgenrot«. In der Fassung dieses Bändchens enthält es die umfassendste, knappste und launigste Darstellung des Lebens auf der Walze, die mir bekannt ist. Das elende Dasein: überall von Gesetzeswächtern beobachtet und verfolgt, überall scheel angesehen, immer neben der Lust das Leiden – und trotzdem die männliche Stärke, die wohl die Gefahren sieht und erkennt, die aber dennoch mit ganzer starker Leidenschaft an ihrem Unternehmen, an der Wanderschaft, hängt.

Hier offenbaren sich auch Taugenichtse. Aber Taugenichtse von anderer Art, als der Eichendorff'sche. Nicht so voll ungestörten, geförderten Faullenzerdaseins. Aber dafür auch nicht so unwahrscheinlich, nicht so knabenhaft. Alles mit der Fülle des wirklichen Lebens – robuste, ehrliche, subjektive Darstellung erlebter Vorgänge.

Ganz im selben Sinne ist das Marschlied »Ach, wie ist das Walzen schön!« – Es ist ausführlicher, aber mit gleichem Humor gemacht. Und es stellt das typische, allgemeine, allen drohende Schicksal in ungeschminkter Weise dar. Andere, wie die Ballade »An der Weichsel, fern im Osten«, erheben sich zu der poetischen Wiedergabe eines persönlichen Schicksals. Das Schönste an diesem Gedicht ist zweifellos die Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, die der Kunde, der Wanderer, offenbart. Er weiß, daß man in der Freude, in der Leidenschaft überschwänglich wird, daß man in solchen Augenblicken mehr will als man kann. Er rät dem »Schucker«, so etwas »nicht zu unterschreiben«.

Das eine geht aus diesen Versen hervor: Das Volk besingt sein Leben selbst. Allerdings nicht immer in vollendeter Kunstform. Aber dieser Mangel wird ersetzt durch Ursprünglichkeit, durch Gesundheit und naive Kraft; seine Poesien duften nicht wie Blumen aus dem Treibhaus, sondern man fühlt, daß sie draußen, in den Armen des Windes, in den Strahlen der Sonne und im Frühlingshagel aufgebrochen sind.

Mit dieser Frische, mit dieser Echtheit erhob sich die Kunst der Stromer weit über alle Kunstfeinheit des Vagantenliedes der letzten Jahrzehnte. Dem war nur eines eigentümlich; Harmlosigkeit, Sorglosigkeit und keine allzugroße Tiefe. Irgend ein besonderes Erlebnis kündete keines. Vergnügtsein war die Parole dieser tändelnden Reimereien, die alle Kommersbücher füllen. Alle mit diesen Liedchen zusammenhängenden Vagantenlieder, Gassenjungenlieder und was sich sonst in diesem beliebten Gewand vorstellte, kommen nicht über das Schelmische und Burschikose hinaus. Sie prahlen wohl gelegentlich mit Abenteuerlust und Don Juan-Kräften. Aber diese Lust war doch ein ganz zahmes Lüstchen. Es blieb alles im Geleise der »Lore am Tore«! Ein bischen heimliches Geliebe – wenn es hoch kam, ein nächtlicher Besuch bei einem Liebchen, aber in allen Ehren, weiter ging das Vagabondische dieser Vagantenlieder nicht. Sie konnten bei jedem Familienausflug gesungen werden.

Immerhin – sie waren eine verständliche Reaktion gegen die ihnen vorausgegangenen Wanderlieder. Die liefen über von triefender Sentimentalität. Da war der empfindsame »Zigeunerbube im Norden«, dessen »Fern im Süd, das schöne Spanien, Spanien ist mein Heimatland« noch in den achtziger Jahren in allen deutschen Nähstuben von blassen Näherinnen gesungen wurde – da waren unzählige Lieder voll gleicher falscher Empfindsamkeit im Text wie in der Melodie.

Als ich nun die echten Wanderlieder hörte, sammelte ich alles, was irgend damit zusammenhing. Vor allem suchte ich auch von den alten Volksliedern das zu retten, was wegen seiner Lebendigkeit und Derbheit so lange unterdrückt und verpönt worden war. Als ich etwa einen halben Band beisammen hatte, kam der Freiherr Karl von Levetzow zu mir, der einen Band »Ludelieder« herausgeben wollte. Zu Gunsten seines Unternehmens wollte ich anfänglich meine Sammlung aufgeben, doch schien mir sein Plan zu begrenzt und eng. Durch allerlei Widrigkeiten zerschlug sich die Herausgabe der »Ludelieder«. Ich aber war durch Levetzows Plan in meinem Plan bestärkt und angefeuert worden. Und so kann ich heute diesen Band vorlegen. Er enthält nicht alles. Er kann nicht alles enthalten. Er soll eigentlich nur Proben, Beispiele geben. Aber darin hoffe ich so vollständig wie möglich zu sein. Ich denke, der Band bringt alle Töne, die je »im Rinnstein« geklungen oder noch klingen. Manches wird ja noch vermißt werden. Aber – schließlich sagt jeder Verleger einmal: »Nun kann ich aber keine weitere Ueberschreitung des ausbedungenen Raumes zugestehen.« Und so muß ich auf einen zweiten Band vertrösten – der soll erscheinen, wenn der erste das Interesse gefunden, das er verdient. Der soll auch alles das enthalten, was wegen seiner allzugroßen Nacktheit nicht in diesen ersten Band aufgenommen wurde. Und damit er vollständig wird, bitte ich alle Leser, alle Freunde der Sache um schleunige Zuschickung von solchen Versen und Liedern, die in den Rahmen der »Lieder aus dem Rinnstein« zu passen scheinen.

Manch einer wird nicht Freund dieser Sache werden können. Um ihn wird es mir nicht leid tun. Denn er ist ein Armer im Geiste, ein Armer im Empfinden. Er wird nicht fühlen, welche Lebensbejahung diese Lieder bedeuten. Er wird nicht merken, wie gesund und sittlich, innig und zart das Volk empfindet, wenn es mit reinem Lachen die Dinge beim rechten Namen nennt. Er weiß nicht, daß das Volk, daß die Vaganten und alle, die sich als solche fühlen, solche Lieder ohne faunisches Grinsen singen, daß es viel weniger verderbt, vom Willen der Welt entfernt ist, als mancher parfümierte Barbar im Cylinder, als manche verbildete und vertrocknete Alt-Jungferlichkeit, deren Worte glatt und schlüpfrig zugleich sind. G. Scherer sagt: Wer sich vor diesen Dingen fürchtet, mit dessen Tugend ist es nicht weit her; solch zartes Seelchen darf auch keinen Shakespeare, keinen Homer, keine Bibel lesen.

Und so sollen diese Lieder nicht nur den Zimperlichen, den Heuchlern und Ueberbildeten, nicht nur denen ins Gesicht geworfen werden, die stets nur auf dem Bürgersteig wandeln, sondern auch denen, deren Kunst und Sehnsucht nichts als ein krankhafter Kult übler Schlüpfrigkeit, nichts als ein gemeines Spiel mit der »freien Liebe« ist. Deren Dirnenlieder sind ebenso gefälscht, voll verschleierten Sinnenkitzels, wie die unechten Vagantenlieder voller gefälschter Sentimentalität sind.

Da hatten die alten Golionaden und wandernden Kleriker, die im zwölften und dreizehnten Jahrhundert durch die damalige christlich-europäische Welt zogen, andere Töne angeschlagen. Es ist eben doch etwas anderes, wenn Künstler, die etwas durchlebt haben, dieses Durchlebte in Kunst umschmieden. Woher sollten auch die heutigen Dichter der Vagantenlieder, die doch alle in gesicherten, mehr oder weniger verzärtelnden bürgerlichen Verhältnissen leben, die echten rauhen und rücksichtslosen Stimmen hernehmen, mit denen und in denen das Vagabondentum sich bewegt? Hier war doch das Erleben Notwendigkeit. Es hätte denn ein Genie die richtigen Intuitionen haben müssen. Aber ein Genie gab uns keine Vagantenlieder. Vielleicht hätte selbst dem das Erlebnis, das viele Erkenntnisse bringt, manches geöffnet, was auch ihm sonst verschlossen geblieben wäre. Wie viel notwendiger war also den Talenten das Erlebnis!

Da ihnen das ganz fehlte, so brachte auch nicht einer solche Werke hervor, wie der mittelalterliche Archipoeta und seine Weggenossen. Vom Archipoeta wissen wir nur, daß er aus ritterlichem Geschlecht stammte und die besondere Gunst des Erzbischofs von Köln und Kanzlers Friedrich Barbarossas genoß. Was für eherne Sätze enthält dies prachtvolle, herzhafte Gedicht im Mönchslatein! Hier liegt ein freiherziges Bekenntnis eines Vagabunden vor, der mit nicht geringer Psychologie die Triebe seines Daseins und des Daseins seiner Kameraden schildert. Das ist echtes, unverfälschtes, bitterfröhliches und rebellisches Vagabundentum!

Diese Goliardenbeichte ist aber nicht die einzige Hinterlassenschaft jener Zeit, in der Kleriker das fahrende Volk bildeten – ein Zeichen, in welchen Massen damals die jungen Leute zu dem angesehenen und pfründenreichen Stand der Geistlichen strömten. Da ist noch die »Satire wider Rom« aus jenen Jahrhunderten, die der Reformation voraufgingen. Sie enthält reiche poetische Vergleiche und ist eine kritische und zersetzende Darstellung des mittelalterlichen, päpstlichen Roms, eine revolutionäre Schmähschrift, die das plutokratische Wesen der Kirche und ihrer Würdenträger mit solchen heftigen Worten geißelte, wie es später die Reformation nicht energischer konnte. Auch die Kreuzzugsparole »Macht Euch auf die Wanderung!« ward launig von den Goliarden zerpflückt und aus ihr ein Gedicht gemacht, das das »Vagabunden-Ordensrecht« verriet. Neben diesen Hauptwerken der Goliarden wurden noch andere poetische Werke aufgefunden, die das Leben des Mittelalters zeichnen und zugleich die Freuden des diesseitigen Lebens verklären. Karl Mischke hat vieles aus dem Latein der deutschen Mönche in ein modernes Deutsch mit feinem Nachfühlen übertragen.

Nicht alle Zeiten haben solche bedeutenden Vagantenlieder hinterlassen. Doch irgend welche Dichtungen, die sich mit dem Vaganten der Zeit beschäftigen oder die von den Vagabunden der Zeit geschrieben sind, bringen fast alle Zeitalter hervor.

Das spätere Mittelalter kannte nicht mehr den wandernden Scholaren, wenigstens nicht in der Art, wie das frühere. An die Stelle des Vaganten kam der arme Schwartenhals, der Landstörtzer, der Landsknecht ohne Dienst, ein Gegenstück zu dem in fester Burg sitzenden Schnapphahn. In dem Schwartenhals der »frischen Liedlein«, Nürnberg 1565, wird die Kultur und das Leben des Mittelalters ebenso geschildert, wie im »Bettelvogt«. Die ganze Willkür jener Zeit, das jähe Auf und Nieder wird von diesem Pfeifer geschildert. Neben diesen Wanderern kommt die entlaufene Nonne, die dem viel Unglück wünscht, der sie ins Kloster stecken will. Ueberall der Trieb zum Leben mit seinen Freuden.

Und nach der Landsknechtszeit, nach der Zeit der Nonnen die »Zeit der Schäferinnen«, die Zeit der Galanten. Da finden sich Lieder, deren Sprache, deren Versfuß uns zeigt, wie auch die Klassiker, wie auch Goethe und andere auf einem vorhandenen Fundament gebaut haben. Und mit welcher Selbstverständlichkeit man selbstverständliche Dinge dichterisch behandelte, die heute eigentlich nur der wissenschaftlichen Diskussion – oder gemeiner Lüsternheit freistehen. Manches dürften die Herausgeber des »Wunderhorns« verschuldet haben, manches auch die Klassiker. Denen stand die Zeit der Schäferinnen noch nicht fern genug, als daß sie ihre Reize gefühlt hätten. Es war eben die Zeit ihrer Väter. Und die Zeit der Väter wird ja stets von den Nachkommen mißhandelt und mißverstanden werden. Welch eine Gesundheit und Ehrlichkeit klingt aus der »Jungen Witwe«. Die »Kirmes« malt schier ein Bild der alten Holländer. Und aus »Ach wenn ich nur ein Fräulein wär!« lacht uns der feine Duft eines Watteaugemäldes an: die Sehnsucht nach dem Natürlichen, wie sie Rousseau predigte.

Neben dem Schwartenhals und zur Zeit der Schäferinnen wanderte der Handwerksbursche. Er ist, trotz seiner Preisreden auf Trunk und auf Freiheit und Lust, ein sehr trockener, nüchterner Geselle. Er besingt sein Bummelleben in der Art eines Rechenexempels, ohne jeden künstlerischen Klang. Auch fehlt dem Handwerksgesellen der Zusammenhang mit den Trieben seines Zeitalters. Er gibt nicht die Kehrseite des Weltbildes, wie andere Vaganten. Er gibt uns nur die Kehrseite seines engen Berufes. Eins der echtesten, besten und rebellischsten ist noch »Der Wandergesellen Übermut«.

Nicht bloß die Menschen der Tiefe allein hatten sich mit dem beschäftigt, was sie bewegt. Auch Dichter fanden Worte für die Neigungen, die dem seßhaften Philistertum zuwiderliefen. Ja, unsere Größten wußten im Sinne des Vaganten die stärksten Töne anzuschlagen. Und einer, der wie ein Vagant lebte und endete, J. Chr. Günther, steuerte herrliche Sachen zur Poesie des Rinnsteins bei – von denen leider wegen des beschränkten Raumes nur eines hier Platz finden konnte: der Abschied. Das zeigt eine ganz besondere Seite: der Fluch des Flüchtigen, des Verstoßenen, die Absage an die bornierte, unverständige Heimat.

Von dem, was die heutigen Menschen der Tiefe singen, dürfte manches dem Psychologen, dem Volkswirtschaftler, dem Juristen – ja, allen manchen Aufschluß, manchen Genuß geben; sind es doch Kuriositäten, Gerichte für Feinschmecker. Und selbst die Sentimentalität, die hier und da aufblüht, dürfte nicht so abstoßen. Ist es doch die echte Sentimentalität, die aus wirklichen Geschehnissen emporwächst, die aus durchlebten Ereignissen sich bildet. Diese Sentimentalität hat das Recht auf Beachtung. Sie entstammt dem wirklichen Leben. Sie ist ein Ausfluß der Wirrnisse und des Jammers, der Hemmungen und des Zermalmens, die zu jeder Stunde Wirklichkeit werden. Wo Klagen mit der Schilderung des Lebens verknüpft sind, da verlieren sie viel von ihrer morschen Weise. Das drückt sich gewiß in den Versen »Ein Mädchen für Geld« aus, die jetzt viel in den Kreisen der Straßenmädchen und ihrem Anhang gesungen werden. Ich glaube, es kommt sehr deutlich heraus, was so vielen dieser Mädchen eigen ist: das Erkennen, daß sie nach einem Gold gegriffen, das jeden Feingehalts entbehrt.

Viel robuster ist »Die schlechte Mutter«. Die ersten beiden Verse gleichen einem alten Volkslied. Aber der dritte ist aus neuerer Zeit. Und wie gewaltig entlädt sich die Freude, der Last, die ein Kind bereitet, ledig zu sein. Wie das fast jauchzend schon im Klang der Worte zum Ausdruck kommt.

Düsterer, aber nicht weniger stark ist Bindes »Vagabundentod«. Selten deckt sich Form und Inhalt, Erlebnis und Wiedergabe so packend und erschütternd wie hier. Auch nicht ein einziger falscher oder sensationeller, blutrünstiger Ton stört, wie oft in der modernen Berliner Verbrecherlyrik. Im »Vagabundentod« Bindes kommt schon wieder ein größeres Weltbild heraus, als aus den Liedern der alten Handwerksgesellen. Binde, der selbst das Glück und Elend der Wandernden am eigenen Leibe erfahren, gehört eben schon wieder einer anderen Klasse an: dem heutigen Arbeiterstande, der sich mit den schwersten Weltanschauungsfragen, mit den tiefsten Gedanken beschäftigt. Das gibt natürlich andere Vaganten, als die Zeit des kleinbürgerlichen, beschränkten Handwerks.

Einen weit tieferen Querschnitt durch das, was unsere Zeit bewegt, als alle echten Stromerlieder gibt das Gedicht »Weltverbesserer« des Deutsch-Amerikaners Drescher. Da werden das Leben und Werden, die Wünsche und die Wutausbrüche der Vaganten unserer Zeit ebenso rein geboten, wie in der Goliardenbeichte das Mittelalter. Diese Weltverbesserer sind eng mit unserm modernen Leben verwachsen. Sie geben ein getreues Bild unserer Kultur, unserer Zeitfragen, – alles durch ein Landstreicherauge gesehen... Unter den vielen Vagantenliedern Dreschers ist »Weltverbesserer« darum eins der bedeutendsten, trotzdem die Form etwas leicht klingt und unwillkürlich an Lenaus Zigeuner erinnert – was dem Wert des Gedichtes nichts schadet. Kommen ja in ihm zu Worte: die überhitzten Köpfe der helflustigen Ritter vom Geiste – der Pessimist mit seiner Anschauung, nur der komme zu etwas, der erbe oder stehle – der Terrorist, der alle Reichen totschlagen möchte – und zuletzt jener, der erkennt, daß keiner allein recht hat, der Dichter. – Dreschers »Vagantenlust« enthält auch einen besonderen Wert, und zwar durch die Erkenntnis: Keinen roten Mund lockt der Vagant zum Kusse...

Was dieser Band sonst noch an Reizen birgt, kann ja nicht durch und durch erläutert werden. Ich denke, alle werden viel drin finden, was ihnen Besonderes sagt. Der Eine dies, der Andre das.

Nur noch einige Worte: das Wichtigste der heutigen Kultur ist in »Großstadt« gezeichnet. Henckell ist da der Klassiker der Modernen. Er war der erste, der die Tiefe bedichtete; er ist auch der Größte. Seine »Dirne« kann an Gehalt unmöglich übertroffen werden. Und was für die Großstadt die prächtigen Gedichte der Margarete Beutler bedeuten, brauche ich ja nicht mehr zu sagen. Das hat wohl noch keine Frau gekonnt: wie im »Wiegenlied « so ungeheuerlich, so charakteristisch und kraftvoll zu sein. Sie kann sich auch hineinfühlen in so ein armes Geschöpf, sie kann mitfühlend die innersten Triebe der Verlorenen in reinster Lyrik geben und so das Leben der Tiefe, das Leben des Rinnsteins auf eine lichte Höhe heben.

Das aber ist wohl das Merkmal der Größe, der großen Menschlichkeit, nicht hineinzuspucken in den Rinnstein, nicht ihn zu meiden, sondern ihn zu erhellen und zu klären.

Und so schließe ich mein Buch mit Goethe, mit seiner großen Verklärung des Lebens der Verkommenen Dieser Band sollte nur Lieder bringen, die von Deutschen gedichtet wurden. Findet er Anklang, so soll er ergänzt werden. Deutsches soll noch kommen und auch Übertragungen aus dem Ausland. Ich werde mich freuen, wenn ich viele Mitarbeiter finde, wenn mir die Freunde der Sache alles sofort zuschicken, was sie kennen..

Groß-Lichterfelde 3, im Juli 1903.

Hans Ostwald.


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