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Der letzte Tag.

Der Morgen.

Die blasse Frau Lori Granier kommt in ihrem schwarzen, hochgeschlossenen Trauerkleid zum Frühstück in den Garten. Noch ist die Sonne nicht zu heiß, der Laubengang gibt Schatten; es duftet wundervoll nach den roten und gelben Kletterrosen an der Steinwand. Es duftet nach Grün und frischem Morgen. Unerhört jubelnd singen die Vögel in den Büschen und Bäumen, die Nachtigallen, Finken, Amseln. Und fern klingt das sanfte Rufen des Kuckucks.

Ganz still und grau im Sonnenglast liegt der See. Ein weißer Dampfer zieht Furchen durchs träge sich teilende Wasser; schwarz, wie Boote einer anderen Zeit, wie Boote eines Schattenreichs, schwimmen Lastkähne herzu. Ihre Bewegungen sind schwer, verdrossen; das braune Segel wirkt wie ein herber Fleck in all dem sanften Grau der Morgenbeleuchtung.

Und die feierlichen Berge lehnen sanft, durchsichtig wie Glas gegen einen Himmel von purer Klarheit.

Lori kommt aus dem schattigen Haus. Sie steht einen Augenblick still und blinzelt. Ihre Hände, die ruhig zur Seite hingen, fahren plötzlich nervös nach vorn.

Ein Brief liegt auf dem Teller an ihrem Platz.

Von wem ein Brief?

Sie geht eilig mit den unsicheren Schritten der Hastenden vorwärts. Sie späht mit zusammengekniffenen Augen. Eine große, klare Handschrift –, Hans Beer.

Enttäuschung?

Enttäuschung.

Da war einmal eine Stimme, die voll von gütigem Willen sprach: »Sie sind die Frau, nach der ich suche; ich lasse Sie nicht mehr los.«

Lange ist es her, daß die Stimme erklang; lange, lange. Jahrtausende könnten es sein. Aber vielleicht war doch in der Frau, zu der die Worte gesprochen wurden, eine Hoffnung auf die Bewahrheitung. Vielleicht war doch noch ein Funken von Hoffnung, daß Lebensmöglichkeiten von der Seite herkamen.

Und das Versprechen – denkt Lori heiß und hastig.

Das muß gehalten werden.

Und dennoch täte ein Brief, ein einziges Zeichen der Teilnahme von dort so wohl.

Aber der, der so tröstliche Worte für sie hatte, bleibt stumm. Er weiß mit dem feinen Empfinden wohlgeschulter Intuition: es ist nichts mehr zu erwarten von jener Frau. Und nutzlos verpufft er seine Macht nicht. Dazu ist er zu stolz. Dazu ist ihm seine Macht zu lieb.

Mechanisch setzt sich Frau Lori Granier hin, gießt den Tee ein, der vor ihr steht, schaut in die Landschaft und schiebt den Brief zur Seite.

Sie folgt der kleinen, braungrünen Eidechse mit den Augen, die geschäftig auf der Steinbrüstung läuft, verschwindet und wieder auftaucht. Sie rührt im Tee und schneidet ein Brötchen durch. Aber ihr ist nicht nach Essen zumute, sie schiebt es fort, sie nippt nur am Tee.

Und der Brief liegt noch auf derselben Stelle neben dem Teller mit Backwerk. Er starrt sie an mit seinen großen, geraden Buchstaben.

Der Brief ist dort und soll gelesen werden. Es ist eine von den Nachrichten aus der fernen, unendlich fernen, verklungenen Welt.

Der Brief soll gelesen werden.

Manchen Tag schaut sie schon vom Hause aus mit Verlangen nach ihrem Platz und sehnt sich nach Nachrichten, beneidet die anderen Bewohner der Villa, wenn sie hastig ihre Briefe aufschneiden, wenn sie mit freundlichen Augen die beschriebenen Seiten lesen.

Und gerade heute ist ihr angst vor dem Briefe. Irgendwie unbestimmte Angst. Sie weiß, er enthält nichts Wichtiges, denn das Wichtige würde ihr ein anderer als Hans Beer mitteilen. Aber allein die Tatsache, daß der Brief aus der Heimat kommt, von den Menschen, die sie ausstießen, das macht sie zittern. Sie sehnt sich nach Nachricht und zittert dennoch davor.

Und dann öffnet sie langsam den Brief. Sie liest:

 

»Liebe Tante Lori!

Wenn ich Deine Handschrift auf einem Kuvert sehe, freue ich mich jedesmal. Denn du bist und bleibst doch meine geliebte Tante Lori, und wenn Du nur ein bißchen Deine Energie zusammennehmen wolltest und der Rasselbande hier einmal ordentlich die Wahrheit sagen, dann würden sie, glaube mir das, alle ins Mauseloch fahren. Im Grunde haben sie ja doch noch Respekt vor Dir, und wenn sie Dich auch als ganz verlorenes Schaf betrachten, so hält sie das nicht ab, Dir die Füße zu küssen, wenn Du nur verstehst, ihnen zu imponieren.

Sie sind hier ja doch alle feige, bis auf Vater, der ungenießbar wird, Mutter hat einen verteufelt schweren Stand mit ihm, Ernst läßt sich daheim nicht blicken, und ich allein nehme ihn mit Humor, was die Sache erleichtert. Siehst Du, Tante Lori, ich bin ein junger Bengel und ahne noch nicht viel von Weltweisheit. Aber Du kannst versichert sein, Humor ist eine Waffe, die es mit allen anderen Waffen aufnimmt. Sage ich zu Vater: ›Ich brauche Geld, würdest du vielleicht‹ usw., so schmeißt er mich zur Tür raus. Sage ich aber einen Witz und mache ihm dadurch klar, daß der Lebekies nicht auf der Straße liegt, sondern im väterlichen Portemonnaie, so ist die Sache glatt, und ich bekomme, was ich will. Das schreibe ich Dir so ausführlich, liebe Tante Lori, weil ich es nämlich an der Zeit finde, daß Du den Humor als Waffe nimmst und Deinem Dusselkopf von Mann mal ordentlich zusetzt. Ich und er sind ja derart verkracht, daß wir uns nicht mehr auf der Straße grüßen. Denn seit Du weg bist, ist ihm der Kamm geschwollen, und der Prolet kam zum Vorschein. Donnerwetter, ja, ich habe mich über ihn geärgert, daß ich grün wurde, und dann hat er von mir derartig die Wahrheit zu hören bekommen, daß Vater, der dabei war, nur noch sprachlos was von einer Ohrfeige verlauten ließ.

Ja, Tante Lori, ohne Dich ist das Leben recht ledern, und die Familie Beer verledert so, daß man heulen könnte. Vater ist ja nun allerdings zum Oberregierungsrat und Vortragenden Rat im Ministerium des Innern ernannt worden. Er hatte sein grimmigstes Lächeln um den Mund, als die Ernennung kam, woraus ich nichts Gutes schloß. Aber mir soll's gleich sein, denn ich widme meinen Kopf nicht dem preußischen Staat.

Vielleicht interessiert es Dich auch, zu hören, daß Togena Karriere macht. Er hat jetzt einen der besten Dirigentenposten und soll ganz Vorzügliches leisten. Siehst Du, so etwas wäre auch mein Fall. Und für das Vergnügen bekommt der Gute auch noch die Kleinigkeit von zwanzigtausend Mark jährlich. Hätten wir das von ihm gedacht? Nein, wir hätten nicht.

Sag' mal, geliebte Tante, willst Du den ganzen Sommer an den ultramarinblauen Seen bleiben? Ich muß gestehen, ich verstehe Dich nicht. Italien ist doch nichts wie ein besserer Kulissenzauber. Weißt Du, wohin ich mit der armen Mutter im Sommer gehe? Nach England. Ich muß sie ein bißchen aufmutzen, sie wird mir unter der abscheulichen Tyrannenherrschaft hier ganz melancholisch. Vater – wir stehen gerechtermaßen Kopf – will mit Inge an die Nordsee gehen. Inge soll Seebäder nehmen, und Vater hat seit einiger Zeit einen merkwürdigen Narren an dem im übrigen höchst unliebenswürdigen Kinde gefressen.

So, ich glaube, die Chronik ist erschöpft. Von der Geburt des Pachoixschen Stammhalters haben sie Dir hoffentlich eine Nachricht geschickt. Wenn nicht – zuzutrauen wäre es ihnen – so bitte, schreibe es mir, dann halte ich ihm mal einen Vortrag über Knigge, den er nicht allzu leicht vergißt.

Und sonst, Tante Lori, laß es Dich nicht scheren, was die Leute reden. Wenn's ihnen langweilig ist, hören sie wieder auf. Du bist doch immer die köstliche Tante Lori, die die anderen Frauenzimmer mit einer Bewegung in die Tasche stecken kann. Humor, Humor und eine ganz beträchtliche Dreistigkeit mußt Du haben, dann tragen sie Dich morgen wieder auf Händen, und Herr Fritz Granier dienert und schwitzt vor Angst um Deinen Besitz.

Leb' wohl, Du Liebe. Ich grüße Dich herzlich, und Mutter Freya tut es auch.

Dein Hans.«

 

Der Brief sinkt in den Schoß, und Lori starrt geistesabwesend in die Ferne. Immer noch ist das Wasser des Sees grau wie geschmolzenes Blei; der Dampfer ist verschwunden, die großen, schwarzen Kähne sind verschwunden, nur fern zieht noch ein kleines, weißes Segel hin. Die feierlichen Berge lehnen mit weichen Konturen an den blaßgetönten Himmel. Die Berge sind fern und hoch.

Lori streicht sich über die Stirn. Sie versucht, die Gedanken zu sammeln. Aber alles läuft durcheinander. Der ganze Brief scheint ihr wie ein wirres Durcheinander von Worten. Und nur eins leuchtet klar und unerbittlich daraus hervor: Togena war ein gemachter Mann. Togena war nicht mehr der sensitive Künstler, dessen Talent Schutz vor einer kleinbürgerlichen Umgebung brauchte. Togena verdiente, war angesehen. Er hätte ohne die mindeste Gefahr für sich in glücklicher Ehe mit Josephine leben können. Mehr als das noch, Josephine, die Sorgende, immer Verstehende, wäre die rechte Frau für ihn gewesen. Er hätte sich in der geordneten Umgebung, die sie immer um sich verbreitete, nur hinauf entwickeln können.

Lori starrt und starrt. Sie vergißt den Tee in ihrer Tasse, sie vergißt ihre Umgebung, die Schönheit des Parks. Sie vergißt, daß langsam die Sonne zu ihr herankam und sie mit ihrem Licht blendet. Sie sitzt wie aus Stein.

Nein, ein Leben mit diesem ungeheuren Bewußtsein von Schuld war unmöglich.

Unmöglich, flüstert sie noch.

Und all das andere, was Hans schrieb, all die munteren Aufforderungen zur Energie, die waren auch vergebens. Denn Energie ließ ihr dies Dasein nicht mehr. Es fraß jeden Rest von Willenskraft auf mit seinen ungeheuren Anforderungen an Kraft und Nerven. Sie würde nie mehr die siegreiche Lori sein, sondern die elende, die geduckte, die unsichere, die flieht und sich verbirgt. Eine Natur wie sie bog sich nicht, die brach.

Brach mehr und mehr und immer mehr in sich zusammen.

Erkenntnisse gab der Brief, Erkenntnisse, wie sie nicht wuchtiger sein konnten. Der Brief, der zum Leben rief, rief sie zum Verderben. Langsam steht sie auf, sie fühlt, wie unsicher ihre Bewegungen sind, wie sie im Fortwenden den Stuhl umwirft und verlegen sich bückt. Wie sie mit dem fatalen Lächeln, das ihr selbst zum Ekel ist, sich wieder aufrichtet und dann vorwärts schreitet; immer noch das Lächeln auf den Lippen, immer noch fühlend, daß das Lächeln nicht wich.

Als sie in ihr Zimmer kommt, sinkt sie halb besinnungslos auf einen Stuhl und weint.

Der Mittag.

Lori erwacht erst aus der Betäubung und dem Schmerz, als die hallende Glocke zum Lunch ruft. Sie geht mechanisch zum Spiegel und fährt sich über das Haar, um es zu glätten. Sie sieht an sich herab. Dabei meint sie zum ersten Male zu bemerken, daß ihre Toilette nicht vollkommen auf der Höhe ist. Irgendwie fehlt etwas in Schick oder Sorgfalt. Aber sie schaut fort und gibt sich nicht einmal die Mühe, zu ergründen, woran es liegt.

Als sie in den kleinen Eßsaal tritt, der kühl ist und wohlbeschützt vor der Sonne, bemerkt sie ein Paar, das sie bisher noch nicht in der Villa erblickte, einen Herrn mit einem grauen Backenbart, vornehm und ein bißchen spießbürgerlich zurückgelehnt, und eine Dame, deren Antlitz regelmäßige und sanfte Züge zeigt. Sie hat ein blasses, volles Gesicht, schöne, aber leidende Hände.

Die wenigen Gäste, bis auf Frau von Kowalewska, sind versammelt, die Kellner haben den ersten Gang serviert, es ist sehr still.

In diese Stille hinein tritt die schmale, blasse, junge Frau. Und dann bleibt sie plötzlich stehen. Alle Farbe weicht aus ihren Wangen. Sie macht eine Bewegung zur Tür. Sie geht doch nicht zur Tür.

Sie steht und blickt in Starrheit auf die beiden Neuangekommenen.

Ein Löffel klirrt, die alte Dame beugt sich verlegen hinab. Ihr Gatte schaut sie an, seine Augen sind streng. Er sagt leise, vorwurfsvoll: »Marie!«

Aber da ist die junge Frau plötzlich an dem Tisch der Fremden. Sie ist schneeweiß, ihre Lippen beben. Die Worte, die paar armseligen Worte, die sie spricht, überstürzen sich. »Kennen Sie mich denn nicht mehr? Wollen Sie denn nicht –?«

Sie kommt nicht weiter. Der alte Herr erhebt sich. Erst jetzt sieht man, wie groß er ist. In seiner vollen Größe steht er da. »Ich habe nicht die Ehre, gnädige Frau.«

Scheu sieht die alte Dame fort. Ihre weißen, leidenden Hände sinken auf den Tisch. Ihr Mund zuckt.

Und da deckt Frau von Kowalewska die Hand über die Augen. Sie greift mit den Händen vor wie nach einem Stützpunkt. Sie weicht zurück. Langsam, schweigend, mit unsicheren Schritten verläßt sie das Zimmer.

Schweigen.

Lori sieht, wie die alte Dame ihre Hand flehentlich auf den Arm ihres Gatten legt.

Aber er schüttelt den Kopf. Seine Augen sind wie von Stahl. »Haltung, Marie, Haltung!« Und nach einer kleinen Pause: »Es war mir peinlich genug, es war mir unendlich peinlich, aber ich konnte nicht anders. Diese Frau –«

»Ludwig, Ludwig!«

»Ich konnte nicht anders, Marie. Es war mir unmöglich, eine Frau zu begrüßen, von der ich weiß, daß sie in allerniedrigster Art –«

»Ludwig, denke daran, was für einen Mann sie besaß.«

»Das ist gleichgültig, Marie, es war ihr Mann –«

Schweigen.

Lori hört alles. Sie ist weiß wie ein Tuch. Ihre Lippen beben.

Ihre Gedanken überstürzen sich, aber keiner ist klar. Keiner ist klar.

Nur das Entsetzen.

»Und ich, ich, ich –,« stammeln die Gedanken, »und ich an ihrer Stelle – ich –«

Der Abend.

Es ist warm, und die Nachtigallen rufen im Park. Wo die Bäume dicht stehen, wie eine Wand, und wo das Gras in üppiger Pracht gedeiht, da rufen sie lockend.

Und es duftet. Es duftet unerhört schwül und betäubend. Große Nachtfalter stehen vor den entfalteten Blüten; der Springbrunnen plätschert, der Springbrunnen singt. Und sonst ist Schweigen. So tief ist das Schweigen, daß der gleichmäßige Rhythmus der Ruderschläge vom See hinaufklingt. Das Wasser tropft, die Ruder tauchen ein, die Ruder ziehen sacht durch den See. Ein Ruck, und wieder tropft das Wasser.

Die blasse Lori Granier hebt die Schultern hoch, schaut auf und senkt den Blick wieder auf das weiße Blatt Papier. In diesen Augen ist keine Hoffnung mehr. Sie schreibt.

 

… Und wenn Du mir nicht glaubst, Hasso, so lies das Buch, das ich zu diesem Brief versiegelt lege. Lies es allein, Hasso, ich bitte Dich darum. Du wirst Dir klarer werden über mich und wirst vielleicht, vielleicht verzeihen.

Hasso, ich habe die ungeheure Schuld begangen und habe keine Verteidigung für mein Tun. Ich habe alles gegen mich, die ganze Welt. Hasso, ich war schlecht, ich war verblendet, ich war in einer Art, die nicht Verteidigung verdient, unzurechnungsfähig.

Ach, Hasso, wenn wir im Glück und Wohlstand sind, so kennen wir die Tiefen des Lebens nicht. Wir wissen nicht, wie nahe sie sind. Wir sind töricht und halten die Tiefen für Höhen und stürzen hinein.

Niemand ist schuld an meinem Unrecht als ich selbst.

Niemand ist schuld an meinem Tode als ich selbst. Ich sage das, um etwa einen Druck von Euch zu nehmen, der Euch, die Ihr mich fallen ließet, beschweren könnte. Ihr habt recht getan, und ich habe unrecht getan. Alles ist klar, alles ist so klar wie die Sonne, die ich nun nicht mehr sehen werde.

Sieh', Hasso, es gibt keinen anderen Ausweg für mich. Ich habe die Kraft verloren, die einzig und allein mich retten könnte. Ohne die Kraft bin ich haltlos. Ich könnte vielleicht, Hasso, ein Leben voll von Resignation führen. Aber dazu müßte ich das Resignieren lernen. Ich müßte lernen, nicht mehr Lori Beer und Lori Granier zu sein, sondern ein unscheinbares Ding, das sich dem unscheinbaren Stil des Lebens anpaßt. Hasso, ich müßte durch tausend Erniedrigungen gehen und tausend herbe, herbe Nadelstiche fühlen. Und nicht nur das, Hasso, ich müßte mit mir selbst im Innern fertig werden. Ich müßte dort eine ungeheure Kraft anwenden, um mir Stunde für Stunde zu sagen: Dein Leben ist Buße.

Und die Kraft fehlt mir. Ich sehe ein, daß ich einem Leben, wie ich es von mir verlangen müßte, nicht gewachsen bin. Ich bin nicht feige, Hasso, nur schwach.

An diesem letzten Tage brach ich zusammen. Nicht Hans' lieber Brief ließ mich zusammenbrechen und auch nicht die grauenvolle Szene der armen, kleinen, scheuen Frau, sondern die Überlegung, die aus beiden kam. Heute erst sah ich endlich klar. Die Klarheit zeigte mir unerbittlich den Weg, den ich zu gehen habe.

Wie ist die Welt dennoch schön. Ich sehe einmal noch die wunderschöne Nacht. Die schattenhaften Umrisse der Berge, die lichterleuchtenden Ufer. Ich sehe die Sterne an, die Welten sind. Ich sehe den See, der schwarz ist wie ein Abgrund.

In einer Stunde wird der Mond voll und feierlich über die Berge steigen. Er wird über dem See stehen, und sein Licht wird Silber auf das Wasser gießen. Dann, Hasso, werde ich den dunklen Weg, der in Serpentinen zum See führt, hinabsteigen. Ich werde ihn zum letzten Male gehen. Ich werde alles um mich her zum letzten Male sehen. Aber ich will die Kraft haben, alles in Schönheit zu sehen.

Zwei Bitten noch: Laß mich begraben sein, wo ich gefunden werde.

Und hilf Du Inge, diesem zarten Kind, zu rechter Lebensauffassung. Sie darf nicht versteinern, Hasso; sie wird ein Weib, bedenke das, sie darf nicht versteinern.

Über den Bergen im Osten steht schon ein heller Schein; ich schließe den Brief. Leb' wohl.

Lori.«

 

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Druck von W. W. (Ed.) Klambt, G. m. b. H. & Co.,
Neurode i. Schles.

 


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