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XXV.

Es ist wieder Abend. Immer noch weht der Wind von Westen, ein feuchter, lauer Wind. Wieder steht die große Stadt in einem Nebel, der rot ist wie Feuer. Wieder brennen die Laternen trüb. Wieder taucht ihr Licht in den nassen Asphalt ein, wie in ein tiefes, schwarzes Wasser. Die Wagen hetzen, die Menschen hetzen.

Lori steht in dem alten Wohnzimmer an ihres Vaters Lehnstuhl. Tief liegen ihre Augen, ihr Gesicht ist eingefallen. Ihre Gestalt scheint eckig, scheint in den Kleidern zu hängen.

Sie hat beide Hände auf die Lehne des alten Stuhls gestützt. Sie sieht aus dem Fenster in den Regen hinaus.

Am anderen Fenster steht gebückt und alt Fritz Granier.

Er spricht: »Und ich hätte alles vergessen, Lori. Ich hätte dich mit offenen Armen empfangen. Ich hätte mein ganzes Leben um deinetwillen geändert, wäre fort von Berlin gezogen, wer weiß wohin, nur dir zu Gefallen. Denn ich liebte dich, wie man nur einen Abgott lieben kann. Ich war stolz auf dich; ich war wie ein Pfau, blähte mich und horchte umher, wie man die schöne Frau Granier lobte, wie man ihren Geschmack und ihr vollendet vornehmes Auftreten bewunderte. Ich saß im Klub, und dann kam der und jener und fragte nach dir und hatte immer einen eigentümlichen Ton in der Stimme, der nach Bewunderung und vielleicht auch nach Neid klang. Und wenn du mich elend behandeltest, übersahest, wenn du deinem Kinde keine Mutter warst, wenn ich dich auch nicht verstand, Lori, so liebte ich dich dennoch weiter. Ich liebte dich, obgleich Hasso harte Worte sprach und Günther die Achseln zuckte. Ich liebte dich mit der gleichen großen Liebe. Aber dann –«

Er schweigt. Lori schaut immer noch unausgesetzt aus dem Fenster. Sie zittert, die Worte dünken ihr wie kaltes Wasser, in das sie wieder und immer wieder tauchen muß.

»Und dann,« fährt er fort, »dann sitze ich vor ein paar Wochen im Klub und lese. Ein Bekannter kommt, schlägt mir auf die Schulter. ›Na, wie geht's, Granier?‹ Wir schütteln uns noch die Hand. Und plötzlich fängt er an von München zu erzählen. Weiter spricht er: ›Frau Gemahlin scheint ja sehr vergnügt da zu sein.‹ Vergnügt, sagte er, nichts anderes. Aber ich hab' feine Ohren, dies ›vergnügt‹, das klang nicht gut. Das klang wie offener Hohn. Und ich will ihn noch fragen, was er damit meint, aber ich bring's nicht über die Zunge. Ich bring's nicht mehr heraus. Wie in Schande saß ich. Wie in Schande, Lori, verstehst du?«

Sie schweigt weiter. Immer weiter taucht sie unter in beißend kaltes, schwarzes Wasser. Finsternis ist um sie her. Sie fühlt, jeder Stützpunkt weicht. Erst wichen die Brüder, dann befahl die große, unerbittliche Macht der Sterbenden, den aufzugeben, der Lebensmöglichkeiten gab. Granier blieb als Letzter, ihr unbewußt war er immer noch ein Halt gewesen. Sie hatte gemeint, daß sie nur zu winken brauchte, und dann flöge er auf sie zu. Immer war der Gedanke unbewußt und tief im Inneren gewesen: ich kann noch zurück. Wenn ich nur will, so habe ich ein Heim. Sie starrt regungslos in den Regen.

Da tritt Granier plötzlich vor sie hin. Sie sieht, sein Gesicht ist rot, verzerrt. Er dämpft die Stimme, weil das das Haus einer Toten ist, und doch schrillen die Worte: »Und dann holte ich mir Klarheit bei Hasso, Lori! Jawohl, ich weiß alles. Ich weiß, wie du in unersättlichem Genuß gelebt hast. Ich weiß, wie du tiefer und tiefer sankst. Wie du stadtbekannt wurdest in München, so daß du Hals über Kopf fort mußtest. Und wo gingst du hin? Wohin? Nach Paris, natürlich, nach Paris. Das war das Pflaster für dich. Da konntest du untertauchen. Eine Liebelei mit einem Geistlichen gab ein hübsches Mäntelchen. O, meine Liebe, richte dich nur nicht so stolz auf. Das verfängt bei mir nicht mehr. Ich habe dich kennen gelernt. Ich weiß, daß du nicht besser bist wie die erste beste Dirne auf der Straße. Die will sich auch amüsieren, hat auch noch Hunger als Entschuldigungsgrund. Und du, du, mein Kind, hast gar keinen Entschuldigungsgrund. Sage einen, Lori, sage einen einzigen. Sage einen triftigen Grund, der dein Fortgehen von uns rechtfertigt.«

Sie senkt den Kopf. Es ist ihr nicht einmal möglich, ihn Verachtung fühlen zu lassen. Sie kann nichts tun, als mit gesenktem Kopf vor ihm stehen.

Und er reckt sich stolz. Der Rest aller Achtung vor der Frau geht unter in dem Gefühl des Stolzes. Er begreift plötzlich, daß in ihm neben aller Liebe und aller Bewunderung ewig ein Gefühl verletzten Stolzes lief. Sie deuchte sich mehr als er, sie sah auf ihn herab, und das verwundete. Jetzt kam die Abrechnung; jetzt, wo die Liebe fort war, hatte der Haß vollkommene Oberhand.

Er fährt auf sie zu, greift nach ihrem Arm und schüttelt sie. »Und ich sage dir, mein Haus betrittst du nicht mehr. Ich will ein reines Haus haben. Ich will mein Kind wahren vor solch einer Mutter. Ich will nicht, daß die Leute mir Fingern auf mich zeigen und sagen: Dem hat seine Frau auch die Hörner gewaltig aufgesetzt, und er tut, als merkt er nichts! Das sollen sie nicht von mir sagen, nein! Ich bin Manns genug. Besinnen mußte ich mich; nun, ich besann mich endlich.«

Alle Kraft ist von Lori gewichen. Sie fühlt, sie steht allein, sie steht allein gegen die ganze Menschheit. Sie steht, und alles deutet mit Fingern auf sie. Und da halten die Nerven nicht stand, alles in ihr versagt. Sie fühlt keine Verachtung mehr gegen den Mann, der vor ihr steht, dessen Eitelkeit ihm jeden Rest von Liebe zu ihr nahm. Sie fühlt nur Schuldbewußtsein. Und plötzlich irrt ein verlegenes, ödes, unnatürliches Lächeln um den Mund. Ein Lächeln, das wie um Verzeihung bitten will, das demütig ist. Und mit grausamer Deutlichkeit sieht sie, wie ihr Lächeln seinen Mund verächtlich zucken läßt. Sie hat verspielt, sie weiß es.

»Ich werde dir,« sagt er, »eine jährliche Rente von zehntausend Mark aussetzen, damit wirst du auszukommen haben. Zehntausend Mark sind viel bei sparsamer Haushaltung. Eine Scheidung will ich um deiner Familie willen, die ich achte, vermeiden. Aber mein Haus muß ich dir verbieten. So, das war es, was ich sagen wollte.«

Sie senkt den Kopf tiefer, tiefer. Sie lächelt nicht mehr das öde Lächeln; die Unsicherheit wich der Scham. Der unerträglichsten Scham.

»Wenn du noch Wünsche hast,« sagt er nach kurzer Pause, »so bitte ich dich, sie mir jetzt mitzuteilen. Dies hier soll unsere letzte Unterredung sein. Ich habe keine Lust, mich mit dir in lange Unterhandlungen einzulassen, aber berechtigte Wünsche respektiere ich.« Und als sie wieder nur schweigt, fährt er fort: »Das Kind gehört mir, mir allein. Ich werde niemals einwilligen, daß du es, wenn auch nur für Tage, in die Hände bekommst. Doch soll dir kurz und knapp Nachricht über sein Befinden zugehen. Die Sachen, die dein Eigentum sind, stehen jederzeit zu deiner Verfügung.«

Lori sagt leise: »Ich habe keine Wünsche.«

»Gut. Aber soweit ich dich kenne, werden dir genügend Wünsche einfallen. Du kannst sie mir schriftlich mitteilen –.«

Lori richtet sich auf, sie wendet sich und sieht auf Granier. In ihrem Antlitz ist nichts mehr als unsäglicher Schmerz. Der Schmerz verleiht ihr etwas von der alten königlichen Schönheit. Und dann streckt sie die Hand aus. In der Bewegung ist Abwehr und ein intensiver Ekel. Nichts von Unsicherheit und Scham ist mehr in ihr. Sie schaut Granier nur an, aber ihre Augen sagen tausendmal mehr als Worte. Ihre Augen sind schwarz von Verachtung und Haß. Jetzt, wo alles verloren ist, empfindet sie instinktiv, daß wenigstens der letzte Augenblick ihm gegenüber ihr gehören muß. Sie reckt sich auf mit der schönen Grazie alter Tage, und zwingt den Mund zum herben Spott. Dann tritt sie vor, und ohne die mindeste Notiz weiter von dem unwillkürlich Zurückweichenden zu nehmen, geht sie langsam an ihm vorbei zur Tür hinaus.

Aber im dunklen Korridor sinkt sie schon wieder in sich zusammen. Sie zittert, sie duckt sich. Als sie die Jacke vom Haken nimmt, können ihre Finger sie kaum festhalten. Sie setzt den Hut auf; er ist schief, sie sieht es nicht. An der Tür, die zu dem letzten Lager der alten Frau führt, bleibt sie stehen. Dann schleicht sie vorbei. Sie schleicht geduckt die Treppe hinab, sie schleicht sich aus dem Hause wie ein Dieb.

Feuchte Nebelluft schlägt ihr beklemmend entgegen. Der Platz liegt dunkel, öde vor ihr. Er scheint riesig, die kleine Kapelle ragt übergroß auf. Sie hat keine Konturen, ein Schemen ist sie, ohne Dach, ohne Turm. Und die Menschen, die seltsam nahe aus dem Nebel tauchen, seltsam eilig verschwinden, sind auch schwarz, groß, wie unheimliche Wesen.

Lori geht weiter. Sie geht eine kleine Straße entlang, die in roten, purpurroten Dunst endet. Ihre Füße sind schwer, aber sie merkt es kaum. Sie hat nur das Bestreben, vorwärts zu kommen, fortzukommen von jenem Haus, wo niemand mehr ist, der zu ihr hält. Sie schleicht die Berliner Straße hinauf. Elektrische sausen vorbei; sie sind hell erleuchtet, sie sind vollbesetzt mit Menschen. Ihre Räder kreischen, ihre Drähte sprühen Funken aus, die grell und blau sind wie Blitze.

Kahle Bäume zur Seite. Kahle, schwarze, nasse Bäume, Kronen, die im Dunst verschwinden. Lori denkt zurück an ihr Leben. Sie denkt daran, wie sie mit einer Schulmappe unter den Bäumen entlang ging. Sie denkt an ihre Jugend.

War sie nicht damals ein anderer Mensch. Ein ganz fremder Mensch, der fremd fühlte und handelte. Sie denkt an Graniers erste Frau. Sie denkt an ihre Hochzeit mit ihm. Sie denkt an die Jahre der Ehe. Auch damals war sie ein anderer Mensch, ein zweiter, ein dem ersten wiederum fremder.

Sie denkt an die alte Frau, die droben kalt und starr auf ihrem letzten Bett liegt. Die war noch ein Band. Die war noch ein Halt. Jetzt ist alles zerrissen.

Mit maßlosem Entsetzen sieht sie ihr Leben an. Sie steht an einem Baum und merkt nicht, wie man sie anstarrt. Ihr Hut ist schief, sie taumelt.

Ein Ende machen. Ein Ende machen. O, nur die Kraft noch haben, ein Ende zu machen.


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