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XI.

Lori Granier tritt in den Saal. Das Licht schlägt ihr grell entgegen; es peinigt sie, es läßt sie die Unnatur, die Unkultur empfinden, die einen hell beleuchteten, kalten, geschmacklosen Raum zum Konzertsaal machte.

Lori geht hastig den Gang entlang zu ihrem Platz in der vordersten Reihe. Sie empfindet plötzlich etwas wie Feindschaft, sie empfindet fast Haß. Es ist ihr zumute, als seien all die hier Sitzenden, die Hereinströmenden Togenas Widersacher. Sie schaut sich nicht um, setzt sich rasch.

Aber da kommt Hans Beer. Groß, blond und hübsch kommt er an, lachend. »Nun, Tante Lori, wie geht's? Hast du Lampenfieber für Togena? Du bist scheußlich blaß. Donnerwetter, die Konzerttoilette! Ist das Paquin? Nein? Wer denn sonst? Aha, jetzt kommt die kleine Daisy an und auch Frau von Pachoix.« Er lacht und begrüßt die Damen. Er ist wie frisches Wasser in dem kahlen Raum. Mabel macht ein niedliches Gesicht und erzählt, was sie empfindet: »Draußen war eine große Plakat mit ›Ausverkauft‹! Daisy kniff mir in die Arm, so war sie stolz. Yes, my dear, du warst stolz und hast gekneift. Ich war auch stolz. Warum, Herr von Beer? Aber natürlich, weil wir kennen Herrn Togena. Es macht wohl stolz, zu kennen ein Mann mit ein ausverkauftes Konzert.«

»Nicht so laut,« flüstert Daisy. Sie schaut sich um und folgt Loris Augen. Sie sieht mit Lori, wie der Saal sich füllt, wie plötzlich das Kahle schwindet, wie die Massen sich beleben. Da ist eine rote Bluse, sie leuchtet. Da ist ein Herr mit auffallend weißem Haar; er steht zurückgelehnt, er lächelt. Lori fühlt, er spricht Gutes von Togena; ihr Empfinden geht zu ihm, es ist glücklich über ihn.

Mehr und mehr strömt es herein. Daisy sagt: »Wo wollen nur all die Menschen hin!« Eine Dame in einem gelben Kleid ist sehr laut; sie lacht und schwatzt, sie winkt; zwei Backfische sind da, gleich angezogen, verschämt, geduckt. Sie sitzen in den vorderen Reihen und haben verträumte Augen.

»Feinde,« denkt Lori, »Feinde. Nein, Freunde, Verehrer. Wieviel Verehrer?« – Da trifft sie plötzlich etwas wie ein Schlag. Sie hat zu den Logen aufgeschaut. Die Logen sind dicht besetzt; in der Mitte ist eine blasse Frau im dunklen Kleid, sie lächelt, hebt die Hand – Josephine.

Hans und Mabel winken lustig herauf. Sie sind immer noch bei ihrer Unterhaltung, die niemals abbricht. Hans sagt: »Wie blaß Biron aussieht, oder macht das nur die Beleuchtung. Nein, ängstlich, sieh doch, Tante Lori!«

»Biron?« sagt Lori. Ihre Stimme kommt von weit her, sie ist matt. Es ist, als wüßte sie gar nicht, daß sie den Namen sagt.

Angestrengt arbeiten Loris Gedanken: Birons kamen, kamen doch, kamen doch! Kamen doch –

Die anderen drei unterhalten sich wieder, sie lachen. Sie sind ganz außergewöhnlich vergnügt, wie es scheint. Lori denkt, warum sind sie vergnügt? Sie fühlt etwas wie einen Alp.

Birons kamen doch –

Das Stimmengeschwirr wird ihr unerträglich, die knallrote Bluse ist unerträglich, die Luft –

Da – es kommt plötzlich andere Bewegung in die Massen der Sitzenden. Die Hälse recken sich. Daisy und Mabel sind verschwunden. Ein Händeklatschen beginnt; Hans applaudiert, daß es dröhnt. Jetzt wendet auch Lori den Kopf.

Togena ist erschienen.

Togena steht schlank, blaß auf dem Podium. Er verbeugt sich linkisch, anmutig. Die schmalen Hände reiben sich nervös aneinander; er lächelt.

Jetzt setzt er sich.

Er legt die Hände auf die Tasten. Das Spiel beginnt.

Enthusiasmus –

Das wunderbare Fluidum des Enthusiasmus verbreitet sich plötzlich. Es ist wie ein Stück der Musik, wie die Musik selbst. Wie eine Wolke, die alles umhüllt.

Klare, reine Töne rinnen durch die große Stille im Saal. Klare Töne singen, klare Töne rufen, klare Töne folgen sich in wunderbarer Harmonie.

Und die Wolke des Enthusiasmus verdichtet sich.

Lori fühlt den Enthusiasmus. Sie fühlt, wie der schmale, blasse Mann am Flügel eins ist mit der Menge, wie die Herzen ihm entgegenschlagen, wie er Herrscher ist.

Es saust in ihren Ohren. Sie hört nichts von den Tönen, sie hört nur jenes dumpfe Sausen, das klingt wie tiefer Glockenschlag. Wie durch einen dichten Nebel sieht sie Menschen um sich her. Sie sieht eine alte Frau im weißen Haar, der die Tränen aus den Augen rinnen. Sie sieht einen Mann, der den Kopf senkt, tiefer, tiefer.

Der weiße Nebel hüllt sie ein. Der weiße Nebel, die weiße Wolke Enthusiasmus hüllt sie ganz ein.

Am Flügel sitzt der Herrscher, der, dem sie sich beugen muß. Der, der zum Beugen zwingt. –

»Meisterhaft,« sagte Hans Beer leise neben ihr, »Chopin spielt er immer meisterhaft; doch so wie heute –.« Er schweigt plötzlich.

Wie eine kleine, sanfte Klage gleitet die Musik durch den Saal; dann wird sie übermütig, sie tanzt. Sie wird immer übermütiger. Nichts von Klagen mehr. Nur Rauschen, Jubeln. Unerhörte Lustigkeit, unerhörtes, wiegendes, lachendes Wirbeln.

Schluß. Stille.

Der Enthusiasmus entfesselt einen ungeheuren Applaus. Jemand ruft fortwährend: »Bravo, Bravo!« Jemand hebt die klatschenden Hände hoch in die Luft. Jemand sagt laut wie in Eigensinn: »Togena, Togena, Togena!«

Der Applaus legt sich, es wird still. Es raschelt noch wie von vielen seidenen Kleidern; Räuspern hier und da. Togena hebt die schmalen, müden Hände, legt sie auf die Tasten.

Jetzt ist es still im Saal, wie in der Kirche.

Beethoven –

Neuer Enthusiasmus, ernster, heiliger. Enthusiasmus, der nach Weihrauch duftet, nach still und rot sich verzehrendem Kerzenlicht, nach Wundern, Offenbarungen.

– Franz Biron neigt das Haupt. Er geht als Kind über die weiten Wiesen. Hohe Stulpstiefeln hat er an, einen grünen Kittel. Der Vater ist neben ihm; er ist ernst.

Stille Luft mit Grillenzirpen, Glockenklang. Die Natur weiß, es ist Sonntag. Sie ist feierlich. Schöne weiße Wolken ziehen am Himmel; der Himmel ist blau, fern, hoch.

Drüben ragt der spitze Kirchturm auf. Sie gehen zur Kirche. Franz Biron fühlt: wir gehen durch den heiligen Sonntag. Ihm ist andächtig zumute, er sieht den Vater an, dessen lustige Augen auch andächtig blicken. –

Pappeln stehen am Wege, sie rauschen. Viele schwarze Vögel fliegen auf.

»Was sind das für Vögel, Vater?«

»Stare, Franz, hörst du nicht, wie sie pfeifen?«

Sie schweigen wieder. Jetzt ist die Wiese zu Ende. Die Chaussee kommt. Viele andächtige Menschen sind unterwegs. Sie sind alle sauber und ernst.

Wie die Glocken dröhnen –

Die Gedanken verwirren sich. Ihn schwindelt. Wieder kommt das sonderbare Gefühl heißer Angst über ihn. So ging es schon den ganzen Nachmittag, und er war drauf und dran, das Konzert nicht zu besuchen. Aber Josephines Augen baten – baten –

Er sieht nach ihr hin, wie sie still und weiß auf ihrem Stuhl sitzt, still und weiß. Zu unterscheiden sind die Züge kaum für ihn. Was denkt sie wohl?

Er sieht, sie regt sich jetzt.

Ihre Hände pressen sich ineinander, fest, fest, fest. Was denkt sie wohl?

Josephine wird um einen Schein blasser. Sie lächelt ein wenig, sie weiß es nicht und lächelt doch.

Für mich spielt er – denkt sie, nur für mich. Mein ist er, dennoch mein, trotz allem. Mein, mein, mein! Dieser Mann ist mein! Ich weiß es, er weiß es.

Es brennt in mir, wenn ich an ihn denke. Es ist unrecht, unrecht, und doch kommen die Gedanken. Wie Vögel, wie Wolken, wie Wind, ohne unser Zutun; sie kommen – kommen.

Mein ist er.

Die suggestive Wirkung des Enthusiasmus hüllt sie ganz ein, hüllt sie ein und läßt sie zittern wie im Fieber.

Doch mein!

»Inge, Inge!« hört sie ihren Gatten neben sich flüstern. »Meine kleine Inge!«

Die Wolke des Enthusiasmus reißt jede Empfindung bei seinen Worten fort.

Doch mein, mein! denkt sie nur.

Der Applaus weckt sie brüsk. »Wo war ich?« fragt sie sich erschrocken. –

– Die Pause ist voll von den Stimmen der aufgeregten Leute. Es ist ein Kommen und Gehen. Große Menschenströme drängen langsam zu den Türen. Kühle Luft dringt ein.

Man hört Togenas Namen überall. Überall Lob.

»Chopin war herrlich.«

»Aber er faßt Chopin doch sonderbar auf.«

»Beethoven, den verstehe ich besser, kenne ihn besser. Beethoven ist Klassiker, Chopin –«

»Aber ich bitte Sie, mein Lieber, Chopin ist Klassiker so gut wie nur ein anderer.« Ein Mann mit schwarzen Bartkoteletten richtet sich hoch auf. »Chopin, das verstehen Sie eben nicht, der ist wie künstlerische Reinkultur, nur Künstler, nur großer, enormer, virtuoser Künstler! Und Togena, der Künstler Togena versteht das.« –

Die Stimmen entfernen sich. Lori faßt nach Hans Beers Arm.

»Wir wollen ins Künstlerzimmer gehen!«

Als sie sich erhebt, fühlt sie, daß sie taumelt.

Lori hat das dringende, das nagende Bedürfnis, Togena, wenn auch nur für Augenblicke, allein zu sprechen. – Aber im Künstlerzimmer ist große Assemblee, meist Herren, die wichtig beieinander stehen und den Erfolg des Abends besprechen.

»Er hat das Publikum in der Tasche,« sagt ein kleiner Dicker und lacht dröhnend.

»Noch nicht, mein Freund, noch nicht ganz. Aber ich muß selbst sagen: er beherrscht den Flügel fast besser als die Geige. Dieser Abend scheint ein Triumph zu werden –.«

»Aber, bester Mann, er ist schon ein Triumph. Sehen Sie doch die Frauen im Saal an. In Berlin machen die Frauen den Erfolg. Wenn sie begeistert sind, ist alles begeistert. Und wenn Frau A. morgen zu Frau B. fährt und ihr von Togena vorschwärmt, ärgert sich Frau B. grün, daß sie gestern nicht mit dabei war. So ist es nun einmal, mein Lieber. Die Frauen wollen auch einen Künstler, der ihnen gefällt, wissen Sie –.«

Ein sehr lebhafter, älterer Herr, der fortwährend herumwirbelt, fährt dazwischen und ruft: »Der größte Erfolg der letzten Jahre, den hat er. So ein Applaus ist mir ja noch nicht vorgekommen. Ich habe es immer gesagt, unser Togena ist verblüffend.« Er reibt sich die Hände und spricht ein paarmal in unglaublich rascher Folge das Wort »verblüffend« aus. Als er hört, wer Lori ist, läßt er sich interessiert vorstellen und sagt ihr ein paar Komplimente, die sie in ihrer plumpen Art zu jeder anderen Zeit zum Lachen gereizt hätten. Heute lacht sie nicht, sie hört sie gar nicht.

Eine stark dekolletierte Dame, die mit tiefer Stimme spricht und theatralische Bewegungen macht, beschäftigt sich unausgesetzt um den Künstler und wirft Lori zornige Blicke zu, als sie in ihrer kühlen Art nur sagt: »Sie haben sehr schön gespielt, Togena!«

»Sehr schön!« ruft sie überschwenglich, »er hat himmlisch, er hat göttlich gespielt. O, er ist ein Gottbegnadeter. Man müßte vor ihm knien.«

»Bitte, genieren Sie sich nicht!« ruft einer der Herren und lacht laut auf.

Die Dame, von der Lori hört, daß sie eine bekannte Sängerin sei, wirft dem Sprechenden einen wütenden Blick zu; aber sie beschäftigt sich sogleich wieder mit Togena.

»Sie müssen etwas zu sich nehmen, Maestro, nur ein Gläschen Champagner. Hier, bitte. Aber wenigstens nur einen Schluck, bitte, bitte!«

Sie ist wie ein großer Vogel, der aufgeregt hin und her hüpft und sich wichtig vorkommt.

Lori lächelt spöttisch. Es ist ihr plötzlich unerträglich, noch länger in dem Zimmer zu bleiben. Sie nickt Togena zu und geht hinaus.

Eine Stunde später.

Das Konzert ist zu Ende, und der donnernde Applaus jubelt den Namen des Künstlers. Alles steht, alles ist wie benommen vom Enthusiasmus, alles möchte Togena die Hand drücken, persönlich ihm seine Freude aussprechen. Man drängt sich, stößt; ein paar hysterische Weiber werfen ihm verliebte, bereite Blicke zu.

Lori steht mitten in der Menge. Sie steht wie eingekeilt. Es ist ihr zumute, als müßte sie hinaus, fort, fort. An diesem Abend gehört der Gefeierte doch ihr. Sie hat ihn eingeladen, er wird kommen. Für sich wird sie ihn nur im Beisein ihres Gatten und Hassos und Hans Beers haben; für sich, für sich!

Der Künstler verneigt sich zum letzten Male. Er ist blaß, angestrengt; er lächelt. Lori sieht, wie er zum ersten Rang hinauflächelt. Sie wendet sich; sie sieht, wie Birons nicken und winken.

Sie nicken, winken. Josephine hat den Mund geöffnet, ihre Augen blicken sehnsüchtig.

Lori sieht alles. Sie greift an ihr Herz. Fest, fest preßt sie die Hand, als milderte das den Schmerz.

Und nun kommen Mabel und Daisy heran. Hasso ist plötzlich da und erzählt, wie er gerade heute aufgehalten wurde und den ersten Teil des Konzerts versäumte. Mabel hat schwärmerische Augen und spricht von der großen Kunst, und Daisy flüstert: »Man kann üben und immer und immer üben, man wird es doch nicht sehr weit bringen, wenn man ist nicht Künstler im Herzen.«

Lori leidet unter den Menschen. Sie sehnt sich hinaus nach der Stille in ihrem warmen, erleuchteten Auto, in dem sie nach ihrer Verabredung auf Togena warten will. Sie sieht eine Lücke in dem flutenden Menschenstrom. Eilig sagt sie zu Mabel und Daisy: »Ich sehe Sie doch am nächsten Donnerstag bei mir?« Hasso reicht sie die Hand und flüstert: »Ihr kommt also jetzt zu uns.« Dann ist sie verschwunden. Sie ist mitten im Strom, mitten im Drängen und Stoßen. Die kalte Frostluft schlägt ihr entgegen. Aber da steht auch schon der wartende Diener mit ihrem Pelz. Er tritt ehrerbietig an sie heran und macht ihr Platz. Er sagt: »Herr Kommerzienrat waren leider nicht abkömmlich und warten zu Hause.« Dann ist sie schon im Auto.

Wie warm es dort ist. Es wäre behaglich; aber nun kommt das zerrende, heiße, verzweifelte Gefühl des Wartens.

Wer hält Togena zurück?

Hat er vielleicht gewartet, bis Birons gingen, um sie zu sprechen?

Ist er noch drinnen in seinem Zimmer mit Josephine zusammen?

Die Straße wird leer.

Die Straße wird leer und leerer.

Kalter Frost haucht die Scheiben an, es ist klingender, sternklarer Frost.

Sie wartet, sie wartet.

Jetzt – jetzt nahen deutliche Stimmen; sie dringen durch die stille, kalte Luft. Jetzt sind die Gestalten am Auto – Togena – Birons –. Ihr Herz setzt aus. Sie fühlt eine Eifersucht wie nie zuvor; etwas wie Raserei.

Blitzartig durchzuckt sie ein Verständnis für Verbrechen, die aus Eifersucht begangen werden. Sie erkennt, sie wäre jetzt fähig zu allem. Sie wäre –

Sie zwingt sich gewaltsam zur Ruhe. Kühl, mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit fragt sie Birons, ob sie mit ihr fahren wollten. Daheim sei ein kleines Fest für den Künstler arrangiert, im engsten Kreise nur; Hasso, Hans, Togena, sonst sei niemand gebeten.

Biron sieht Josephine an, sie zögert. Biron sagt: »Fahre doch mit Lori, Josephine. Ich möchte nach Hause gehen, mir ist heute nicht so recht wohl zumute.«

Josephine antwortet rasch: »Ich lasse dich nicht allein, nein, keinesfalls.«

»Aber wir könnten doch über die Hardenbergstraße zu Ihnen fahren,« wirft Togena ein. »Ein Auto kennt keine Entfernungen, und dann könnten wir Herrn Biron bequem und sicher nach Hause bringen.«

Lori erstickt fast vor Herzklopfen, aber sie sagt ruhig: »Gewiß können wie das. Bitte, Josephine, steige ein.«

Doch Birons wollen nicht. Josephine sieht ihren Mann an. Sie sieht, er möchte allein mit ihr bleiben, er hat irgendeinen Grund. Togena sagt wieder: »Dann kommt vielleicht Frau Biron nachher zu uns, wenn sie weiß, daß alles daheim ordentlich und recht ist.«

Lori sagt: »Das ist ein guter Gedanke. Ich schicke das Auto hinaus, und es bringt Josephine zu uns.« Sie muß die Hand aufs Herz pressen, so sehr schlägt es. Josephine will auch davon nichts wissen, aber Biron redet ihr zu; sie wird schwankend; endlich sagt sie lächelnd »ja«, und Biron lächelt auch. »So ist es recht, meine kleine Frau.«

Togena drückt Josephine die Hand. Er steigt zu Lori in das Auto. »Also Sie kommen; Sie kommen sicher!« ruft er ihr nach.

Langsam setzt sich der Wagen in Bewegung; er fährt schneller, schneller durch die unvornehmen Straßen des Anhalter Viertels. Jetzt biegt er am Hafen rechts ein. Lichter flirren vorbei, gelbe, strahlende, in der Kälte hart strahlende Laternenlichter. Die Straße ist weiß, wie vom Vollmond beschienen. Die Wasser des Kanals haben jenes Tiefe, Schwarze, Stille, das ihnen vor dem Gefrieren eigen ist. Drüben am Schöneberger Ufer rasselt laut mit hartem Kreischen die Elektrische über die vereisten Schienen.

Togena ist in einem Rausch des Glücks. Er spricht viel, voll von Stolz. Dann tadelt er sich, dann lobt er die Akustik, dann die sympathische Haltung des Publikums. Er lacht über die dicke Sängerin, die ihrem Wesen Originalität geben will, ohne zum Ziel zu gelangen. Er karikiert die Kritiker und Professoren; dabei reibt er sich die Hände. Sein schmales Gesicht leuchtet.

Lori schweigt unausgesetzt.

»Sind Sie mit mir unzufrieden, daß Sie schweigen?« fragt er.

Lori rafft sich auf. »Sie haben schöner als je gespielt.«

»Wirklich? Habe ich das?« Er lächelt. »Das macht der Erfolg, das Sich-verstanden-Fühlen, der Enthusiasmus im Saal, der zu mir dringt. Erfolg, Erfolg!« Er reibt sich wieder die Hände. »Erfolg ist so schön. Manchmal verzweifelt man als Künstler, manchmal glaubt man, man ist vollkommen unfähig. Oft, wenn man Schwierigkeiten fühlt, denkt man, man kann sie nie und niemals überwinden. Man denkt, man möchte alles hinwerfen. Aber das sind Stimmungen, das gehört zum Künstlertum, das stärkt, vertieft. Wem alles in den Schoß fällt ohne Arbeit, der verflacht, und der lernt auch niemals die wundervollen Stunden kennen, die nach der Verzweiflung den Glauben an das eigne Können bringen. Und Sie, Frau Lori, haben mir beigestanden. Sie haben mich, oft, ohne daß Sie es ahnten, aufgerichtet. Ihr Glauben an mich hat vielleicht mehr getan als irgendeine andere Macht, die in mir selbst war.«

Lori zwingt sich zu einem Lächeln. Sie läßt Togena ihre Hand, die er ergriffen hat, und die er küßt. Sie sagt kühl und fast steif: »Der Künstler sind Sie, Togena! Ich habe leider wenig Teil an Ihrer Entwicklung. Erst in der letzten Zeit ließen Sie mich überhaupt teilnehmen.«

»Weil ich Sie verkannte!« ruft er enthusiastisch. »O, wie habe ich Sie verkannt. Ich hielt Sie für eine oberflächliche und – ja, ich will es sagen, für eine gefährlich kokette Frau. Eine Zeitlang –.« Er will davon erzählen, daß er sich in sie verliebt hatte, aber er unterläßt es. Es liegt etwas in ihren Augen, das sie ihm schon wieder unverständlich erscheinen läßt.

Das Auto fährt durch die Kaiserin-Augusta-Straße, an den einsamen, im stillen Weiß des leuchtenden Schnees liegenden Gärten vorbei. Es kreuzt die Friedrich-Wilhelm-Straße, die Hitzigstraße; es hält still.

Granier, Hasso Beer und Hans kommen ihnen entgegen. Granier wiegt vergnügt den Kopf. »Ich gratuliere, gratuliere. Habe den Erfolg schon erfahren. Fabelhaft, lieber Togena! Fa–bel–haft! Wir werden Sie feiern wie einen siegreichen Helden. Gleich ein Gläschen Yquem, ja? Aber natürlich, natürlich. Lori, die fixe Frau, kennt jedermanns Lieblingsgetränk.«

Hasso schüttelt dem Künstler die Hand. Er spricht korrekt und ein bißchen hart; aber die offene Anerkennung in seinen Worten macht Togena stolz. Er weiß, daß dieser Mann allein das sagt, was er fühlt.

»Ich kam leider zu spät,« sagt Hasso, »mußte eine ganze Weile draußen warten, ehe ich eingelassen wurde. Aber glauben Sie mir, dies Warten da draußen, das Lauschen Ihres Spiels, einsam, ganz für mich, das war fast ein höherer Genuß als das Zuhören im Saal. Es begeisterte mich tatsächlich, mich alten, trockenen Kerl. Hans sagt übrigens, Ihr Chopinvortrag am Anfang sei für ihn das Vollendetste gewesen.«

»Technisch vielleicht das Beste,« stimmt Togena zu und wendet sich dann zu Hans, der ihm auch gratulieren will.

Sie gehen in den Eßsaal.

Es ist festlich gedeckt. Das gedämpfte Licht wirft weiche Schatten, es ist ein raffiniertes Licht, das jedermann schmeichelt. Hinten die Ecken mit der dunklen Täfelung und den riesigen Servanten liegen fast im Dämmer. Die Gobelins an den Wänden sind wie im Nebel, nur einzelne helle Farben blitzen auf, hier ein schreiendes Rot, dort ein wundervolles, kühles Blau; es sind Gobelins, auf deren Besitz Fritz Granier stolz sein kann.

»Noch ein Gedeck,« sagt Lori zu dem Diener.

Granier fragt: »Wer will noch kommen?«

»Josephine.«

»So, so, Josephine; ei, das ist ja sehr nett. Eine Frau, die Ihren Triumphen auch begeisterte Anerkennung zollt, Togena!«

Hasso sagt: »Biron kommt nicht? Das wundert mich. Er sah auffallend elend heute aus.«

»Ja, er sieht seit Tagen so hinfällig aus, daß wir uns ängstigten,« wirft Togena ein.

»Seit Tagen schon?« fragt Lori. Sie schlägt den Schal um die Schulter. Der feine Spitzenschal reißt unter ihrem Griff.

»Als ich gestern dort war und die Billette brachte,« erzählte Togena, »erschrak ich, als ich ihn sah.«

Lori will sprechen, sie kann es nicht. Sie gießt hastig ein Glas Wein herunter; dann lächelt sie. »Ich denke, Togena, die Freundschaft ist aus?«

»Die Freundschaft mit Biron nie.« Er betont das Wort Biron.

Lori atmet tief und erleichtert auf.

Dann kommen die Austern, und als der Sekt in den Gläsern perlt, kann Granier nicht mehr an sich halten, er muß reden.

»Wir begrüßen Sie, mein lieber Togena, mit Stolz in unserem Hause als einen Mann, der ganz aus eigener Kraft, aus eigenem Können, einen solchen Erfolg errang. Wir beglückwünschen Sie von ganzem Herzen, denn wir wissen, daß Sie in ehrlicher und gewaltiger Arbeit das erkämpften, was Ihnen nun als reife Frucht in die Hände fiel. Unzählige Herzen schlugen heute höher, als sie Sie hörten. Unzähligen war Ihre wunderbare Kunst eine göttliche Offenbarung, die ihnen Glück gab. Wie wenig Menschen können von sich behaupten, daß sie anderen Glück bereiten; Sie aber können es. Da sind Seelen, die kommen schuldbeladen und kummervoll; bei Ihrer Kunst vergessen sie alles. Da sind Menschen, die sind stumpf und übersättigt; Sie gaben ihnen Lebenswerte. Das ist etwas Wundervolles, Togena, das ist etwas Heiliges, denn es ist eine Religion. Die Kunst soll und muß heilig sein, und den Künstler wollen wir feiern wie einen Helden. Er lebe hoch – hoch – hoch!«

Die anderen stimmen ein. Sie stoßen mit Togena an, der fast beschämt zur Seite sieht. Lori gratuliert ihm noch einmal; ihre Augen sind kühl, aber hinter der Kühle liegt ein Glühen.

Hasso spricht wieder in wohlgesetzten Worten zu dem Künstler und lobt dann Graniers Rede. Granier selbst ist stolz und reckt sich.

Man ist in eine freiere und vergnügte Stimmung gekommen; besonders Lori scheint aufzuwachen. Sie ist scharf und witzig, sie ahmt allerlei Menschen nach und bringt alle zum Lachen. Togena amüsiert sich. Sein Erfolg läßt ihn sich restlos der Gegenwart hingeben. Er ruft: »Niemals habe ich Sie so amüsant gesehen, gnädige Frau; Sie sind prachtvoll.«

Dann spricht er wieder halb beschämt von seinem Erfolg. Er kann nicht anders, er muß darauf zurückkommen.

Lori denkt: Künstler sind wie Frauen, sie sind sich selbst am interessantesten. Sie denkt kurz und darüber wegeilend: »Warum kommt Josephine nicht? Vielleicht hat sie sich besonnen, vielleicht kommt sie gar nicht.« Sie denkt: »Ich will diese Augenblicke kosten, in denen sie nicht hier ist. Wenn sie kommt, ist alles vorbei, vorbei!«

Die weißen Lichter auf dem Tisch brennen still und sanft. Ihr abgeblendetes Licht wirkt beruhigend. Lori sieht zu ihnen auf, sie fühlt das Beruhigende ihres Scheinens. Drüben die Gobelins geben dem Zimmer Weite und Vornehmheit. Sie saugt die Schönheit ein. Es ist ihr, als sähe sie heute alles mit besonderen Augen. Hastig trinkt sie ihr Glas aus. Der Sekt wirbelt ihre Stimmungen hin und her, macht sie leicht, lustig, dann fast verzagend, dann wieder leicht.

Sie sieht Togena an. Er fühlt es, daß sie ihn ansieht, seine Augen begegnen den ihren, in seinen Augen steht Bewunderung. Das wirkt stärker als Sekt.

Sie steht plötzlich auf und schlägt an ihr Glas.

»Lori will reden, Lori, Lori!« rufen die Herren laut und lachen.

Sie ist wunderschön. Sie steht so stolz und steif mit flimmerndem Haar, die weißen Hände aufgestützt, in den Augen etwas Leuchtendes.

»Ja, ich will reden!« ruft sie aus. »Ich will einmal ein ganz besonderes Hoch ausbringen. Ich habe etwas auf dem Herzen, das muß herunter. Also: Ihr Männer seid doch mehr wert als wir Frauen! Nein, kein solch Lärm. Laßt mich doch erst aussprechen. Hans, sei still und setze dich. Du bist gar nicht gemeint, du hast noch nichts geleistet, und ich will auf die Männer mein Hoch ausbringen, die etwas leisteten. Da sitzt der Held des Abends, Togena, der kann etwas. Der ist Künstler, der ist nicht nur ein Nachempfinder. Seine Musik läßt uns jubeln, seine Kompositionen haben uns begeistert. Und da ist Fritz, der kam mit ein paar Groschen nach Berlin und gründete die Fabrik. Und da ist Fritzens Vater, der hatte keinen Pfennig und mußte jahrelang sich quälen. Und dann kam plötzlich doch der Erfolg. Und da ist Hasso; Hassos Geist schafft, schafft, schafft. Er schafft im stillen, er schafft ohne äußeren Erfolg, aber er schafft. Wir Frauen, wir leisten doch nichts Selbständiges. Wir können nachempfinden, wir können uns hübsch intuitiv in eine andere Seele, von der wir uns lenken lassen, hineindenken. Wir können dann artig und brav ausarbeiten, was wir lernten. Aber produktiv wie der Mann sind wir nicht. Ich gestehe die Armut ein. Ich sehe sie, gestehe sie ein und bewundere die Schaffenden. Sie sollen hoch leben, hoch, hoch!«

Alles jubelt ihr zu. Togena kommt und küßt ihr die Hand, er sucht ihre Augen. Hasso lächelt freundlich, und Fritz will ihr einen Kuß geben.

»Aber das geht doch nicht, daß wir das so einfach hinnehmen,« ruft er vergnügt. »Wir müssen uns revanchieren. Rasch, Hans, eine Rede auf die Frauen, auf Lori besonders. Junge, du wirst doch nicht schwerfällig sein?«

Wieder jubelt alles durcheinander.

In diesem Augenblick geht die Tür auf, der Chauffeur tritt ein. Er ist aufgeregt; man sieht seinem Gesicht an, daß er etwas Wichtiges zu sagen hat.

Alle schauen ihn plötzlich verstummend an. Lori fragt scharf: »Was bringen Sie, Bendorf, wo ist die gnädige Frau?« Alle denken an ein Unglück mit dem Auto.

Der Chauffeur antwortet hastig: »Ich wartete beinahe eine Stunde unten vor dem Hause. Dann kam das Mädchen herabgestürzt, sie erkannte mich und bat, ob wir zum Doktor fahren könnten, dem Herrn ginge es schlecht. Wir fuhren hin und her, der Hausarzt war nicht da. Auf der Rettungsstation war einer, den haben wir hingebracht. Dann bin ich zurückgefahren, weil ich mir weitere Befehle holen wollte.«

Er spricht ganz verständig, aber denen im Zimmer ist zumute, als könnten sie nicht verstehen. Lori schaut vor sich hin, sie ist blaß. Sie denkt nichts als das eine: »Josephine kommt nicht.«

Togena springt plötzlich vor. »Ich muß hin,« sagt er heiser vor Erregung.

Aber Hasso faßt ihn bei der Schulter. Der Griff ist energisch und beruhigend zugleich. »Wenn es notwendig ist, werde ich selbst hinfahren. Wissen Sie, was dem Herrn fehlt, Bendorf?«

Der Chauffeur sieht zu Boden. »Das Mädchen meinte,« sagt er langsam, »es wäre schon vorbei.«

»Vorbei, was wollen Sie damit sagen?«

Der Chauffeur zieht seine Mütze hin und her, er ist verlegen.

»Tot,« sagt er endlich.

Lori schreit laut auf. Sie ist leichenblaß, sie taumelt. Wenn Hans nicht zugesprungen wäre, wäre sie gefallen.

»Ich muß hin!« ruft Togena aus. Aber Hasso sagt langsam, eisern: » Ich gehe!«

Er ist aus der Tür, ehe die anderen zur Besinnung kommen.


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