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XXIV.

Es ist Nacht. Tiefer Nebel liegt über Berlin wie roter, unheimlicher Feuerschein. Der Zug fährt langsam ein. Er fährt an den stillen Straßen vorbei, in denen die Laternen brennen wie leuchtende Perlenschnüre. Er fährt an verlassenen Plätzen vorbei. Er hält.

Loris Herz krampft sich wild zusammen, als er hält. Der erste Versuch, sich aus den Polstern zu erheben, mißlingt ihr. Aber da ist das eisige Gesicht des Bruders, das voll von Verachtung ist. Sie nimmt alle Energie zusammen und steigt aus.

Auf dem Bahnsteig ist Günther. Seine kleine, dicke Gestalt, die in der Uniform immer ein bißchen lächerlich wirkt, schiebt sich durch die Menge der Reisenden. Sein Gesicht ist schlaff, übernächtig. Er hat einen Zug der Verächtlichkeit um seinen Mund, den Lori nicht kennt. Aber der Zug gilt ihr, das weiß sie.

Als er Hasso die Hand drückt, sagt er rasch mit einer fremden, unterdrückten Stimme: »Sie lebt noch.« Er spricht zu Hasso, nicht zu Lori, die abseits steht, und von der er keinerlei Notiz nimmt.

Hasso fragt: »Verlangt sie noch nach Lori?«

»Sie spricht nichts mehr,« antwortet Günther.

Und dann fährt Lori neben Hasso durch die breite Hardenbergstraße der Wohnung der alten Frau zu.

Leer ist die Straße. Es brennen Laternen, aber der Nebel trinkt ihr Licht. Ihr Schein ist trübe, eingehüllt von einem Ring von Dunst. In den nassen Asphalt tauchen die Lichter tief ein. Wie durch einen Fluß fährt der Wagen, durch einen tiefen, schwarzen Fluß.

Einzelne Menschen gehen eilig vorbei; sie sind blaß, sie scheinen traurig. Lori fällt es auf, daß sie alle müde und traurige Züge haben.

Aber das sind nur vorübergehende Eindrücke. Ein Gefühl herrscht vor, das Gefühl der eisigen Kälte, die sie umgibt. Hasso sitzt wie aus Stein neben ihr, seine Mienen zucken nicht. Er ist wie ein Gefangenenwärter, sie wie eine Gefangene. Wie eine, die schuldig ist, schuldig!

Sie schaut stumm vor sich, sie denkt nichts mehr. Sie hört jetzt nur noch die Worte, die Günther sprach: »Sie lebt noch, aber sie spricht nichts mehr.«

Manchmal taucht ein dunkler, heißer Haß gegen ihren Bruder in ihr auf. Dann werden ihre Augen klein, verkniffen, schwarz. Manchmal kommt eine große Müdigkeit über sie, die jede Empfindung fortschwemmt. Manchmal sind Tränen nahe und Hoffnung: »Sie lebt noch.« Manchmal kommt ein dunkler Strom von Ekel.

Sie sitzen Seite an Seite und sprechen nichts. Wenn sich versehentlich ihre Blicke begegnen, sind sie voll Haß.

Was war der Tag für eine Qual. Lori gräbt sich in die Qual hinein. Sie denkt: »Ich büße.«

»Ich büße.«

Sie denkt: Wenn das Auto ausgleitet, zersplittert. Wenn man auf das Pflaster flöge, Kopf voran. Alles wäre dann aus.

Man kann auch ohne dies ein Ende mit sich machen. Aber es ist schwer.

Alles aus, denkt sie.

Etwas wie fanatische Sehnsucht danach ergreift sie. Das Leben liegt voll von grauenhafter Schwere vor ihr; es scheint ihr unmöglich, zu leben.

Wenn das Auto –

Aber da biegen sie schon in den Platz ein, Frau von Beers Haus taucht auf. Der Wagen hält.

Die alte Frau von Beer liegt in ihrem schmalen Holzbett. Sie ist mager, gelb. Sie sieht tief bekümmert aus. Ihr eingefallenes Gesicht hat nichts als den Ausdruck namenloser Trauer.

Es ist ganz still in dem Zimmer. Eine Lampe brennt nur trübe auf dem Tisch. Der Tisch hat eine rote Decke. Alles Licht scheint das Rot aufzuzehren. Die Ecken sind schwarz. Das Bett hat einen hellen Schimmer, der von ihm selbst auszugehen scheint.

Lori tritt ein.

Sie hält sich mit der Hand an dem Türpfosten. Aber jemand stößt sie vorwärts. Sie ist jetzt mitten im Zimmer. Sie ist jetzt am Bett.

Ihr Herz zieht sich wie im Krampf zusammen. Es schlägt wild, setzt aus. Ein ungeheures, jähes Mitleid, eine tiefe, innerliche Liebe sind in ihr. Sie weiß, daß dies der einzige Mensch ist, an dem sie hängt. Sie weiß, es ist der einzige Mensch, zu dem sie hätte kommen können, ohne Beichte, ohne irgendein Wort. Nur im Verlangen nach Liebe.

Jemand sagt: »Mutter.«

Aber es bleibt still.

»Mutter, Lori ist da.«

Wieder bleibt es still.

Lori steht wie aus Holz geschnitzt. Sie ist steif, sie ist kalt wie Eis. Sie kann die Hand nicht heben. Sie kann die zitternden Knie nicht beugen. »Setze dich und warte,« sagt Hasso. »Wir kamen spät. O, wir kamen spät. In deinem ganzen Leben wirst du es nicht vergessen, daß du so spät kamst.«

Eine lange, lange Stunde schleicht dahin.

Die Tür geht auf, Fräulein von Wernheimbs dünner Körper schiebt sich herein. »Lori muß doch essen, muß doch etwas essen,« flüstert sie.

Hasso nickt. »Geh' mit hinaus,« sagt er hart. »Geh', Lori.«

Aber Lori schüttelt hastig den Kopf. Sie hat die Zähne aufeinander gebissen. Sie bleibt.

Das alte Fräulein klagt wieder. »Setze dich doch nur; ach, liebe Lori, setze dich doch nur hin. Nach der langen Reise, nach all den Aufregungen! Wie sieht sie aus, sie wird uns ohnmächtig.«

Hasso lächelt grimmig. »Nimm dich zusammen, Lori, geh' und iß. Wir können es nicht brauchen, wenn du uns zusammenbrichst. Geh', sage ich dir.«

Aber Lori schaut ihn voll an. In ihrem Blick ist so viel Schmerz, daß er den Kopf zur Seite neigt.

Er springt plötzlich auf und schiebt einen Sessel zu ihr heran. Seine Stimme ist um ein Weniges sanfter. »Setze dich, Lori, sei verständig und iß etwas. Du hast den ganzen Tag über nichts gegessen. Fräulein wird dir ein Brötchen herbringen. Sei verständig, Lori.«

Noch eine lange, lange Stunde schleicht dahin.

»Mutter,« sagt Beer. »Mutter, Lori ist hier. Sprich du zu ihr, Lori, so sprich doch.«

»Mutter,« sagt Lori heiser.

Aber nur Stille, drückende Stille folgt.

Und dann ist plötzlich eine Veränderung da.

Der Doktor kam, er hatte den Puls gefühlt, er hatte diese und jene Beobachtung angestellt. Er hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Das Herz wird schwächer und schwächer.«

Als er fort ist, recken sich die Hände der Kranken ein wenig. Die Augenlider heben sich. Eine dünne, dünne Stimme sagt leise: »Wie habe ich schön geträumt. Das müßte Bubi hören oder die kleine Lori. Lorichen!«

Lori hält sich an der Lehne des Stuhles fest. Sie antwortet heiser: »Meine Mutter, ich bin hier.«

»Lorichen,« flüstert die dünne Stimme, »wie träumte ich hübsch. Unser Garten war groß, und die Stachelbeeren hatten lauter, lauter Früchte. Alles hing voll davon. Lorichen, du ißt gern Stachelbeeren, nicht wahr?«

Lori steht auf. Sie hat Bewegungen wie ein Automat. Sie geht einen halben Schritt vor, sie taumelt, sie kniet am Bett.

»Immer war die kleine Lori mein Liebling,« spricht die dünne Stimme wieder. »Sie war so ein hübsches Mädchen. Und wenn sie tanzte, freuten sich alle Manschen. Dann hat sie gut geheiratet, ja, ja, einen braven Mann, und Kinder hat sie auch. Wieviel doch gleich?«

»Mutter, Mutter,« flüstert Lori bebend.

»Der liebe Gott ist gut zu ihr. Und ich bin doch auch fest überzeugt, sie wird noch einmal sein Kind. Sie ist so ein Wildfang, vergißt alles, und wenn sie läuft, fliegt ihr rotes Haar hinter ihr her. Ein Wildfang liebt das Leben, und dann steht ihm fern, was nicht gerade vor seinen Augen ist. Lorichen, mein Kind.«

Lori beißt die Zähne aufeinander, um ein Schreien zu verhindern. Da sagt Hasso: »Sie ist hier, Mutter.«

»Wo, wo?« Die alten Hände tasten vorwärts. Als sie das rote Haar der Knienden erfassen, seufzt die kleine Gestalt im Bett tief auf: »Gott, lieber Gott, ich danke dir, sie ist hier.«

Hasso sagt wieder: »Und sie bleibt auch hier.«

»Wird sie bleiben, wird sie bleiben? Wo bin ich denn, was war doch?« Die zitternden Hände fahren an den alten, grauen Kopf. »Was war es doch, was quälte mich so sehr und so lange?«

»Du warst in Angst um sie, weil sie fern war und in schlechter Gesellschaft,« sagt er wieder. »Sie ist jetzt hier, sie wird bleiben.«

»Wird bleiben,« wiederholt die dünne Stimme verständnislos. Aber dann wird sie lebhaft. »Ich weiß, o, jetzt weiß ich alles. Sie wollte fort von meiner lieben, lieben Kirche. Wie ist es, Lorichen, Kind? Wie ist es?«

Lori rafft sich auf. Sie sagt langsam, hart wie ein Automat: »Ich hatte niemals die Absicht, einen anderen Glauben anzunehmen. Niemals, Mutter.«

»Siehst du wohl, Hasso, siehst du wohl. Es war alles nicht wahr.« Das schmale Gesicht lächelt, dann wird es wieder angstvoll: »Und du versprichst mir, meine Lori, du versprichst es mir in die Hand, daß du bei deiner Kirche bleibst. Du versprichst es mir. Wie sollte ich denn ruhig vor Gottes Thron treten mit dem Bewußtsein –« Die Worte ersterben in einem Murmeln, aber die Augen sind groß, voll verzweifelter Angst auf Lori gerichtet.

»Ich verspreche es dir, Mutter,« sagt Lori.

In diesem Augenblick ist sie sich bewußt, was sie mit Spinola verliert. Daß sie die einzige Möglichkeit verliert, die noch eine Zukunft für sie in Aussicht stellte. Die einzige Lebensmöglichkeit, die es überhaupt noch gab. Das andere war ein Existieren ohne Zweck und Ziel. Aber die Augen der alten Frau von Beer werden immer angstvoller, verzweifelter. Und da sagt Lori noch einmal, tief, schwer, mit einer Stimme, die ihr fremd scheint: »Ich verspreche es dir in die Hand.«

Die alte Frau lächelt, sinkt zurück. Sie lächelt und murmelt wie im Schlaf. Ihre Augen schließen sich, die Hände liegen unbeweglich.

Am Morgen kommt ein stilles Ende.


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