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VI.

Es war Sitte, daß der Kaffee sehr rasch und oberflächlich im kleinen Salon genommen wurde. Man stand dabei immer schon mit einem Fuß im Musiksaal. Der kleine Salon war ein ziemlich konventioneller Raum, der vielleicht gar nichts bedeutet hätte, wenn nicht eine wundervoll leuchtende Tapete ihm eine gewisse sanfte Wärme gegeben hätte. In der Tapete glühten erblühte Rosen in üppiger Fülle, Rosen über Rosen, eine Orgie von Rosen. Er war sonst weiß und kühl, die steifen Möbel mit einem verblaßten Überzug von rosenroter Seide, der Teppich hell, das Licht der Krone nicht elektrisch, sondern altväterisch und vornehm Kerzenflammen. Lori hatte einmal gesagt, wenn dieser Salon elektrisches Licht bekäme, so sei das der Gipfel der Brutalität, der vielleicht nur noch mit Gaslicht übertrumpft werden könnte. Sie war verzweifelt gewesen, als Granier das nicht einsehen wollte. Granier liebte das elektrische Licht, er fand es bequem und außerdem, weil es eine neue Errungenschaft war, die seine Kindheit nicht kannte, recht bewundernswert. Daß man um der Ästhetik willen auf das altmodische und in jeder Hinsicht unpraktische Kerzenlicht zurückkommen konnte, begriff er im Grunde immer noch nicht. Es schmeichelte ihm jedoch, als einmal ein sehr verwöhnter und angesehener Herr mit Freude das Kerzenlicht in dem Zimmer entdeckte und ausrief: »Das nenne ich einmal einen wirklich vornehmen Geschmack!« Lori behauptete, er hätte erwidert, daß in diesem Salon elektrisches Licht doch wohl eine Sünde wider den Geist der Ästhetik wäre.

Die Türen zum angrenzenden Musiksaal standen schon offen. Man sah in den hohen, kühlen Raum, dessen schneeweiße Wände und spiegelglattes Parkett einen beinahe nüchternen Eindruck machten. Doch war wiederum für Bequemlichkeit gesorgt. Die Stühle waren tief und breit, Ledersessel zumeist, in einer Ecke auch ein schweres, altes Sofa, mit tiefrotem Damast bezogen, das merkwürdig und fremd zu seiner übrigen modernen Umgebung stand.

Langsam füllte sich der kahle Saal, man sprach noch ein wenig und gedämpft. Dann saß plötzlich Togena am Flügel. Es wurde still.

Togena spielte.

Da lief erst eine kleine perlende Passage durch den Raum. Sie war sehr rein, sehr klar, wie die Tropfen eines klaren, kalten Wassers.

Ein harter, herber Akkord ließ die Passage schweigen. Die Gestalt am Flügel, die nun nicht mehr Klemens Togena zu sein schien, sein Abbild vielleicht, ein unendlich edles, in sich vollkommen harmonisches Abbild, zuckte bei der Härte des Tones leicht zusammen. Sie befahl der Härte, zwang sie und schien zur gleichen Zeit erschrocken.

Sanft wie die Tropfen des klaren Bergwassers rieselte eine zweite Passage herab. Der Raum war voll von ihrer Schönheit. Der Raum war voll von dem sanften Rieseln der Töne.

Und wieder rief der harte Akkord zur Strenge.

Und dann zog mit dem Wunder ihrer Harmonie, ihres vollendeten Rhythmus, der großen Herbheit eines Genies die Fuge von Bach vorüber. Sie zog vorüber, schwoll und glitt in sanfter Schönheit hinaus in die dunkle Pracht des Gartens. Über die duftende Üppigkeit des Flieders zum Nachthimmel auf, der fern, hoch, kühl und voll von Wunder war wie sie.

Lori Granier konnte sich an diesem Abend nicht konzentrieren wie sonst. Ihre Augen folgten dem Flackern des Lichts, das über die weißen Wände huschte. Sie hingen an dem Schein, den die Laternen von draußen zitternd auf das spiegelnde Parkett warfen. Dann plötzlich waren die Blicke auf die Gestalt gefallen, die am Flügel saß. Lori hatte nicht zu Togena schauen wollen, aber etwas, das unbewußt war, stärker als sie, das wie die Gewalt eines fremden Willens wirkte, bannte die Augen.

Diese Gestalt war Herr der Töne, sie kannte jedes einzelnen Taktes Macht, jedes Taktes Bedeutung. Sie kannte die süße Wehmut der Passagen. Togena dämpfte sie, denn Wehmut war der Sentimentalität verwandt. Wehmut war die Feindin aller Kraft, und Kraft war Notwendigkeit. Die große, heilige Notwendigkeit, die der Geist des Rhythmus erforderte. Lieber ein herbes Stakkato, lieber eine Empfindungslosigkeit als Empfindungsseligkeit. Musik ist der Ausdruck aller Wunder der Vornehmheit.

Warum denn schrieb Beethoven das herrliche Allegretto seiner siebenten Symphonie in Stakkato? Das war aus der Empfindung unbegrenzter Vornehmheit, aus der Empfindung eines vollendeten Sinnes für die Größe eines herben Stils. Er wollte keine Schmerzschwelgerei. Er wollte diese todtraurige Melodie nicht durch das Getragene zur Schmerzschwelgerei erniedrigen.

Stil ist alles, das einheitliche Gefühl für einen vollendeten Rhythmus. Und das prägte jene schlanke, jetzt fast vergeistigte zarte Gestalt am Flügel aus. Das lebte unter dem Druck der Finger in den Tönen.

Wie edel das Gesicht war, wenn es sich so wie jetzt ein wenig zur Seite wandte. Der herbe Mund, der entsagende Mund, der Mund, der dem des Mönches auf Giorgiones wunderbaren Bilde Concerto glich, war fest geschlossen. Müde war der Mund, müde wie der eines Kindes, das zu lange wach blieb.

Lori mußte eine Bewegung machen. Sie mußte die Hand über die Augen decken. Es flimmerte vor den geschlossenen Lidern, große blaue, purpurrote, riesengroße Ringe tanzten vor ihr und machten sie schwindlig.

Küßte nicht Togena Josephines Hand nach Tisch? Er beugte sich über sie, sie sah es wohl. Aber sie hatte doch nicht deutlich genug erkennen können, ob er ihr die Hand küßte. Und jetzt, – in diesem Augenblick sah er zu ihr hin, sah zu Frau Josephine Biron hin; der herbe Mund lächelte ein kleines, zartes, herbes Lächeln. So schaute er niemals zu ihr selbst hinüber, so niemals.

Und wieder griffen die Hände nach den Augen.

Die Macht des Willens bannt – die Macht des starken Willens kann die Macht des anderen Willens bannen. Die ungeheuer konzentrierte Macht –

Aber das war es, hier fehlte es. An Konzentration in diesem Raum, diesen Menschen gegenüber, diese Töne in den Ohren, war nicht zu denken. Konzentration gab es in der Stille. Hier war Konzentration unmöglich.

Lori atmete schneller. Ein intensives Gefühl der Ohnmacht, des Unvermögens schnürte ihr die Brust ein. Es gab hier nichts zu tun, als abzuwarten, zuzuschauen. Wie unerträglich!

Eine hastige Bewegung ließ die Seide ihres Kleides rauschen. Das war wie ein Riß, wie ein Mißton. Das Fluidum der Unruhe, das von ihr ausging, schien sich plötzlich auch den anderen mitzuteilen. Es schien zu herrschen, nicht mehr die Musik. Auch Togena empfand das. Plötzlich war sein Spiel nicht mehr so wunderbar. Nervosität gab kleine Disharmonien, die Passagen perlten anders, die Akkorde flüchteten seelenlos fort. Er hastete zum Schluß, er hastete. Um die Nase grub sich scharf die Falte herben Unwillens; seine Finger zitterten stärker, zitterten wie im Fieber.

Der Schluß – der war wie eine Erlösung.

Schweigen.

Man war gewöhnt, in diesen Räumen dem Nachklingen der Musik zu lauschen. Irgendwelche Anerkennung wurde niemals ausgesprochen, darüber herrschte seit langem stillschweigende Einigung. Zum Kritisieren oder Loben sei man nicht hergekommen, sagte Lori einmal. Der gute Geschmack erforderte das Schweigen. Aber dies Schweigen heute war anders als sonst. Es war nicht das rhythmische Verklingen der Töne in Empfindungen hinein. Es war ein Alp. Und Togena brach es rasch. Er erhob sich, rieb die Hände aneinander, duckte sich, wie in körperlichem Unbehagen. Dann sagte er plötzlich mit einem Lächeln, das jeder Frau das Blut zum Herzen trieb, jenes Lächeln eines sich Entschuldigenden, Traurigen, sich Anklagenden: »Das war nichts.«

Granier protestierte sogleich. Er schien nur darauf gewartet zu haben. Die netten Worte, die er bereit hatte, waren so voll von innerlich empfundener Harmlosigkeit, daß sie angenehm wirkten. Und Pachoix stimmte ihm bei, aber bei ihm waren die Worte schon mehr wie ein Lob, sie waren zu voll und schwer. Doch achtete niemand viel darauf, denn das Gewirr von Redensarten war allgemein geworden. Erst als Josephine mit ihrer wunderschönen Stimme sagte: »Ich fand den Anfang vollendet gespielt,« ward es wieder still. Diese Stimme brach sich immer Bahn, es war, als herrsche sie. Unwillkürlich empfand jeder mit ihr, jeder dachte: sie hat recht, wir sagten das nur nicht. Wir meinten es auch. Wir meinten es gerade so gesprochen, mit diesen Worten, diesem Tonfall.

Und in diesem Moment entglitten Lori die Worte, die wie ein Echo, aber wie ein mattes, oberflächliches Echo klangen: »Der Anfang war prachtvoll.« Im nächsten Augenblick empfand sie ihre Trivialität, sie hätte sich schlagen mögen. Sie hätte die Worte um alles in der Welt gern zurückgenommen, aber sie waren gefallen. In die schöne Stille, welche Josephines Worten folgte, war ihr Ausruf wie eine Disharmonie gefallen. Sie selbst empfand das stärker vielleicht wie irgendein anderer im Raum.

Aber auch dieser Mißton ging vorüber.

Hasso hatte gesagt: »Spielen Sie uns etwas anderes, Togena.«

Togena hatte geantwortet: »Heut' nicht, ich bin nicht in Stimmung.«

Dann bettelten Mabel und Daisy noch ein bißchen. Mabel rief: »Bach ist so schwer, man kann gar nicht begreifen wie schwer. Ich spielte einmal ein kleines Stück, da sagte meine Mutter: ›Hör' lieber auf, my dear.‹ Sie hatte recht. Wenn ich spiele die ›Dollarprinzessin‹, alles spielt in mir mit. Wenn ich spiele Chopin, alles geht in mir in Erinnerungen, und ich mag gern weinen.«

Da unterbrach Togena sie ein bißchen lächelnd, doch hastig. »Dann dürfen Sie niemals Chopin spielen, gnädige Frau. Chopin ist von sich aus nicht sentimental, das haben nur die unerhört vielen sentimentalen Frauen aus ihm gemacht.«

»O,« sagte Frau von Pachoix, »ich dachte nun doch, es sei sehr schön, wie ich spiele Chopin. Ich kam mir schon ganz vor wie eine Polin in Paris und mochte gern sehen dabei meine Ringe funkeln. Daisy, come here, hast du gehört, was wir haben gesprochen? Weißt du noch, wie wir spielten den dritten Walzer zu vier Händen? Es klang sehr traurig, und wir dachten, es sei sehr schön.«

Togena schüttelte den Kopf. Er schien aber plötzlich kein Interesse mehr an der Unterhaltung mit den Amerikanerinnen zu haben, denn er wandte sich und überließ es Hasso und Hans Beer, die Meinungen über Chopin mit Mabel und Daisy zu tauschen. Einen Augenblick schien er unschlüssig. Dann ging er gerade durch den Raum auf Frau Josephine Biron zu. Seine Bewegungen waren unfrei, aber in seinen Zügen war eine helle Freude.

Lori konnte nicht hören, was Togena so sehr eifrig und voll von sichtlichem Interesse mit Josephine sprach. Sie saß weit ab, und Biron hielt sie mit einem Gespräch über seine Vorliebe für Geigenspiel fest. Biron gegenüber, das fühlte Lori, konnte man nicht unhöflich sein. Seine zarte Art, die vornehme, zurückhaltende Art war eine Waffe. Sie gab sich Mühe, ihm zu folgen. Aber als sich durch einen Ausspruch Hassos ein Band zu den anderen hinüber bildete, benutzte sie das wie unversehens. Sie rief Hasso heran und fädelte geschickt eine Unterhaltung zwischen ihm und Biron über Harmonie und Rhythmus ein. Rhythmus war Beers Steckenpferd. Er leitete alles aus Rhythmus her. Der Liebenswürdigkeit wegen hörte sie noch mit an, wie Hasso das politische Leben der Völker rhythmisch oder ohne Rhythmus nannte, und wie er mit einer gewissen Bonhomie einem hohen Herrn seine Harmonielosigkeit nicht verzieh. Dann stand sie langsam auf, sie entschuldigte sich, daß sie politisch absolut unwissend wäre. Sie ging an Pachoix vorbei, lächelte und gab ein paar lustige Worte in seine Unterhaltung mit Hans Beer. Dann drehte sie sich, es war einen Augenblick, als suchte sie. Und mit den schönen Bewegungen der großen Dame, die erfreut, wenn sie sich nähert, die Duft und Anmut spendet, kam sie auf Josephine und Togena zu. Es war ein Sessel leer dort. Sie setzte sich wie in freundlicher Vertraulichkeit. Aber ihre Mienen waren gespannt, ihr Atem ging schwer. Kein Wort verlor sie von dem, was Togena sprach.

»Es ist sehr verschieden,« sagte er, »wie ich aufgelegt bin. Leider, leider, ich müßte mich viel besser im Zügel haben. Manchmal regt mich ein Wort an, ein Sonnentag, eine Unterhaltung, dann kann ich schaffen. Manchmal kommen leere, leere, töricht leere Tage. Wenn ich zum Beispiel Ihnen vorspielen kann, gnädige Frau, das inspiriert. Sie haben den Ausdruck in sich, der mich meines Könnens sicher macht. Sie folgen mir, ich weiß es. Ich kann an der Hand Ihres Empfindens eigenes Empfinden weiter bauen. Ich höre Ihre Stimme, dann ist das wie eine gewisse Harmonie, die sich in mir auflöst. Darum spiele ich Ihnen so gern vor, das ist der Grund.«

Josephine sagte: »Aber eigentlich ist mein Mann ein viel aufmerksamerer Zuhörer. Er sagt selbst von sich, er empfände Musik rein in ihrer Größe als Musik. Ich leider schweife mit den Gedanken manchmal ab.«

»Sie schweifen ab?«

»Ja, es liegt so viel auf meinen Schultern. Unwillkürlich schaut der graue Alltag dann doch in meine Feiertagsstimmung.«

»Das ist erklärlich. Und doch gibt Ihr Zuhören mir ein gewisses Empfinden der Sicherheit meiner selbst.«

»Sie können Ihrer Kunst doch immer sicher sein.«

»Nicht immer. Aber in Ihrer Gegenwart allerdings – Sie wissen, ich bin leider ein bißchen Sonderling. Ich spreche immer so, wie mir zumute ist. Das sollte ich nicht tun, nicht wahr?«

»Das können Sie mir gegenüber immer tun,« sagte sie lächelnd. »Im übrigen können Künstler sich mehr erlauben als andere Manschen, weil jedes Wort doch das Empfinden wiedergibt, aus dem heraus es gesagt ist.«

»Das Empfinden allein macht den Erfolg, immer, überall –«

Sie nickte, dann lenkte sie plötzlich wie unwillkürlich ab. »Hören Sie doch, wie mein Mann und Hasso Beer sich ereifern. Mir fehlt leider der rechte Sinn für Rhythmus, ich denke leicht an langweilige Hexameter. Da, jetzt reden sie von mir. ›Josephine hat den Rhythmus des Behagens.‹ Jetzt kommt Lori dran. ›Lori hat den Rhythmus der Ästhetik.‹ Aber nun spricht er von seiner Schwägerin, das wird böse ausfallen. ›Hildegard lernt den Rhythmus nie.‹ Er liebt Hildegard Beer nicht.« Sie lachte.

»Die Harmonie ist da, wenn Sie lachen, gnädige Frau,« sagte Togena. »So, und nun werde ich Beethoven spielen. Sie lieben Beethoven, ich weiß es. Denken Sie, ich spielte für Sie, dann kann mich nicht jene unharmonische Nervosität stören wie vorhin.« Er lächelte, wurde wieder ernst, lächelte wieder und stand auf, um an den Flügel zu gehen.

Lori Granier saß regungslos auf ihrem Sessel, sie fröstelte. Sie zog den Schal höher, aber es nützte nichts, der Frost schüttelte sie. In ihren Ohren klang ein Sausen. Sie hörte nichts von den Tönen, die voll von Harmonie durch das Zimmer glitten. Sie empfand nur das hohle Sausen. Und ein Gefühl machtlosen Elends.


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