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IV.

Klemens Togena war aus einer kleinen Stadt, die mitten zwischen Hügeln lag. Es war eine winklige Stadt, und Togenas Eltern wohnten mitten darin in einem alten, hohen Hause. Der Vater hatte eine Stelle als kleiner Beamter inne, die Mutter, die ehemals schön war, bekam durch stetes Sorgen um den Mann und acht Kinder früh graue Haare und einen vergrämten Zug, der sie vollkommen entstellte. Irgend jemand fand schon früh heraus, daß der kleine Klemens musikalisch war. Die Eltern hielten das eher für eine neue Sorge als für ein Glück, denn nun sollte der Junge Unterricht bekommen, natürlich auch ein Instrument. Ein Klavier war viel zu teuer, aber der Tischler hatte eine alte, billige Geige. Dann fand sich auch ein Geigenlehrer, und die Sache war in Ordnung.

Dreimal in der Woche mußte der Junge mit seinem Geigenkasten über die hügeligen Straßen gehen, bergan steigen, wieder bergab, durch das alte Tor, durch die Anlagen vor der Mauer. Der Geigenlehrer bewohnte weit draußen vor der Stadt ein hübsches Häuschen, an dem sich Efeu und wilder Wein rankte. Er besaß vorn, der Straße zu, einen kleinen Garten mit vielen wunderschönen Rosen und hinter dem Hause am Bach entlang die lange Reihe würzig duftender Gemüsebeete. Wenn er auch ein wenig sonderbar war, so war er doch gut und verständig und lobte und tadelte den Jungen zur rechten Zeit.

Im Grunde liebte Klemens die Stunden auch innig, aber das Üben ward ihm oft schwer. Ließ er einmal die Geige sinken, so kam gleich die Mutter und schalt. Das teure Geld für die Stunden, – natürlich für einen Nichtstuer hinausgeworfen. Übte er aber brav bis zur Ermattung, stundenlang, so hielten sich die älteren Geschwister die Ohren zu und schrien, das könne ihnen niemand zumuten.

Einmal kam ein warmer Sommertag. Es war so heiß, daß dem Jungen sein Geigenkasten schwer ward, und daß er auch im Schatten die schwüle Luft empfand. Er ging zur Geigenstunde, bergauf, bergab, durch das Tor –. Aber da blieb er stehen. In den Anlagen bewegte sich die halbe Stadt hin und her, und eine Kapelle spielte dazu. Das kleine Restaurant am Wasser hatte geflaggt, dort saß eine Unmenge Menschen an Tischen, sie tranken Kaffee und machten fröhliche Gesichter. Der Junge wußte, es war Zeit, zur Stunde zu gehen, aber er konnte nicht weiter. Die Musik, die er hörte, ergriff ihn so stark, daß es ihm ganz unmöglich war, von hier fortzugehen. So setzte er sich ein wenig abseits vom Wege ins Gras, legte den Geigenkasten neben sich und lauschte. Manchmal kamen starke Töne herüber und manchmal schwache. Dann wieder war nur ein leises, leises Summen in der Luft. Der kleine Klemens träumte Melodien in die Töne hinein, die ihn entzückten. Sein Herz wurde sehr groß und weit. Aber wenn er versehentlich mit dem Fuß an den Geigenkasten stieß, regte sich doch das böse Gewissen.

Schließlich stand er auf, er horchte auf die Glocke, die vom Kirchturm her herüberschlug. Die Stunde, die er beim Geigenlehrer sitzen sollte, war vorüber, daran war nun nichts mehr zu ändern. Vielleicht lief alles glatt ab. Er brauchte nur daheim nicht zu sagen, wo er geblieben war. Daß der Geigenlehrer den Vater treffen und ihm sein Ausbleiben erzählen würde, war unwahrscheinlich.

Aber da waren Verwandte von der Mutter, die hatten den Klemens während des Konzerts im Grase liegen gesehen und nichts Eiligeres zu tun, als das dem alten Togena zu erzählen. Der Vater kam heim, er fragte nach der Geigenstunde; der Junge wurde blaß, dann gab es Schläge, Schelte und die alten jammernden Worte: »Das teure Geld für nichts zum Fenster hinausgeworfen.« Ja, wenn der Junge wirklich Talent hätte, wäre er pflichteifrig. Dann hätte er nicht die Stunde im Grase vertan. Jetzt gleich sollte er zum Geigenlehrer gehen, das Geld bezahlen und sagen, er dürfte nicht mehr wiederkommen, weil das und das geschehen sei.

Widerspruch kannte Klemens nicht. Er ging.

Bergauf, bergab, durch die heißen, engen Gassen, durch das Tor, durch die Anlagen. Er weinte immer leise vor sich hin, am meisten darüber, daß die Geige verkauft werden sollte. Jetzt wurde ihm klar, daß die Stunden beim Lehrer doch wunderschön waren. Und die Übestunde auch, wenn man auch müde war.

Der Geigenlehrer stand bei seinen üppigen Rosen. Er sah jetzt aus wie ein Gärtner. Er hatte eine Kappe auf dem Kopf, eine große Schere in der Hand, eine blaue Schürze um. Klemens stand an der Tür und wagte sich nicht in den Garten. Aber da sah ihn der Lehrer. »Du?« fragte er, »warum bist du denn heut nicht zur Stunde gekommen?« Klemens antwortete etwas, aber er schluchzte dabei, deshalb konnte der Mann ihn nicht verstehen. Erst als er näher kam und freundlich zuredete, kam die ganze Geschichte heraus. Dann schwiegen sie alle beide. Der Junge dachte, er könnte nun gehen, aber der Lehrer hielt ihn zurück.

»Sag' mir doch einmal, mein Kind, ob dich die Stunden bei mir freuten?« fragte er.

Der Junge nickte.

»So? Und das Üben auch?«

Der Junge nickte wieder. Es kam nun plötzlich allerlei auf seine Lippen, was er eigentlich nicht sagen wollte. Der Schmerz über den Verkauf der Geige, und dann das Zuhören bei der Musik.

Der Junge weinte wieder verzweifelt.

Mit der Zeit verstand der Geigenlehrer ganz genau, wie alles zusammenhing. Er sagte: »Jetzt geh' nach Hause und bitte den Vater, daß er die Geige nicht verkauft. Die Stunden sollst du umsonst bei mir haben. Aber ordentlich üben mußt du. So, geh' mein Junge.«

Es fing eine andere Zeit für Klemens an. Er machte ganz plötzlich erstaunliche Fortschritte. Selbst die Mutter war zufrieden mit seinem Eifer. Aber dann kamen neue Sorgen. Ein ganz jämmerliches, kleines, zu früh geborenes Mädel stellte sich ein. Haut und Knochen nur, elend, ewig krank und quarrig, das immer den Doktor ins Haus rief und unendliche Mühe machte. An Üben war gar nicht zu denken. In den beschränkten Räumen schallte jeder Ton unrettbar zu der Kleinen hinüber und weckte sie auf, wenn sie endlich einmal schlief.

Neue Verzweiflung.

Und als ihn der Geigenlehrer freundlich aufforderte, bei ihm zu üben, fing die Mutter an zu schelten, ob denn der Klemens niemals mehr heimkommen wollte. Zu Hause gäbe es für jeden die Hände voll zu tun. Sie selbst hetzte sich bald zu Tode mit dem Kinde und der Wirtschaft, und sie könnte seine Hilfe nicht entbehren.

Gerade zu dieser überaus kritischen Zeit kam die Tante Minna durch die kleine Stadt.

Sie war die Schwester des Vaters, wohlhabende Witwe, kinderlos, gutmütig und umständlich, die Hoffnung der Familie. Manchmal sagte der alte Togena halblaut zur Mutter: »Nach Minnas Tode sind wir gemachte Leute.« Aber bei Lebzeiten half sie wenig, sie hörte alle Klagen willig an, tröstete, klagte mit, das war so ziemlich alles.

Wie es nun zuging, daß sie sich gerade für den Klemens interessierte, wußte er später nie zu sagen. Es war eben der Fall. Sie fand es unerhört, daß man um des quarrigen kleinen Mädels willen ein Talent zugrunde gehen ließ. Es gab heftige Auseinandersetzungen, Weinen, Schelten. Das Ende war, daß sie den Jungen mit sich nahm.

Und jetzt wäre sein Leben sehr glatt und korrekt verlaufen, wenn er nicht wirklich ein Künstler gewesen wäre. Aber aus dem stillen, verschüchterten Kinde wurde ein unruhiger, hastiger, sich selbst niemals genügender Mensch. Die Tante sah ihr Ein und Alles in ihm und bewunderte ihn über alles Maß. Das machte ihn ungeduldig. Er konnte geradezu grob gegen sie werden, sich einschließen, kein Wort mehr reden; seine Musik vor ihr hüten wie ein Geizhals sein Geld. Die Lehrer, die er jetzt bekommen hatte, setzten große Hoffnungen in ihn, er übertrumpfte sie mit Ehrgeiz. Er studierte, übte früh und spät, und niemals empfand er Zufriedenheit mit sich. Immer dachte er heimlich an die Melodien, die er damals, als er bei dem Konzert im Grase lag, in sich hatte klingen hören. Das war Musik. Das war unbewußtes Schaffen gewesen. Nach Schaffen suchte er, nicht nach einem, wenn auch künstlerisch vollendeten Nachempfinden.

Die gefährliche Zeit der Pubertät ging vorüber. Togena entwickelte sich spät, erst mit zwanzig Jahren kam er aus jener disharmonischen, unruhigen, ihn hin und her zerrenden Zeit heraus. Langsam kam Erkenntnis nach Erkenntnis. Alle mit viel Bitternis, mit heißen Kämpfen.

Erst die Erkenntnis der eigenen Schwachheit und Unbeholfenheit anderen Menschen gegenüber.

Dann die wirbelnde Erkenntnis des großen Wortes »Kunst«, dann die Erkenntnis des Wertseins oder Unwertseins, dann die Erkenntnis aller Unzulänglichkeit.

Freunde hatte Togena nicht, die Tante verstand von alledem nicht das mindeste. Er mußte alles mit sich allein durchkämpfen.

Plötzlich kam noch eine Erkenntnis hinzu, eine heiße, atemraubende. Die Erkenntnis, daß das Weib nicht jenes minderwertige, verächtliche Geschöpf sei, über das man hinwegsehen konnte. Nein, daß es schön war, schön und anbetenswert.

Dieser Umschlag vollzog sich folgendermaßen:

Gegenüber dem Hause mit den alten, steilen Stiegen, in dem er mit der Tante wohnte, lag die weiße Villa eines vornehmen Mannes. Die Herrin dieses Hauses war blond und schlank und groß. Sie ging mit ihrem schönen Bernhardiner durch die verschlungenen Wege ihres buschigen Parks, und Klemens Togena konnte sie, wenn sie nicht ganz in den Gebüschen untertauchte, sehen. Er stand mit seiner Geige am Fenster und spielte. Die Luft war lau, sanfte Winde flüsterten mit den Birken; die Fliederbüsche in dem großen Park dufteten stark.

Klemens Togena sah die schöne, blonde Frau im Park und spielte die Melodien, die ihm gerade auf jene Stimmung dort unten zu passen schienen. Es waren weiche, kleine Lieder, nicht sentimental, nur sanft und schön. Irgendwelche einst gehörte oder selbst empfundene Melodien.

Die wunderschöne, blonde Frau blieb stehen und lauschte. Aber da klopfte dem Klemens Togena plötzlich wild und heiß das Herz, und obgleich er für sein Leben gern weitergespielt hätte, verwirrten sich die Melodien, und er brach ab.

Die blonde Frau im Garten ging weiter, pflückte nachlässig, wie in Gedanken, einen Fliederzweig ab. Dann nahmen die dichten Büsche sie auf, so daß sie verschwand.

An diesem lauen Abende, den Togena draußen am Ufer des Flusses im Grase verbrachte, ganz verborgen, ganz eingewühlt in die frische, duftende Pracht der Wiese, erkannte er, daß neben der Kunst noch eine zweite wunderbare Gottheit existierte. Das war die schöne kühle, blonde Frau, die durch die Wege ihres Parkes ging und lauschte, wenn er, Togena, seine Geige singen ließ.

Seit diesem Tage bestand auch etwas wie ein Band zwischen ihm und der blonden Frau. Denn immer, wenn er seine Melodien, die ihm selbst köstlicher und köstlicher zu werden schienen, klingen ließ, erschien ihr blonder Kopf am Fenster, oder die hohe, schlanke Gestalt tauchte auf. Dann geschah es wohl auch manchmal, daß sie zu Togenas Fenster hinübersah, und daß sie wie in freundlicher Bekanntschaft lächelte. Aber sie blieb ihm dennoch immer fern, fern wie die Sonne. In seinen Träumen spielte sie die Rolle, die ein Weib in den Träumen eines jungen Künstlers spielen muß. In Wirklichkeit hörte er kaum jemals den Klang ihrer Stimme. Aber was hinderte ihn daran, sie mit all dem Fanatismus, der ihm eigen war, zu lieben!

Den ganzen Sommer lang währte dies zarte Erlebnis, immer gleich, immer neu und schön. Zur Lindenblüte spielte er einmal im Mondschein und meinte ihr Haar wie Phosphor zwischen den Büschen leuchten zu sehen. Im heißen, heißen Sommer jubelte er die halben Nächte lang seine Lieder in den Garten hinüber, und immer sah er oder meinte er die schöne Gestalt der blonden Frau zu sehen.

Dann kam der Herbst. Dann kam Regen und Wind. Und einmal war der Park leer, die Läden waren geschlossen, das ganze Haus lag still wie im Schlaf. Da hörte er, daß die schöne, blonde Frau leidend war und in den Süden gehen mußte, um ihr Leiden zu lindern oder zu heilen.

Und während jenes Winters, den er in voller Erwartung, in vollem Sehnen auf den Frühling verbrachte, ward er erst der große Künstler, der er werden konnte. Niemals in seinem ganzen Leben sollten ihm wieder die Melodien zu Gebote stehen, wie damals. Er war ein glücklicher Mensch in dieser Zeit trotz all der Unruhe der Erwartung. Als aber der Frühling kam und das Haus nicht aus seinem Schlaf erwachte, als er hörte, daß die schöne Frau niemals mehr durch ihren buschigen Park auf den verschlungenen Wegen gehen würde, litt es ihn nicht mehr in der Stadt. Er wurde unleidlich, krank. Dann plötzlich war der Entschluß gefaßt, er war so fest gefaßt, daß keine der flehentlichen Bitten aus dem Munde der Tante ihn zu ändern vermochten; er ging nach Berlin.

Aber Berlin, dies große, riesengroße Berlin, das umwirft, neu bildet, schwanken macht, befestigt, das gab erst den Schlußstein zu seiner Entwicklung.

Der ganz auf das Ideale gestimmte Künstler befand sich hier plötzlich ohne Übergang mitten in der Realität.

Wo blieb da der Traum von den Frauen? Von jenen wunderbaren, zarten Wesen, die voll von Begeisterungsfähigkeit waren, voll von sanftem und doch fanatischem Verstehenwollen.

Die Wirklichkeit, sein erstes Verhältnis, gab den Träumen einen starken Stoß. Und obgleich er sich wohl umgesehen hatte und sogar auf eine Frau traf, die das Verständnis für Musik mit ihm teilte, so war sie doch ganz und gar verschieden von seinem Ideal. Es kam zu häßlichen und auch durchaus nicht notwendigen Szenen, und als Togena eines Tages erkannte, daß ihn dies unruhige Hin und Her voll Aufregungen und Erschöpfungszuständen in seiner Kunst zurückbrachte, erfaßte ihn ein intensiver Haß gegen die Freundin. Er fühlte sich betrogen und verzweifelte an sich und seiner Kunst. In einer häßlichen Szene, in der sie ihm seine Herkunft aus kleinen Verhältnissen, sein unsicheres und oft lächerliches Benehmen, seine körperliche Unschönheit vorwarf, in der er sie mißhandelte und hinauswies, endete diese in seinen Augen so ideal beginnende Freundschaft.

Von dieser Szene an, die ihn noch jahrelang verfolgte, erschreckte und peinlich wehe tat, unterdrückte er jede Sehnsucht nach einer Frau.

Und wenn er litt und sich wohl auch, unreif, wie er noch war, wie ein Märtyrer vorkam, so fühlte er doch eine tiefe Befriedigung. Die Kunst ward reiner und größer in ihm, mit Fanatismus und Gewalt eignete er sich ein wirklich großes Können an. Die Kunst hielt, was sie versprach.

Langsam fielen die letzten Schlacken der Jünglingsjahre von ihm ab.


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