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XXIII.

Es ist gegen zwölf Uhr, als sie im Hotel ankommen. Spinola hilft ihr beim Aussteigen und begleitet sie galant in die Halle. Sie stehen noch beieinander und plaudern. Sie verabreden ein Wiedersehen, sprechen über den vergangenen Tag und von der Liebenswürdigkeit der Madame du Foure. Er sagt: »Vielleicht denken Sie auch manchmal an das, was wir im Park beredeten. Es ist gut, wenn Sie darüber nachdenken. Sie werden sich klar werden über die Entscheidung.«

Lori fühlt ihr Herz pochen. Sie denkt an die plötzlich sich öffnende Lebensmöglichkeit. Ein leichtes Rot steigt ihr ins Gesicht, und sie lächelt. Ihre Augen treffen sich, die ihren sind voll Vertrauen, die seinen voll Güte. »Es ist gut, wenn Sie darüber nachdenken,« wiederholt er.

»Ich bin Ihnen dankbar,« erwiderte sie leise. Dabei macht sie unwillkürlich eine Wendung. Ihr Blick fällt in die Halle. Und da schrickt sie plötzlich zurück und schreit auf: »Hasso!«

Auch Monsignore Spinola wendet sich. Er sieht, wie die hohe Gestalt eines ergrauten, glattrasierten Mannes sich aus dem Korbstuhl erhoben hat. Das Antlitz des Mannes ist hart und blaß, sein Gang steif. Langsam und mit nervösen Bewegungen kommt er näher.

»Hasso,« sagt Lori noch einmal. Sie greift mit beiden Händen vorwärts. »Hasso!«

Der Regierungsrat schaut sie nicht an. Er ist auf den Geistlichen zugetreten. Die Herren messen sich, sie stellen sich vor, sie sind steif. Aber die Steifheit Spinolas hat Grazie und Liebenswürdigkeit; seine Art sticht scharf ab gegen die unruhige, nervöse des anderen. Sie fühlen beide deutlich, daß er die Situation beherrscht.

Und seine sanfte, gütige Stimme klingt durch den Raum. Die Stimme drückt mit vollkommener Deutlichkeit die Macht seiner wundervollen Ruhe aus.

»Es freut mich, Ihnen zu begegnen, Herr von Beer. Ihre Frau Schwester sprach viel von Ihnen, so wenig sie auch sonst von sich selbst erzählt.«

Hasso antwortet. Im Gegensatz zu Spinola ist seine Stimme gereizt. »Ich bin gekommen, um meine Schwester nach Hause zu holen. In Brüssel traf mich die Nachricht von einer schweren Erkrankung meiner Mutter. Sie ist alt, sie verlangt nach ihrer Tochter. Ich beschloß, selbst zu kommen und meine Schwester zu holen.«

»Hasso,« stammelt Lori in Angst; sie ist weiß wie Schnee. »Hasso!«

Da ist auch schon wieder Spinolas Stimme, gütig und voll Milde. Er spricht sein Bedauern aus. Er bittet, am nächsten Morgen früh Nachricht holen zu dürfen, wie die weiteren Berichte von Frau von Beers Krankheit lauten. Wieder beherrscht seine Ruhe die Situation.

Dann verabschiedet er sich. Lori sieht ihm nach, wie er beim Windfang verschwindet; geistesabwesend starrt sie immer noch in die eine Richtung. Ihr Gesicht ist so weiß wie ein Blatt Papier; der Mund zuckt, in den starren Augen ist Leblosigkeit.

Hasso beißt sich auf die Lippen. Er hatte die Hand, die Spinola ihm reichte, geflissentlich übersehen, aber dabei traf ihn ein Blick aus den Augen des anderen, der ihm das Blut zum Herzen trieb. In dem Blick lag nicht nur Hochmut. Es war der Blick des Fürsten, der eines Untertanen Torheit belächelt. Härter noch, als seine Stimme sonst geklungen hätte, sagt er: »Ich erwartete es, dich hier anzutreffen, Lori. Als ich gegen elf Uhr früh von Brüssel hier antelephonierte, warst du nicht im Hotel. Um so mehr mußte ich erwarten, daß du wenigstens zu der Zeit, die ich für meine Ankunft angab, hier sein würdest.«

Lori ist wie zerbrochen. Sie steht immer noch auf derselben Stelle. Immer noch zuckt es nervös in ihrem Gesicht. Sie hat das Gefühl, als verschwände der Boden unter ihren Füßen. Die Möbel tanzen, der Tisch vor ihr dreht sich.

»Was fehlt Mutter, sag', Hasso, was fehlt ihr,« fragt sie rasch, mit einer Stimme, die ohne Atem scheint.

Er sieht sie voll Verachtung an. »Du bist den ganzen Tag mit diesem Menschen allein unterwegs gewesen?«

Aber Lori hört ihn gar nicht. Sie hört gar nicht, daß er Vorwürfe machen will. »Hasso, sag' doch endlich, Hasso, sage doch, was fehlt ihr,« bittet sie.

Er fährt fort: »Ich hoffte, wenigstens mit dem Zehnuhrzuge mit dir fortzukommen; aber es wurde Mitternacht, ehe du –«

Lori bittet schon wieder. »Was fehlt ihr, Hasso, ist die Krankheit gefährlich? Ist es schlimm, was fehlt ihr?«

»Ich hätte dich nicht geholt, wenn es nicht gefährlich wäre,« sagt er hart.

»Hasso!«

»Aber du natürlich bist unterwegs, du bist unterwegs. Du treibst dich umher. Du bist nicht hier. Morgens nicht telephonisch zu erreichen; nachmittags nicht im Hotel, wenn man ankommt, du, du!«

Langsam geht er voraus zum Fahrstuhl. Er spricht fortwährend dabei. »Und ich sitze hier seit sechs Uhr und warte, warte. Ich sitze verzweifelt. Ich denke, jeden Augenblick kann dort in Charlottenburg die alte Frau, nach der mein Herz sich sehnt, ihr Leben aushauchen. Ich frage die Jungfer, wo du bist. Sie sagt: auf das Land gefahren, zu Besuch. Bei wem, weiß sie nicht. Und ich warte, warte.«

Mechanisch ist Lori ihm gefolgt. Sie hört nicht, was er spricht. Sie fühlt nur, daß der einzige Mensch, den sie besitzt, krank ist, todkrank, daß Gefahr herrscht. Sie bittet wieder: »Hasso, was fehlt ihr, Hasso?«

Der Fahrstuhl steigt hinan, er hält, sie verlassen ihn. Hasso geht voran, sie läuft eilig mit unsicheren Schritten hinter ihm her. »Hasso, Hasso, was fehlt ihr?« bittet sie. Sie weiß gar nicht mehr, was sie spricht. Ihre Gedanken verwirren sich. »Hasso, Hasso!«

In ihrem Zimmer sinkt sie trostlos auf einen Stuhl. Er sieht, daß sie erschöpft ist, aber in ihm ist der Zorn. Ganz dicht bleibt er vor ihr stehen. Er ballt die Hände.

»Und nach dieser Person verlangt die alte Frau,« sagt er hart. »Sie verlangt nicht nach mir. Sie schreit nach Lori. Ich soll von Brüssel nach Paris, um Lori zu holen. Ich, der ich nach einem direkten Heimkommen mich sehne, darf nicht kommen. Ich muß den Umweg über Paris machen. Und dann ist das Frauenzimmer noch nicht einmal im Hotel, kommt erst nachts heim. Und wieder muß ich warten. Die Züge, die am Abend gingen, sind fort. Warten müssen wir, warten, warten. Wir müssen warten bis zur nächsten Nacht, ehe wir sie sehen. Und dann ist alles vorbei. – Dann ist alles vorbei –.«

Lori hält die Hände über die Augen. Sie hat das Gefühl, daß er sie schlagen will, sie ist hilflos. Sie ist vollkommen wehrlos. Sie fühlt, daß sie sich nicht einmal retten kann vor ihm.

»Hasso,« bittet sie leise, »was fehlt ihr?«

»Was ihr fehlt? Wir wissen es nicht. Vielleicht eine Lungenentzündung, vielleicht nur die Schwäche ihrer Jahre. Und nach dir schreit sie. Hörst du, Lori? Sie liegt in ihrem armen, schmalen Bett und schreit: ›Lori, meine kleine Lori! Komm doch, meine Lori!‹ Und so den ganzen Tag, den ganzen, lieben Tag. Und das Frauenzimmer treibt sich herum, denkt nicht daran, daß es eine alte Mutter hat. Treibt sich mit seinem Galan den ganzen Tag, die halbe Nacht herum. Sag' die Wahrheit, du, wo warst du?«

Lori zittert in der Todesangst, die seine Faust ihr einflößt, die immer vor ihren Augen hin und her schwankt. Sie öffnet die Augen, sie sieht das wutverzerrte Gesicht des Bruders. Sie will sprechen, sich verteidigen, aber die Stimme versagt. Er schreit sie wieder an. »Warst du bei ihm, sag' mir, du, warst du bei ihm?«

Sie nimmt alle Kraft zusammen. »Ich war auf dem Lande bei Madame du Foure,« flüstert sie. »Und auf dem Rückweg, da – da – der Reifen –.« Die Faust fällt auf ihre Stirn. Funken sind vor ihren Augen, jemand schreit auf: »Das ist gelogen!«

Dann ist ein großes, schreckliches Sausen um sie, ein starker Schmerz in der Stirn. Wilde Gedanken, die sich drehen, alles dreht sich. Josephine kommt zur Tür herein. Lori würgt an der Angst, sie würgt an einem Schrei, der versagt.

Als sie wieder bei Besinnung ist, steht die Jungfer vor ihr. Sie sieht blaß und verweint aus. In ihrer Hand ist ein Glas Wasser, das sie ihr an den Mund preßt.

»Sie schlägt die Augen auf,« sagt die Jungfer mit einer beleidigten Stimme.

Und vom Fenster her kommt die Antwort: »Dann ist es gut, Sie können gehen. Ein Doktor wird nicht geholt, verstanden!«

»Aber wenn die gnädige Frau so schrecklich aussieht! Und die Füße sind naß und das Kleid naß und alles eiskalt.«

»Sie können gehen,« sagt die Stimme scharf.

Schweigen herrscht im Zimmer. Da rafft Lori sich endlich auf. Ihr schwindelt noch, der Kopf schmerzt. Aber die Gedanken sammeln sich langsam. »Ich sage die Wahrheit, Hasso. Madame du Foure hatte uns zu sich gebeten. Auf dem Rückweg platzte der Pneumatik. Wir standen im Regen und mußten warten.«

Die scharfe Stimme vom Fenster her sagt: »Und du warst den ganzen Tag unterwegs?«

»Ja.«

»Wo liegt die Besitzung?«

»Südlich, nach Fontainebleau zu.«

»Lori, wenn ich dir glauben könnte!«

»Hasso, Hasso!«

Ihre Verzweiflung läßt ihn ein wenig sanfter denken. »Laß dich von der Jungfer ausziehen und gehe ins Bett,« sagt er. »Der Zug geht morgen früh gegen acht Uhr. Du wirst müde sein, und was wir zu besprechen haben, können wir morgen ebenso gut besprechen.«

Sie richtet sich auf. »Ich muß heute noch alles wissen. Hasso, ich muß!«

Wieder klingt die harte Stimme um eine Kleinigkeit weicher: »Du bist elend, Lori; gehe wenigstens erst zu Bett und laß mich dann rufen.«

»Hasso, ich muß wissen, wie es meiner Mutter geht.«

»Du hörst es, schlecht.«

»Von wann sind die letzten Nachrichten?«

»Die letzte Depesche ist heute früh um acht Uhr aufgegeben.«

»Lies sie mir vor.«

Hasso liest langsam: »Zustand unverändert. Dringend erwünscht, daß du Lori holst. – Aber du warst nicht da.«

Sie schaut ihn an. »Konnte ich denn wissen –?«

»Schweig!« unterbricht er sie. Er geht hinaus.

Halb besinnungslos fällt sie wieder zurück.

Im Bett liegend, erfährt Lori die Krankheitsgeschichte.

Es begann mit langsam sich steigernder Schwäche, Husten, dann stellte sich Fieber ein. »Wenn nur die Lorichen gesund würde; wenn sie nur bald heimkäme,« klagte die alte Frau. Dann hatte jemand erzählt, daß Lori in Paris viel mit einem katholischen Geistlichen gesehen würde. Das hatte Frau von Beer aufgeregt. Sie, die im Katholizismus einen Feind sah, entsetzte sich darüber, daß ihre geliebte Tochter in solche Hände geriet. Sie begann zu klagen, sich nach Lori zu sehnen. Es wurde zur fixen Idee, dies Sehnen.

Als warme Tage kamen, besserte sich der Zustand. Hasso konnte endlich an die Erholungsreise, die er notwendig brauchte, denken. Aber kaum in London angekommen, lauteten die Nachrichten wieder ungünstiger. Hasso ging zurück nach Brüssel und dort –

Lori unterbricht den Bericht. »Warum schriebt ihr mir nicht?«

»Wer sollte dir schreiben?« fragt Hasso.

»Du selbst.«

»Ich hatte es längst aufgegeben, dich zur Vernunft zu bringen.«

Sie richtet sich auf. In dem blassen Gesicht glühen die Augen. Langsam sagt sie: »Wenn ich dir alles vergebe, Hasso, auch den Schlag vorhin. Aber das vergebe ich dir niemals.«

»Willst du mir jetzt auch noch Vorwürfe machen?« fragt er hart.

»Das will ich. Es war mein Recht, zu wissen, daß meine Mutter sich nach mir sehnte!«

»Du hattest alles Recht verloren,« sagt er, »mit dem Augenblick, wo –«

Er hält inne, und ihr Herzschlag stockt. »Mit dem Augenblick wo –?« fragt sie heiser.

»Wo du ein Leben in München führtest, das nicht mehr einwandsfrei war.«

»Was soll das heißen?« Sie wird rot. Sie wird rot vor Scham. Ihr fallen die Tage ein, in denen sie sich selbst zum Ekel ward. Sie begreift nicht, wie sie so tief sinken konnte. Fast übel wird ihr vor Ekel.

»Das soll heißen, mein Kind, daß ich genau von deinem Tun und Lassen Kenntnis hatte,« sagt er kalt.

Sie schreit auf: »Du hast mich beobachten lassen!«

»Das tat ich,« erwidert er. »Ich tat es, weil ich nicht glauben wollte, wie tief meine schöne, stolze Schwester fiel. Ich liebte meine Schwester, ich sah ein, daß ich sie immer noch liebte. Wie ein eifersüchtiger Freund wollte ich über ihr wachen. Aber das, was ich hörte, ließ mich alle Liebe vergessen.«

Lori liegt wie im Feuer. Eine entsetzliche, verzweifelte Scham zerreißt sie. Eine Scham, die sie ihr Gesicht verbergen heißt, die alles in ihr zittern macht.

Ihr Stolz windet sich. Der Stolz, der dennoch nie gebrochen war, windet sich in dem Entsetzen über das, was sie hörte.

»Geh', geh', hinaus, hinaus!« schreit sie auf.

»Willst du mir die Tür weisen?« fragt er verächtlich.

»Ich will, daß du gehst.«

»Und ich will, hörst du wohl, du, ich will, daß du mich anhörst. Um meiner Mutter willen, die mich bitten ließ, dich zu holen, bin ich hergefahren, nicht um deinetwillen. Du wirst morgen früh mit mir nach Berlin reisen. Dort wirst du deiner Mutter das Versprechen geben, nach dem sie verlangt: ordentlich zu leben und dich von jeglichem Verkehr mit katholischen Kreisen fern zu halten. Dann wirst du, so wie es sich gehört, in Berlin bei deinem Mann und deinem Kinde wohnen.«

Lori sieht ihn steif an; ihre Augen sind groß und leer. »Das letztere niemals,« sagt sie tonlos.

Er zuckt die Achseln. »Wir sprechen darüber noch. Vorerst reisen wir nach Berlin, und du wirst deiner Mutter, wenn du sie überhaupt noch am Leben antriffst, das Sterben durch dein Versprechen leicht machen.«

An der Grenze ihrer Kraft bekommt Lori ihren eigenen Willen wieder in die Gewalt. Sie zieht den Mund verächtlich herab, ihre Hände krampfen sich. »Ich habe nur einen Menschen gehabt, den ich liebe, das ist meine arme, alte Mutter. Was sie von mir verlangt, werde ich tun, nichts anderes.« Sie spricht kurz und scharf betont. Dann dreht sie sich zur Seite und schaut von ihrem Bruder fort.

Er erhebt sich langsam und geht.

Als die Tür sich hinter ihm schließt, schluchzt sie hart und trocken auf.


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