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XXII.

Paris hatte noch im Nebel gelegen, aber draußen war Sonne.

Das war die blasse, sanfte Märzsonne, die nur bescheiden ihre Wärme gibt, die matte Schatten hervorruft, die im zartblauen, hohen Himmel steht.

Alles Grün hatte noch den grauen oder braunen Schimmer warmer Umhüllungen, und nur die Sträucher waren schon strotzend in zitternd entfaltetem Laub, und die Wiesen dehnten sich weit aus, sanft sich färbend, in den Mulden, dem Wasser zu, grüner als auf den Erhöhungen, oder gelb schon teilweise von scheuen, kleinen Frühlingsblumen.

Schöne, blaue Wasseradern schlängelten sich fort, kleine Teiche lugten wie tiefblaue Augen. Fernhin zogen sich die Chausseen, mit Pappeln bestanden, blaß und grau im Hauch des letzten Nebels, und blaue Hügel säumten den Horizont.

Das Auto fuhr rasch und weich. Auf den guten Wegen glitten die Pneumatiks glatt fort. Es war ein schöner, großer Wagen, dunkelgrün, fast schwarz, die Ledersitze tief und bequem. Lori dachte unwillkürlich an die Fahrten in Berlin. Sie wollte nicht daran denken, aber wenn sie ihre Gedanken außer acht ließ, liefen alle wieder auf den gleichen Punkt zurück.

Und doch war dies alles anders. Die Landschaft, die Luft, ihr Begleiter, sie selbst –

»Sie sind sehr still heute, Madame,« sagte Spinola.

Lori lächelte. »Ich denke an Madame du Foure. Es ist so liebenswürdig von ihr, mich einzuladen.«

»Es ist ebenso liebenswürdig von Ihnen, Madame, der alten Dame herzlich entgegenzukommen.«

»O nein,« sagte Lori rasch. »Madame du Foure hat ihren großen Bekanntenkreis, sie hat ihre Stellung hier, und ich bin einsam und fremd. Es ist um so liebenswürdiger, daß sie sich meiner annimmt.«

»Um so natürlicher. Für Madame du Foure ist es selbstverständlich, daß sie so handelt.«

»Man fühlt diese Selbstverständlichkeit,« sagte Lori. »Gerade das macht sie unendlich sympathisch. Ich bin versucht, Madame du Foure für eine außergewöhnliche Frau zu halten.«

Er erwiderte: »Ich würde sie nicht einmal eine außergewöhnliche Frau nennen. Sie ist voll von Grazie und voll von Herzensgüte, sie ist intelligent und doch nicht über dem Durchschnitt stehend. Bewundernswert an ihr ist eigentlich nur die Kunst, mit der sie alt zu werden verstand.«

»Und als sie jung war?« fragte Lori. »Wie war sie damals?«

»Das kann ich nicht recht sagen. Ich war Kind, als sie jung war, und hatte deshalb kein Urteil. Ich glaube aber, daß sie in heiterer Art das Leben genoß; diese Heiterkeit, die jetzt noch ihr Zauber ist, besaß sie immer. Selbst in der schweren Zeit ihres Lebens, als sie alles, was sie liebte, verlor, blieb sie in gewisser Art heiter. Sie weinte wohl, aber ich kann mich nicht erinnern, sie trostlos gesehen zu haben.«

»Und jetzt lebt sie ganz allein auf ihrem Gut?«

»Ja, ganz allein. Sie ist nahe bei Paris, und ihre Bekannten suchen sie auf. Im ganzen ist sie, wie ich sie kenne, gern allein. Sie hat viel von der Welt gesehen und viel Menschen kennen gelernt, darum wurde sie wählerisch.«

Lori fragte: »Glauben Sie, daß es das war, was sie wählerisch machte? Ich bin im Grunde immer der Meinung, daß ein Bedürfnis nach Anregung und Verkehr Charaktereigenschaften sind.«

»Und ich,« sagte er, »spreche jenen verkehrssüchtigen, anregungssüchtigen Frauen jedes Recht auf Stil und feinere Empfindung ab. Ich für mein Teil finde eine solche Menschensehnsucht minderwertig. Wer es sich leisten kann, sollte nur mit den Menschen verkehren, die auch die Zeit, die sie kosten, durch Anregung einbringen. Sie werden selten von mir ein hartes Urteil hören, Madame, aber über jene Art Menschen, die Verkehr nur suchen, um sich auszufüllen, die immer und ewig an müßigen Stunden leiden, habe ich ein hartes Urteil. Madame du Foure gehört nicht zu ihnen.«

Lori lächelte. »Madame du Foure hat viele Interessen, sie kann sich selbst ausfüllen, meinen Sie?«

»Ja, das meine ich. Die alte Dame interessiert sich trotz ihrer Jahre für alles. Aber das Schönste an ihr ist das milde Urteil und die Harmonie, mit der sie alles in sich in Einklang zu bringen vermag. Sie ist sehr strenggläubig und hat trotzdem Verständnis für jede andere Richtung. Ich bewundere das, denn mir ist diese Toleranz nicht gegeben.«

»Würden Sie es denn für richtiger halten, wenn Ihnen diese Toleranz gegeben wäre?«

Sie sahen sich an. Jetzt lächelten sie beide. »Nein,« sagte er. »Aber es paßt nicht alles für mich, was für Madame du Foure paßt. Ich, Madame, ich muß Fanatiker sein, und sie findet volles Genüge in der Religion, die sie besitzt.«

Der Weg senkte sich, und die Pappeln an der Chaussee blieben zurück. Grüne Felder dehnten sich weit aus, jetzt kam ein Stückchen Brachland, jetzt eine Wiese. Zur Linken tauchte blau und flimmernd ein Wasserlauf auf. Er schlängelte sich an grünem Buschwerk vorbei, jetzt bog er scharf ab, dem Gehölz zu, das herb mit dünnen Zweigen in den Himmel griff. Dann kam ein Dorf; Hunde bellten, Kinder liefen zur Seite, und aus den Türen traten die Frauen. Mitten im Dorf machte der Wagen hart eine Wendung nach rechts in die Allee, die, breit und ernst, mit alten Bäumen bestanden, sich abzweigte. Ein hohes, steifes Gitter erschien in der Ferne, hinter dem Gitter die Umrisse eines vornehmen Landhauses, dessen helle Wände zu leuchten schienen.

»Wir sind am Ziel,« sagte Spinola und setzte sich gerader auf. Das Auto fuhr durch das breite Eingangstor; es nahm leicht und graziös den Bogen um das Rondell vor dem Hause. Es hielt.

Madame du Foure war ihren Gästen mit jener Herzlichkeit entgegengekommen, die einzelne bevorzugte Menschen im Alter auszeichnet. Es war die Herzlichkeit der wirklichen Gastfreundschaft, die Freude über die Kommenden empfindet und diese Freude auch äußern kann. Sie hatte Lori beide Hände entgegengestreckt, zarte, weiße, anmutige Hände, und Lori hatte das Gefühl gehabt, daß ihr hier wohl sei. Sie hatte Lori Worte gesagt, die nicht über das Maß konventioneller Höflichkeit hinauskamen, aber der Ton gab Freundschaft, mehr als das, er gab die sanfte Mütterlichkeit, die unwillkürlich heimatlich empfinden läßt.

Und während sie nun in dem kleinen, runden Eßsaal beim Lunch saßen, betrachtete Lori voll Interesse die schmale Gestalt ihrer Wirtin.

Die alte Dame war klein, mit graziösen Bewegungen. Sie trug ein einfaches Kleid aus schwarzem Taffet, das am Halse und an den Handgelenken sehr fest mit schmalen, weißen Streifen schloß. Die Tracht war fast wie die einer Nonne oder Äbtissin, aber es war, als könnte zu dieser Gestalt kein anderes Kleid möglich sein.

Und wie das Kleid, so paßte die ganze Umgebung zu Madame du Foures Gestalt. Die Einrichtung in diesem wundervoll graziösen Raum schien noch aus der Zeit zu stammen, als das kleine Schloß erbaut war. Sie war rein in den Linien, fast einfach für den Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts, vollendet aber in Stil und Farben.

Lori fühlte, hier war Kultur; hier lebte noch die alte Zeit, die Frankreichs Stolz ist. Die Kultur strenger und gerechter Schönheit, die alles bannt, was sich ihr nicht unterwirft.

Auch die Unterhaltung der drei fügte sich gut in diesen Raum ein. Es war eine jener Unterhaltungen, die unpersönlich sein darf, weil sie Grazie hat. Und es kam Lori vor, als wenn selbst die Worte der alten Dame über das Wetter durchaus reizvoll wären. Die sanfte Stimme klang in ihrer Sprache immer wie Musik. Es war bezaubernd, wenn sie mit leisem Humor den März in Cannes mit dem März in Paris verglich und dann, als sie merkte, daß Spinola sprechen wollte, rasch hinzusetzte, es sei selbstverständlich, daß in Rom selbst der März wundervoll wäre.

»Rom, ja Rom!« sagte sie lächelnd. »Er läßt nichts gelten als Rom. Ich verstehe das nicht, denn ich für mein Teil liebe Paris bedeutend mehr. Aber er muß natürlich auch darin einseitig sein. Jawohl, einseitig. Haben Sie noch nicht bemerkt, Madame, daß alle tüchtigen Männer immer einseitig sind?«

»Weil Vielseitigkeit zersplittert,« warf Spinola ein. »Und wie falsch würden Sie verstanden werden, liebste Freundin, wenn Sie das im großen Kreise sagten. Madame Granier ist klug genug, um zu verstehen, aber die anderen – o – o.«

Die alte Dame lachte lustig. »Ja, sie würden es falsch verstehen. Sie würden niemals die Notwendigkeit der Einseitigkeit begreifen.«

»Dies erstens, gewiß. Aber sie würden auch nicht begreifen, daß eine vollendete Einseitigkeit in sich vollendete Vielseitigkeit birgt, nicht wahr?«

Lori sagte: »Es kommt allerdings auf die Persönlichkeit an. Leider gibt es nur wenige, die es sich leisten können, in der von Ihnen beschriebenen Art einseitig zu sein.«

»Gewiß, Madame, weil es überhaupt nur einen ganz geringen Prozentsatz gebildeter Leute gibt. Aber das ist nicht zu ändern, das ist in jeder Zeit gleich, nur daß die heutige leider unter so ungeheuer viel mißverstandener Bildung leidet. In Rom –«

Madame du Foure unterbrach ihn lachend. »Da ist er wieder in Rom. Er kann es nicht lassen, darauf zurückzukommen. Fangen Sie, Madame, mit dem Nordpol an, und er endigt mit Rom, und wenn Sie von Marokko sprechen, so wird er ebenso sicher in kurzer Zeit in Rom sein. Ja, ich machte einmal eine Probe und redete hintereinander erst von den Amerikanerinnen, dann von Caruso und zuletzt vom russisch-japanischen Kriege; alles endigte in Rom.«

Sie lachten alle drei, und Spinola verbeugte sich, indem er dabei liebenswürdig und in halber Verlegenheit über seine Einseitigkeit zu reden begann.

Madame du Foure reichte ihm über den Tisch weg die Hand. »Ich möchte Sie ja gar nicht anders haben, lieber Freund, als so, wie Sie sind. Nein, nicht um das Mindeste anders. Rom ist Ihr Glück und Ihr Stolz. Ich liebe das an Ihnen, es gibt Ihnen noch eine persönlichere Note. Ja, es ist nicht anders in der Welt, nur der Festgewurzelte kann eine wahre Persönlichkeit sein. Jenes Hin und Her, das uns heimatlos macht, reißt uns auch ein Stück der Persönlichkeit fort.«

Lori errötete. Sie wußte, diese Worte waren nicht für sie gesprochen, aber unwillkürlich trafen sie sie scharf. Und dann fragte sie sich, ob sie denn früher, als sie noch fest wurzelte, behütet und gepflegt ward, eine Persönlichkeit war. Man räumte ihr bereitwillig den Platz einer Persönlichkeit ein, und doch –

Die alte Dame sah, daß Lori traurig war, sie sah, wie sie errötete; rasch hatte sie ihre Hand auf die Loris gelegt. »Nicht traurig sein, Madame, nicht traurig sein. Glauben Sie denn, daß ich wirklich fest wurzelte, als ich so jung war wie Sie? O nein, ich war ein Irrwisch damals, ich mußte erst lernen, daß die Wurzelfestigkeit ein Segen ist. Spinola, der erkannte das wohl schon früh. Aber er ist ein Außergewöhnlicher, und er ist ein Mann. Wir Frauen sind anders, wir mit unseren feineren Empfindungen und feineren Nerven erwarten mehr vom Leben und geben uns deshalb schwerer zufrieden. Ja, Madame, ja, das ist unsere Stärke und unsere Schwäche. Wir erwarten zu viel, die Enttäuschung bleibt niemals aus. Wir erwarten schon hier eine Seligkeit, die es auf dieser Welt doch gar nicht gibt.«

»Unsere Stärke?« fragte Lori, und sie fühlte immer noch die kleine, zarte Hand auf der ihren.

»Gewiß, auch unsere Stärke. Denn daß wir überhaupt fähig sind, daß wir überhaupt fähig zu solcher Empfindung sind, ist Stärke. Allerdings halte ich es für falsch, daß jedes erste beste Mädchen erzogen wird, als sei sie der Mittelpunkt der Welt. Ich halte es für einen der größten Fehler dieser Zeit, daß wir nicht verstehen, gute Frauen zu erziehen. Daß wir eine jede denken lassen, sie, gerade sie wäre in der Welt, um geliebt und verwöhnt zu werden und nicht um selbst zu lieben und zu verwöhnen.«

Lori sagte: »Glauben Sie nicht, Madame, daß die Frauen binnen kurzem ganz und gar unterdrückt sein würden, wenn sie nur immer Liebe und Verwöhnung geben würden?«

»Aber Kind, aber liebes Kind!« rief Madame du Foure. »Nein, nein, nein, sie würden herrschen. Dann erst würden sie recht herrschen, denn dann erst würden sie anbetungswürdig sein. Haben Sie denn niemals bemerkt, daß wahre Güte und wahres Vertrauen auf die Länge der Zeit immer siegen! Nein, so viel Gerechtigkeit gibt es doch in der Welt.«

»In Rom –,« sagte Spinola, aber er hielt rasch inne, denn die beiden Damen lachten lustig auf.

Nach Tisch zieht sich Madame du Foure gern ein wenig zurück. Es ist warm draußen, sonnig. Spinola schlägt Lori vor, zusammen im Park spazieren zu gehen.

Wunderschön ist der Park. Die geradlinigen Alleen hundertjähriger Linden rahmen den Rasen ein. Die Alleen sind breit, die Bäume ragen hoch in den Himmel.

Es duftet im Park nach frischem Grün, nach Erde. Im Rasen ducken sich die Veilchen und duften stark und würzig in der warmen Sonne.

Sehr still ist es ringsumher. Fern im Dorf nur bellen die Hunde, das Vieh blökt. Von weither tönt ein eintöniger Gesang herüber, er bricht manchmal ab, hebt sich, senkt sich. Er stört nicht, denn er ist wie ein Stück des feierlichen Schweigens selbst.

Lori geht an Spinolas Seite die Lindenallee hinab. Sie ist schlank, sie ist blaß. Das Dunkel ihrer Kleidung läßt sie noch schlanker und bleicher erscheinen. Ihre Wangen sind sehr schmal geworden, und nur der herbe Mund, der Mund, der immer gern schmerzlich lächelte, blieb mit seinen roten Lippen der gleiche.

Als die Lindenallee in freiere, waldige Wildnis endet, bleibt Spinola stehen. Er reckt sich. Er schaut mit den dunklen Augen, die faszinierend sind, Lori an. Dann sagt er: »Ich würde Sie gern um eine Unterredung bitten, Madame.«

Lori wird um einen Schein blasser; sie fühlt, wie ihr Herz schlägt. »Hier?« fragt sie.

»Ja, hier. Es ist eine Bank am Teich. Wir könnten uns dort setzen –.«

Lori nickt nur und folgt ihm.

Zwischen ernsten, hohen Tannen liegt der Teich. Er ist rund wie ein Auge, sein Wasser ist dunkel. Mitten darin steht eine Tritonengruppe, grün vom Moos und mit jener sanften Geschwungenheit in den Linien, die sich wie hineingewachsen in die Landschaft fügt. Der Triton lächelt noch und hebt sein Horn, aber das Wasser sprudelt längst nicht mehr hervor. Zur Seite, wo die Tannen dichter noch stehen, noch höher ragen, ist eine weiße Bank. Dort läßt die dunkle Baumwand einen Blick frei. Weithin geht der Blick über den Teich, über Wiesen zum Haus, das still und weiß in seinem Zauber träumt.

»Ich denke, es wird nicht feucht sein,« sagt er. »Die Sonne stand den ganzen Mittag über hier.«

Sie lächelt nur, jedes besorgte Wort ist eine Wohltat. Er weiß es, und sie weiß es auch. Das Lächeln dankt, er versteht den Dank.

Ein kurzes Schweigen herrscht, dann beginnt er zu reden. »Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, Madame, wird Sie vielleicht wunderlich berühren. Ich wählte darum Madame du Foures Besitzung zu unserer Unterredung aus, denn ich denke, Sie selbst empfinden, daß Sie an der alten Dame, die wirklich Dame ist, einen Halt haben. Dies Gefühl in Ihnen wachzuhalten, ist mir wichtig. Frau steht zur Frau anders, als eine Frau zum Manne. Die Frau kann bei der anderen Frau besser Rat holen, sich innerlich sicherer fühlen. Zwischen Mann und Frau,« er lächelt, »besteht seit zu alter Zeit der Kampf. Und darum möchte ich Ihnen versichern, daß Sie zu Madame du Foure das unbeschränkteste Vertrauen haben können. Sie ist nicht nur klug, sondern sie hat auch zu Ihnen, Madame, eine Zuneigung gefaßt, die des Vertrauens würdig ist.«

Lori unterbricht ihn. »Sie machen mir meine Verschlossenheit zum Vorwurf?«

»Keineswegs. Ich achte Verschlossenheit, wenn ich sie auch nicht verstehe. Was ich von Ihnen, Madame, weiß, ist für mich genügend. Ich habe mir ein klares Bild von Ihrem Leben gemacht.«

»Ein klares Bild?« sagt sie leise und zweifelnd.

Und er: »Gewiß, so weit es möglich ist, ein klares Bild. Sie heirateten ohne Liebe einen reichen Mann. Er war gut zu Ihnen, und das drückte Sie mehr noch nieder, als Härte es getan hätte. Glauben Sie mir, Madame, ich kenne solche Ehen gut genug; die edlen Frauen vertragen sie niemals.«

Wieder unterbricht ihn Lori: »Sie idealisieren mich, sie idealisieren die Frauen gern. Sagen Sie mir nun, worin bestand mein Recht, von einem guten Manne fortzugehen? Wie kann dies Recht begründet werden?«

»Es gibt Rechte, die wir uns selbst schuldig sind, Madame.«

»Aber wir haben kein Recht, einem anderen Leid zuzufügen.«

»Sie sprechen gegen sich, und Sie sind hart im Urteil. Aber ich will mich der Antwort nicht entziehen: Leid einem anderen zufügen ist unrecht. Jedes Unrecht aber ist, wenn wir es genau betrachten, in irgendeiner Weise entschuldbar. Und wenn Sie unrecht hatten, indem Sie Ihren Mann verließen, so geschah es vielleicht, um tieferes Unrecht zu vermeiden.«

Sie schweigt. Da fährt er fort: »Sie verließen Ihren Mann und ein ruhiges, geebnetes Leben und schlossen sich von der Welt ab. Sie wurden einsam und ohne Freunde. Sie stürzten sich nicht in einen Strudel des Leichtsinns und des Vergnügens, sondern Sie suchten in Angst und Verzweiflung nach einer Hilfe, die sehr weit jenseits aller Weltfreuden liegt. Sie kamen zu mir, Madame –« Er hält inne und schaut vor sich hin. Durch die Tannen fährt leise ein sanfter Wind, es ist warm und still ringsum. Das Wasser des Teiches liegt glatt wie ein Spiegel. »Mein Empfinden den Frauen gegenüber, die zu mir kommen, ist sehr fein. Ich habe mich selten getäuscht, und darum meine ich, ich täusche mich auch in Ihnen nicht, wenn ich annehme, Sie kamen um des Glaubens willen, den zu verkünden ich das Glück habe. Ihr Inneres, das voll ist von Sehnsucht nach Schönheit und Ästhetik, suchte danach, im Geist in Sicherheit und Ästhetik untertauchen zu können. Wir modernen Menschen, Madame, sind in unserer ganzen Weltanschauung, insbesondere in der Stellungnahme zu dem Wesen Gottes, in schwieriger Lage. Das Wissen hat allerlei Skeptik gebracht, die niemand von sich weisen kann. Aber die Sehnsucht nach einem Gott, die in allen Zeiten rege und lebendig war, die ist auch in uns. Gott und Macht ist eines. Ich beuge mich vor Gott und der Macht, will mich beugen. Ich bete Gott und die Macht an.«

Wieder ein Schweigen.

Lori ist versucht, den Sprechenden anzuschauen, aber sie wendet nicht den Kopf. Sie weiß, daß er schön ist, wenn seine Augen fanatisch flammen und der schmale Mund ohne Lächeln so wundervolle Linien zeigt. Aber sie fühlt, sie darf nicht zu ihm blicken, etwas in ihrem Empfinden bannt die Augen auf den Boden.

Wieder spricht er: »Und Sie, Madame, das weiß ich, empfinden wie ich. Sie vermögen die Macht und die Schönheit meiner von mir vergötterten Kirche zu erfassen wie niemand sonst. Ihr Denken ist dem meinen aufs innigste verwandt. Wir sind beide reife Menschen, Madame, kennen das Leben und was lebenswert im Leben ist. Wir wissen beide, wie selten wir geistig Verwandte antreffen. Lassen Sie mich Ihnen danken für dies Zusammentreffen, und lassen Sie mich hoffen, daß ich das Glück Ihrer Nähe auch fernerhin genießen darf.«

»Auch fernerhin?« wiederholt sie langsam. Sie begreift nicht, was er sagen will. Er spricht feierlich, ernst, sie begreift nicht, wo er hinaus will.

Und er lächelt. »Haben Sie je daran gedacht, Madame, wie sich Ihre Zukunft gestalten wird?« fragt er.

Eine rote Welle läuft über ihr Antlitz, sie schrickt zusammen, ihre Hände fahren unruhig hin und her. »Nein,« stammelt sie, »niemals. Ich lebe wie im Traum ohne Zukunft. Ich habe weder Hoffnung noch –« Sie vollendet den Satz nicht.

Er schaut sie an. »Ich weiß, daß Sie keine Hoffnung hatten. Aber in Ihren Jahren, Madame, ist Hoffnungslosigkeit Krankheit. Ihr Unglück ließ Sie zusammenbrechen. Sie, die Schutz gebrauchten wie keine andere Frau, waren einsam. Sie waren ganz auf sich angewiesen. Madame, ich selbst, ich leide darunter, Sie schutzlos zu sehen. Und ich bin in der Lage, Ihnen vollen Schutz und eine Zukunft gewähren zu können. Sie schauen erstaunt auf! Ich bitte Sie, hören Sie mich weiter an. Ich bitte Sie auch, mir ein Vertrauen entgegenzubringen, das vollkommen ist. Ich werde jedem Vertrauen gerecht werden.«

Er hält inne. Seine Züge sind bleich und edel; schön ist er, schön und stolz. Und Lori fühlt, wie ihr Herz im Halse klopft; die Gedanken laufen durcheinander. Sie möchte verstehen und versteht nichts.

»Ich muß voraussetzen,« beginnt er wieder, »daß ich über große Mittel und noch größeren Einfluß verfüge. Und meine Stellung in Rom, Madame, ist unantastbar. Ich herrsche. Ich habe das Herrschen durch strenge Jugend gelernt und weiß es nun zu gebrauchen. Mein Stolz ist groß. Und meine Hand mit Hilfe der allein seligmachenden Kirche kann Ihnen eine Zukunft in Aussicht stellen. Wir, Sie und ich, Madame, können zusammenbleiben. Wir können zusammen herrschen. Ich werde kommen und alle meine Angelegenheiten mit Ihnen bereden, ich werde das Urteil einer Frau, die klug ist, hören, und das Urteil wird mir wichtig sein. Freunde werden wir bleiben im besten und tiefsten Sinne des Wortes. Madame, was ich Ihnen anbiete, ist reiflich durchdacht. Es ist durch Jahre durchdacht, denn ich sehnte mich längst nach einer Frau, die so alle Voraussetzungen erfüllt wie Sie. So wahr mir Gott helfe, es ist kein kleinlicher oder niederziehender Antrag, den ich zu machen habe.«

Er schweigt und schaut auf Lori, die blaß und zurückgelehnt neben ihm sitzt. Er sieht, wie sie die Hand hebt, an die Stirn preßt; wie sie die Augen schließt. Eine jähe Zärtlichkeit zu der schönen, bleichen Frau steigt in ihm auf; aber er hält sich zurück. Er ist klug, er kann warten.

Und Lori schwindelt es.

Ganz kurz, blitzartig steigen die Gedanken auf und schwinden. Es ist ihr, als träumte sie. Ihre Ohren klingen, sie möchte klar sehen, klar denken, und kann es doch nicht.

Lebensmöglichkeiten. Das Leben ist so bunt, auch außergewöhnliche Schicksale haben Berechtigung und sind voll Schönheit. Berühmte Männer hatten berühmte Freundinnen. Man bewunderte sie und rührte nicht an ihrem Ruf. Sie waren sie selbst, Persönlichkeiten. Starke Persönlichkeiten haben große Rechte.

Was meint er denn? Von Liebe spricht er nicht, und die Zärtlichkeit in seinen Augen schwindet, wenn sie kaum sich zeigte. Er spricht gottlob nicht von Liebe; aber von Macht!

Wie kraus ist die Welt! In der wild zugewachsenen, unmöglichen Wand, die sich vor ihre Zukunft schob, zeigt sich plötzlich eine Bresche. Oder ist das Trug?

Unbestimmte Angst, Angst wie in Träumen erfaßt sie plötzlich. Sie muß kämpfen, daß die Angst nicht überhand nimmt. Zitternd fahren ihre Finger über ihre Stirn.

Er sieht es, er lächelt. »Madame, Sie erschrecken? Fragen Sie Madame du Foure, ob Grund zum Erschrecken ist.«

»Es ist alles neu und merkwürdig. Ich kann noch keinen Boden finden,« sagt Lori endlich langsam und zaudernd.

Und er: »Ich bin durchaus nicht erstaunt darüber, überlegen Sie ruhig; Zeit zum Überlegen ist im Überfluß vorhanden.«

»Und wenn ich Ihnen sage,« nimmt Lori wieder das Wort, »daß ich dem Leben nicht im mindesten gefaßt und stark entgegensehen kann.«

»So sage ich Ihnen, daß Sie es lernen werden. Wenn ich nicht von Ihrer Kraft und Klugheit überzeugt wäre, hätte ich niemals so zu Ihnen gesprochen. Sie sind die Frau, nach der ich suche, Madame. Jetzt, wo ich Sie endlich fand, lasse ich Sie nicht mehr los.«

Lori schaut ihn an. »Sagen Sie mir klar und offen, ob ich mich an Ihrer Seite einem Leben aussetze, das ich nicht mit dem vereinigen kann, das ich bisher führte.«

Seine stolze Gestalt reckt sich. »Sie haben das Recht, so zu fragen, Madame. Ich antworte: Es wird es niemand wagen, auch nur den Schatten einer Verdächtigung auszusprechen. Niemand wird wissen, wie unsere Beziehungen zueinander sind. Sie leben in Rom, und ich lebe in Rom. Sie haben Ihr Haus und ich das meine. Wir prüfen die Menschen und teilen uns mit, was wir denken. Wir prüfen alle. Madame, wir sind keine Kinder, wir sind reife Menschen, die Vorsicht üben und ein gutes Gefühl für den großen Stil des Lebens besitzen. Sie kennen meine Macht noch nicht, Madame; kommen Sie nach Rom und lernen Sie sie kennen.«

Lori wird rot und blaß. Sie erkennt plötzlich, daß sich hier eine Hand bietet, daß hier ein Ausweg ist. Wie Jubel kommt es über sie. Lebensmöglichkeit, Rettung, Rettung – das wilde, heiße Gefühl nach Leben, nach Glück reißt sie mit sich fort. Ihre Augen bekommen Glanz, und ein Lächeln zieht sich um den Mund. Lebensmöglichkeit.

Die Tannen rauschen leise, und das Wasser blinkt. Leuchtende Sonne liegt auf den fernen Feldern. Sie sind grün, üppig grün.

Aber da – in einem Stuhl am Fenster sitzt eine regungslose Gestalt. Sie ist steif und kalt. Sie ist steif und blaß. Sie wird nie wieder aufstehen. Sie wird nie wieder sagen: »Lori, du wirst doch nicht durch die heiße Sonne gehen.« Steif und kalt sitzt die Gestalt im Stuhl.

Und sie wächst, wächst; riesig, drohend wächst sie. Jemand tritt herzu. Eine kleine, blasse Kindergestalt erscheint im Nebel und hebt ein paar magere Ärmchen. Herr, du mein Gott!

Lori atmet tief und schwer. Sie möchte schreien, möchte vor Verzweiflung wild und heftig um sich schlagen. Aber sie preßt nur die Zähne aufeinander. Sie kämpft das Blut zurück, das heiß strömend ihre Augen verdunkeln will. Der Mann neben ihr, der Lebensmöglichkeiten in seiner Hand hält, darf niemals wissen, was sie tat. Sie wird ihm niemals beichten dürfen. Sie wird wieder alles in sich zurückdrängen müssen, herunterkämpfen, hineinwühlen.

Lebensmöglichkeiten, wo sind sie?

Ganz plötzlich ist Lori aufgestanden, sie ist blaß, und sie friert. Sie sieht, daß die Sonne sich verdunkelt hat; der Teich blinkt nicht mehr, die Felder haben keinen Schimmer.

»Ja, es wird kalt,« sagt Spinola neben ihr.

Langsam gehen sie zurück. Als sie am Gartenhaus vorbeikommen, das sanfte, herbe Linien in den Himmel schiebt, bleibt er stehen. Er fragt leise, die Stimme dämpfend, fast zärtlich: »Und darf ich eine Hoffnung hegen?«

Da richtet sich Lori auf. Ihre Energie erwacht, wirft alle grauenhaften Gedanken zurück. Sie lächelt und neigt den Kopf zum »ja«.

Tief aufatmend reicht er ihr die Hand.

Das Ende dieses Tages:

Sie brechen spät auf, denn es ist ein Genuß, bei Madame du Foure am Kamin zu sitzen. Sie sprechen nur gleichgültige Sachen, aber immer ist das Einverständnis zwischen ihnen. Die wunderschöne Harmonie läßt alles sanft zusammenklingen.

Draußen treibt der Wind den Regen gegen das Fenster. Die Flammen flackern gelb und rot und blau im Kamin und werfen hellen Widerschein auf die satten Farben des Teppichs. Madame du Foure erzählt mit leiser, lieber Stimme von früherer Zeit, und Spinola hat frohe Augen. Und Lori sitzt träumend im Stuhl und denkt: ist es möglich? Ist es möglich, daß es noch eine Zukunft gibt? Wie ist es möglich?

Als sie aufbrechen, sieht Lori nach der Uhr. Sie errötet. »So spät schon! O, es ist wirklich Zeit, daß wir fahren.«

»In einer Stunde sind Sie im Hotel,« tröstet Madame du Foure. »Dann ist es kaum elf Uhr. Das ist doch nicht spät. Und wann kommen Sie wieder, wann?«

Lori lächelt. »Ich komme so sehr gern, ich bin so dankbar.«

»Sie liebes Kind, Sie liebes Kind. Ich schicke übermorgen das Auto wieder, ja?«

»Übermorgen schon? O, wundervoll!«

Die alte Dame küßt Lori. Sie sieht sie lange an und nickt fröhlich: »Übermorgen, Kind, liebes Kind!« Wie eine Mutter ist sie. »Sie kommen dann einmal allein, nicht wahr? Damit ich Sie ganz für mich habe. Ja, alte Leute sind Egoisten.«

Lori küßt ihr die Hand und steigt in den geschlossenen warmen Wagen. Spinola folgt ihr.

»Auf Wiedersehen!«

Noch einmal schaut Lori nach der kleinen Gestalt der alten Dame, die im hohen Portal steht. Unruhig flackert der Schein der Laternen über sie hin, duckt sich und huscht, als wollte er ihr Bild verwischen. Und als der schwere Wagen sich in Bewegung setzt, packt sie plötzlich etwas wie eine unbestimmte, quälende Angst. Dies Haus, so fühlt sie, gewährte Schutz, das war wie eine Heimat. Aber sie mußte wieder fort und hinaus in die Einsamkeit ihres Hotelzimmers, dessen Pracht doch niemals vergessen ließ, daß es keine Heimat war.

»Sie müssen nicht wieder so traurig blicken,« sagt Spinola. »Alles Traurige liegt hinter Ihnen, ganz fern.«

Die Stimme klingt tröstend; sie ist wieder voll von der milden Güte, aber es gelingt ihr nicht, Lori in ihrem Bann zu halten. Irgend etwas Unerklärliches drückt sie nieder, treibt sie vorwärts, so daß sie zitternd hinaus in die Regennacht schaut, um die Geschwindigkeit des Wagens zu prüfen. Ihr ist zumute, als müßte sie jetzt in Paris sein, als wäre sie dort notwendig, als warte jemand ihrer.

»Was für ein Regen,« sagte sie leise.

Er tröstet wieder. »Der Regen tut uns nichts. Sie sind angegriffen, Madame, lehnen Sie sich zurück. Machen Sie die Augen zu; versuchen Sie zu schlafen. Wirklich, Sie sehen sehr elend aus.«

Aber sie lehnt sich nicht an. Sie schaut immer noch aufmerksam, angestrengt aus dem Fenster. »Wie lange werden wir zu dieser Fahrt brauchen?« fragt sie.

»Kaum eine Stunde.«

»Kaum eine Stunde,« wiederholt sie. Ihre Lippen beben, ihre Hände greifen fortgesetzt nervös ineinander.

Da spricht die gütige Stimme wieder. Es ist wie ein Träumen, ihr zu lauschen. Lori möchte den Kopf gegen ihn lehnen, vertrauend, wie man als Kind den Kopf an der Mutter verbarg. Ganz still an ihn geschmiegt möchte sie sitzen und lauschen, wie er spricht. Es ist verzweifelt, verzweifelt, niemanden zu haben, zu dem wir kommen können, wie ein Kind zur Mutter. Aber er will doch gerade ihre Freundschaft, will Freund sein, Helfer, Retter, Berater. –

Sie wiederholt sich seine Worte. »Sie leben in Rom und ich auch. Sie haben Ihr Haus und ich das meine« – und dann – »Sie sind die Frau, nach der ich suche, ich lasse Sie nicht mehr los.« Ja, das ist Rettung.

Und warum hat sie keine Freudigkeit? Warum nichts als das dunkle Gefühl der Angst: es wartet jemand, wartet fieberhaft, mit verlangenden Augen, mit Zorn –

»Wir werden langsamer fahren müssen,« sagt Spinola. »Diese Strecke ist bei Regen sehr uneben, und ein Reifendefekt würde bei diesem Wetter sehr –«

Das letzte Wort übertönt ein Knall, laut, scharf, wie ein Schuß. Lori schreit unwillkürlich auf vor Schreck. Aber er greift beruhigend nach ihren Händen und lächelt. »Sagte ich es nicht! Nun, auch das muß ausgehalten werden. Madame du Foures Chauffeur ist ein außerordentlich geschickter Monteur, er macht das ganz rasch. Das rechte Hinterrad, aha! Bleiben Sie, Madame, bleiben Sie ruhig sitzen. In diesem Wetter lasse ich Sie keinesfalls auf die Landstraße hinaus.«

Aber Lori achtet nicht auf ihn; sie ist schon hinter ihm her aus der Wagentür gestiegen.

Unablässig rauscht der Regen herab, es weht stark; die kahlen Pappeln schlagen wild und wie verzweifelt ihre Äste zusammen. Ganz leer ist die Landstraße, so weit das Auge reicht, ganz leer, nur undeutlich und verschwommen blinkt weit in der Ferne ein rotes Licht. Und die funkelnden Laternen des Autos, das jetzt im Stehen riesengroß wie ein unheimliches Tier erscheint, werfen grellen Schein auf den schmutzigen Boden der Straße.

Spinola hat mit dem Chauffeur den Schaden besehen; jetzt erst, als er sich wendet, erblickt er Lori. Sein Gesicht wird streng. Zum ersten Male sieht sie, daß diese Augen auch hart wie Stahl zu blicken vermögen. Um den Mund ist ein Zug eisernen Willens.

»Sie dürfen hier im Regen nicht stehen, Madame,« sagt er.

Sie erwidert: »Ich bitte Sie, lassen Sie mich. Ich flehe Sie an, lassen Sie mich hier bleiben. Die Nässe schadet mir nichts, aber ein untätiges Sitzen dort drin –«

Er unterbricht sie: »Das Leben verlangt auch einmal ein untätiges Sitzen. Ich lasse nicht zu, daß Sie hier stehen.«

»Und wenn ich bitte –?«

»Auch dann nicht.«

Sie schauen sich an. Ihre Blicke messen sich, aber seine harten Augen haben andere Kraft als die ihren. Langsam senkt sie den Kopf.

»Bitte, steigen Sie ein, Madame.« Sie gehorcht.

Und dann sitzt sie in dem kleinen Raum mit zusammengebissenen Zähnen, zusammengepreßten Händen. Wie ein Alp lastet der Gedanke auf ihr: es wartet jemand. Jemand schaut mit Ungeduld aus. Wer, wer? Draußen huschen die Lichter, der Regen trommelt eintönig auf das niedere Dach über ihr. Manchmal kommt Spinola ans Fenster; er ist ganz naß, ganz bespritzt, aber er lacht. »Gleich sind wir fertig,« ruft er hinein; oder: »eine böse Arbeit bei dem Wetter und der Dunkelheit, gut, daß Sie in Sicherheit sind.«

Dann horcht Lori auf. Sie denkt daran, wie er sie bezwang mit seinem Willen. Etwas wie Furcht oder wie ungeheure Bewunderung ergreift sie. Das ist der rechte Mann, denkt sie. Ihr Herz klopft rascher. Sie will noch mehr an ihn denken. Aber wie im Fieber kehren alle Gedanken zu dem einen Punkt zurück: »Da ist jemand, der wartet – wartet – wartet –.«

Eine endlose Zeit kriecht hin. Aber dann sagt draußen eine Stimme »fertig«. Jemand lacht. Die Tür öffnet sich. Spinolas schlanke, hohe Gestalt steigt ein.

»So,« sagt er, »und nun dauert es keine halbe Stunde mehr, bis wir vor dem Elysée Palace halten.«

Lori schaut an ihm vorbei, er lächelt. »War ich zu hart vorhin?«

»Zu hart?« wiederholt sie und schüttelt den Kopf.

Er fährt fort, frisch, fröhlich. »Es klingt oft härter, als man es meint. Nicht wahr, Sie verstehen das? Leider, leider neige ich manchmal zu Härten. Wenn jemand so sehr unvernünftig seinen Willen gegen den meinen stemmt, das vertrage ich nicht. Und ich habe doch ein Recht, Sie zu beschützen. Wir gehören doch zusammen.«

Jetzt sieht sie ihn an. »Wir gehören zusammen,« denkt sie. Plötzlich wird ihr Herz leicht, der Bann schwindet. – Wir gehören zusammen – Hoffnung, Rettung. Sie reicht ihm die Hand und lächelt.


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