Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVI.

 

Bellagio, Villa Serbelloni, 7. Mai.

Früher war's ein auseinandergezerrtes Erlebenwollen.

Dann wurde es ein zusammengepreßtes Schicksal.

Jetzt bleibt nichts mehr übrig als ein langsames Absterben.

Es kommt mir vor, als sähe ich meinem eigenen Sterben zu. Und ich habe weder die Lust noch die Kraft, es aufzuhalten. Ich selber interessiere mich nicht mehr für mich. Und eine Frau, die das von sich sagt, hat kaum mehr die Berechtigung zu einer Existenz.

Manchmal raffe ich mich noch auf. Es geschieht, daß Manschen hierher kommen, die mir sympathisch scheinen. Dann denke ich an ein Aufleben, an ein Verkehren mit ihnen, vielleicht an etwas wie Freude an ihnen.

Wir sprechen ein paar Worte. Aber dann ist kein Band mehr zwischen uns. Dann fühle ich, wie äußerlich und hohl dies Sprechen ist. Dann kommt ein Ekel vor den Menschen über mich. Oder es kommt eine verzweifelte Angst, ein Mißtrauen, was sie von mir wissen, was sie von mir reden. Es kommt die verzweifelte Unsicherheit über mich, die mich alles verderben läßt. Ich lausche dann. Ich beobachte. Ich ziehe mich zurück. Kümmert man sich um mich, so bin ich verschlossen. Geht man kühl an mir vorbei, so bin ich verletzt.

Ich fühle mich zurückgesetzt, ich fühle mich ausgestoßen. Und dann steigert sich dies Empfinden, das doch nur nervös ist, bis zum Wahnsinn. Es steigert sich so sehr, daß ich mich nicht mehr aus dem Zimmer wage, daß ich kaum mehr die Energie habe, vom Bett aufzustehen und in ein loses Kleid zu schlüpfen.

Und doch sehe ich ein, daß ich notwendig meine Energie zusammenraffen muß. Ich muß gegen mich selbst ankämpfen. Das erfordert Energie, und ein geschwächter Körper hat leider die Kraft verloren, stark und rücksichtslos zu sein.

Heute zum ersten Male schreibe ich dies Buch wieder. Es soll ein Anfang sein zum neuen Leben. Da ich damals nicht den Mut hatte, ein Ende zu machen, muß ich die Konsequenzen tragen. Ich muß mir endlich einmal sagen, daß ich absolut keine Berechtigung zu einem Leben habe, wie es das der letzten Wochen war. Langsam an eigener Selbstquälerei zugrunde zu gehen, ist kleinlich. Einmal war ich sehr stolz. Ich war so übermütig, daß ich glaubte, ein Recht zu jeder Tat zu haben. Jetzt sehe ich ein, daß ich nicht groß und stark genug war zu diesem Recht. Ich brach zusammen, und das war der zweite Fehler. Der dritte, größte, ist der, daß mein Ziel ein erbärmliches war. Hätte ich um Spinolas Besitz gekämpft, so wäre ich trotz allem im Recht gewesen.

Langsam, langsam lerne ich die Moral schätzen und bewundern. Moral ist ein Damm für die Schwachen. Moral ist ein Lebensstil für die Starken. Moral ist nicht der öde Begriff, gegen den kleinliche Naturen trotzig ankämpfen; es ist die aus sich selbst entstandene Macht, die jeden nach Gebühr umgrenzt. Ich sehe dies zu spät ein, und um dieses Zuspäteinsehens willen empfinde ich die bitterste Reue. Ich weiß jetzt, daß ich keine große Tat, sondern einfach nur eine Nichtswürdigkeit beging.

 

Bellagio, 12. Mai.

Langsam werde ich mir klar über die Stellung, die ich den Menschen gegenüber einnehme. Diese Klarheit ist bitter. Neue Bitterkeit kommt und immer wieder neue Bitterkeit.

Gewiß bin ich kein Mensch, dem die menschliche Gesellschaft Notwendigkeit ist. Ich bin von Natur durchaus nicht menschenfreundlich, aber die grauenvolle Einsamkeit läßt ein intensives Verlangen nach Anschluß aufkommen. Das Verlangen ist so stark, daß ich meine Scheu überwinde und das Bedürfnis habe, mit Menschen, die in meiner Empfindung tief unter mir stehen, Verkehr zu suchen.

Aber das Bewußtsein, daß ich ganz allein und ohne jeden Halt bin, raubt mir jede Sicherheit. Ich bin ein Mensch mit schlechtem Gewissen; niemand kann begreifen, was das bedeutet, wenn er es nicht kennt!

Mit Neid beobachte ich die Gruppen, die zusammengehören. Wenn sie nichts anderes in der Welt haben, so haben sie doch sich. Aber ich bin einsam, ich habe niemanden. Niemand steht mir nahe, niemand hält zu mir. Ich habe keinen Freund. Ich habe nur mich selbst, und ich selbst bin keine starke Frau mehr. Meine Nerven sind gebrochen, das Mißtrauen ist wach. Ich fühle mich durch die geringste Kleinigkeit verletzt. Und dann empfinde ich, wie ein ödes, unnatürliches Lächeln auf meinen Lippen erscheint, das Lächeln der Unsicheren, das abstößt.

Ehemals, als mein Leben noch auf der Höhe stand, sah ich wohl auch solche Menschen mit dem fatalen Lächeln. Sie waren mir peinlich, ich wandte mich von ihnen ab. Sie waren mir wie eklige, klebrige Tiere. Jetzt gehöre ich selbst zu ihnen.

Ich weiß genau, daß es immer eine Torheit ist, sein Glück oder seine Befriedigung im Verkehr mit Menschen zu suchen. Man findet unter Tausenden kaum einen einzigen, der uns versteht und den wir verstehen. Der Ehrgeiz im Verkehr ist vollends eine Torheit, denn wir werden nie Befriedigung finden. Es wird immer Menschen geben, die sich vornehmer dünken als wir, die uns über die Achseln ansehen und uns das mit der feinen Nuance, die Takt noch erlaubt, empfinden lassen. Diese Art von Ehrgeiz kenne ich. Es gab eine kurze Zeit, in der ich den unadligen Namen um dieses Ehrgeizes willen haßte, aber ich hatte doch Geschmack genug, mich völlig von einer solchen Empfindung zu befreien. Und diese Empfindung hat auch nichts gemein mit der, die jetzt meine Folter wird. Folter, sage ich, Folter; es gibt kein anderes Wort dafür. Denn nichts erhöht das Gefühl des Ausgestoßenseins mehr als die Nichtachtung, die uns auf Tritt und Schritt entgegenspringt.

Ich hatte eine oberflächliche Bekanntschaft mit drei Berliner Damen gemacht. Sie waren aus Beamtenkreisen, häßliche, ungraziöse Geschöpfe, in einem Alter, in dem man entsagen muß. Sie hatten schlecht gepflegtes Haar und gemeine Hände. Aber ich sah darüber hinweg, denn sie kamen mir mit offener Liebenswürdigkeit entgegen.

Heute früh fühlte ich eine Entfremdung. Ich zog mich gleich zurück, denn ich fürchte, o, ich fürchte jedes Zurückziehen von ihrer Seite. Am Nachmittag saß ich, ganz im Gebüsch verborgen, hier in diesem wundervollen Park. Ich saß oben dicht am Gestein, der Springbrunnen plätscherte, und der Frühling duftete, und mir kam ein klein wenig, nur der Schatten einer Freude, ins Herz.

Da sah ich die drei Damen auf mein Versteck zukommen. Ich duckte mich unwillkürlich, ich wollte nicht gesehen werden, weil ich ihre abweisenden Mienen fürchtete. Sie sahen mich nicht und setzten sich ganz dicht bei mir auf eine Bank. Ihre Unterhaltung gebe ich, so gut ich es vermag, wieder.

Die Erste: »Sie benimmt sich anständiger, als man erwarten kann nach all dem, was Frau Warenhoff schreibt. Wir hätten vorsichtiger sein sollen; jetzt ist es schwer für uns, zurückhaltend zu sein.«

Die Zweite: »Ich hatte es immer gesagt, sie sah mir vom ersten Moment an nicht vertrauenerweckend aus.«

Die Dritte: »Aber hübsch ist sie.«

Die Zweite: »Wenn ich mich so anziehe, meine Liebe, bin ich auch hübsch. Sie soll wahre Vermögen für ihre Toilette verschwenden.«

Die Erste: »Frau Warenhoff schreibt, daß ihr Gatte –«

Die Dritte: »Pst, nicht so laut.«

Die Erste: »Mag sie es doch hören, dann sind wir sie vielleicht los. Also daß ihr Gatte sich vollkommen von ihr losgesagt haben soll. Sie hätte ihr Kind mißhandelt. Und dann wäre da eine dunkle Geschichte –«

Die Zweite: »Erzählen Sie doch!«

Die Erste: »Eine sehr dunkle Geschichte mit einem Maler, der sich erschoß.«

Die Dritte: »Aber kann sie denn dafür?«

Die Zweite: »Kind, wie unschuldig Sie sind. Aber ich weiß noch ganz andere Sachen. Sie soll …«

Flüstern, ich verstehe nichts mehr, ich zittere.

Die Dritte: »Mit ihrem Chauffeur –?«

Die Zweite: »Seien Sie doch still!«

Die drei entfernen sich. Ich blieb allein. Ich zitterte noch stundenlang, nicht um der dummen Verleumdung willen. Aber was hätte ich getan, wenn sie sich etwas anderes erzählt hätten, was nicht pure Verleumdung war? –

Manchmal lebe ich wie im Feuer vor der Furcht der Entdeckung.

 

Bellagio, 15. Mai.

Nach dieser Erfahrung habe ich keinen Mut mehr, den Menschen entgegenzukommen. Ich habe keinen Mut mehr. Nein, ich habe Furcht. Mich peinigt die Furcht, sie treibt mich ruhelos umher, sie läßt mich zittern.

Ich denke manchmal, daß es eine Wohltat für mich wäre, wenn mein Verbrechen ans Licht käme. Es ist so viel Ungeheuerliches in mir, daß ich meine, es kann nicht schlimmer werden. Aber dann kommt mir wie von ungefähr in den Zeitungen ein Artikel über ein Zuchthaus in die Hände. Ich lese ihn, und ich wende mich mit vollem Grauen ab. Ich denke minutenlang nichts weiter als: dort gehörst du hin.

Mir graut so namenlos vor mir selbst. Je länger ich dies Leben lebe, je mehr ich Distanz zu meiner Tat gewinne, um so grauenvoller wird mir zumute. Langsam und stetig steigt in mir der Gedanke an den Tod auf. Denn wenn ich mir überlege, daß ich zweiunddreißig Jahre alt bin, daß ich also wohl erst die Hälfte dieses Lebens gelebt habe, so treffe ich auf einen leeren Punkt. Auszudenken ist das nicht.

Ja, hätte ich Spinola als Freund!

Wenn ich von Tragik sprechen darf, wenn ich darf! so liegt hier die ungeheuerste Tragik. Denn das Versprechen, das ich der Sterbenden gab, darf ich nicht brechen. Ich darf es nicht, weil ich in mir keine Kraft dazu fühle. So viel habe ich durch dieses erbärmliche Leben nun doch schon gelernt: daß mir nur die Moral zur Seite steht, die die engsten Grenzen zieht. Eine andere Moral dürfen vielleicht andere ausüben, ich nicht. Denn, gesetzt den Fall, daß ich mein Versprechen bräche, so bliebe ich doch immer nur die Frau mit dem fatalen, unsicheren Lächeln, die Spinola nicht brauchen kann. Er gerade braucht eine starke und wundervolle Frau, die das Leben zwingt. Also bin ich seiner nicht wert, wie ich der Moral der Starken nicht wert bin. Ich muß verzichten, weil ich einmal über mich hinaus wollte und zu schwach gefunden ward.

Es gibt zweierlei Moral, die gleichberechtigt ist, und es bleibt mir nur übrig, den Anstand zu besitzen, mich ganz von der Moral der Großen zurückzuziehen.

Moral, das ist Maßstab. Selbstüberschätzung ist ein so großer Verstoß gegen die Moral, daß sie sich grauenvoll rächt.

Ich, Lori Granier, bekenne mich schuldig.

 

Bellagio, 17. Mai.

Welche Marter ist das Ausgestoßensein!

Aber auch Briefe sind eine Marter.

Und kommen sie nicht, so ist es doppelte Marter.

Wer schreibt mir noch – Hans Beer von Zeit zu Zeit, die Nurse in regelmäßigen Zwischenräumen aus Pflicht.

Und sonst?

Aber ich warte manchmal fieberhaft auf irgendeine Nachricht von irgendeinem Menschen, nur um zu erfahren, daß es noch jemand gibt, der mich nicht ausstößt.

Und es kommt kein Brief.

Auch Togena schreibt nicht mehr.

Der Name Togena hat einen ganz fremden Klang bekommen. Ich kann mich seiner nicht einmal mehr genau erinnern. Und doch bildete ich mir ein, ihn zu lieben. Ich tat ein Verbrechen um seinetwillen. Da ist wieder so ein leerer Punkt. Unmöglich ist es für mich, klar zu denken. Denn wenn ich ihn mit Leidenschaft liebte, wie kann plötzlich die vollkommene Gleichgültigkeit kommen? Ich glaube an keine Liebe mehr. Ich glaube nicht mehr an den schönen Traum der Menschen. Ich glaube nur noch an die Sinnlichkeit. Aber dann glaube ich auch an das tiefe Gefühl des Vertrauens. An jene Empfindung, die die Sehnsucht nach Anschmiegen, nach Schutzsuchen erzeugt. Anschmiegen, großer Gott, hätte ich einen einzigen Menschen, an den ich mich schmiegen könnte.

Ich weiß jetzt, Togena war nichts anderes als die Inkarnation dessen, was ich suchte und nicht fand. Er war ein Surrogat, mit dem ich mich betrog. Spinola aber war der Mann, der Mensch, den mir die Natur von Anbeginn an bestimmt hatte.

Die freundliche Natur, der ich mit grober Hand entgegengriff.

Der Tod ist ein Ausweg. Ein Ausweg.

Und es ist doch so schwer, den Weg zu gehen.

 

Bellagio, 20. Mai.

Der Geist, der nach Beschäftigung sucht, ist des ewigen Lesens müde. Ich sitze jetzt oft stundenlang still und abseits von den Manschen und tue doch nichts anderes, als sie beobachten und über ihre Schicksale nachdenken.

Die Männer sind mir uninteressant; sie haben Züge, die von nichts Außergewöhnlichem sprechen. Sie sind überarbeitet, oder sie sind vom Vergnügen übersättigt. Beides gibt ihnen jene gewisse Stumpfheit, die sie uninteressant erscheinen läßt. Man muß die Männer, wenn man sie überhaupt beobachten will, bei ihrer Arbeit sehen. Da sind einzelne vielleicht einer Beachtung wert. Denn der arbeitende Mann, der Schaffende, steht mitten im Leben; wenn er ausruht dagegen, ist er müde und phlegmatisch.

Anders die Frau. Ich meine, die Frau ist überhaupt nur im Nichtstun interessant. Da kann sie zu sich kommen, kann über sich nachdenken und auf sich lauschen. Trotzdem ich überzeugt bin, daß es bei den Frauen mehr minderwertige Geschöpfe gibt als bei den Männern, glaube ich doch, daß die Frauen interessanter sind, weil sie eine feinere Empfindung haben. Frauen sind wie verschnittene Bäume; sie wachsen, wohin sie wachsen können. Es gibt viel Krüppel unter ihnen, aber auch ausgebildet stilvolle Arten. Wenn die Frau erst einmal dazu kommen wird, ihre Empfindung zu pflegen und ihr nachzugeben, jener echten weiblichen Empfindung, die von Intuition geleitet wird und die in dieser Intuition vollkommen werden kann, so werden wir bessere Frauen bekommen.

 

Bellagio, 23. Mai.

Gestern kam eine junge Frau hier an, die mit ängstlichen Bewegungen vom Wagen stieg. Ich sah, als sie sich umschaute, in den Augen eine Furcht, die ich so gut zu verstehen glaubte.

Vom ersten Moment an war sie mir sympathisch. Sie ist eine von denen – ich fühle das, die auch abseits stehen, die auch gehetzt durchs Leben gehen. Wieviel solche Frauen mag es geben? Man müßte sich zusammenschließen, fest aneinander hängen. Man müßte etwas wie ein Bündnis machen gegen die andere uns ausstoßende Welt.

Aber ein Bündnis der Ausgestoßenen hätte keinen Sinn. Ausgestoßene haben nicht den Mut, ein Bündnis zu schließen.

 

Bellagio, 29. Mai.

Ein kleines Erlebnis:

Ich stehe an der Glastür der Villa und schaue den Weg hinab, der aus dem Dunkel der grünen Bäume zu uns hinansteigt. Ich warte auf den Briefträger.

Ich denke, es könnte doch sein, daß jemand schreibt. Es könnte doch irgend jemand, irgendein mitleidiger Mensch an mich denken.

Irgend jemand nur.

Alle Tage warte ich auf die Post.

Neben mir, ein wenig zur Seite, steht die sympathische Dame. Sie schaut mit ihren grauen Augen genau so sehnsüchtig wie ich auf den Weg, der aus dem Grün aufsteigt.

Der Postbote kommt. Er bleibt an der Ecke stehen und spricht mit einem der Angestellten der Villa.

Wir warten, warten. Ich fühle, sie wartet ebenso zitternd, ebenso verzagt wie ich.

Der Postbote lacht. Er kommt näher. Er geht noch einmal zurück – er kommt endlich heran.

Das Pack Briefe liegt auf dem Tisch beim Portier.

Wir warten, warten.

Langsam nimmt der Portier das Pack, er sieht sie durch.

Wir stehen dabei. Wir sehen aus wie schuldbewußt. Wir zittern, warten.

»Nichts. Madame.«

»Nichts, Madame.«

Wir wenden uns langsam.

Ein Schatten fliegt über die Sonne. Das unerhört köstliche Grün der Bäume wird stumpf. Die schimmernde Fontäne ist grau, öde.

Ich sage leise: »Man sehnt sich nach Briefen, wenn man allein im Ausland ist.«

Sie hebt den Kopf. Sie schaut mich an und lächelt ein wenig. »Ja, man sehnt sich danach.«

Wir gehen den Gang entlang immer noch nebeneinander. Wir treten aus dem Hause in den Park. Die Sonne scheint wieder; das Grün ist wieder unerhört schön und leuchtend.

Ich sage, nur um etwas zu sagen, nur um die Berechtigung zu haben, noch ein Weilchen mit ihr zusammen zu sein: »Man sollte nicht so ganz allein reisen.«

»Aber wenn man niemanden in der Welt hat!« antwortete sie.

Wir schauen uns an, wir verstehen uns. Wir wissen, wir sind beide allein, wir haben beide keinen Menschen. Wir warteten beide ohne Hoffnung auf Briefe.

Wäre es nicht natürlich gewesen, wenn eine von uns gesagt hätte: »Dann wollen wir beide wenigstens zusammenhalten?« Aber keine sagte es. Ich hatte nicht den Mut dazu; ich hatte nicht den Mut, mich anzubieten. Und sie?

Wir gingen still auseinander.

 

Bellagio, 8. Juni.

Ein ungeheure Hitze, die alles Denken lähmt, schwemmte das Gros der Reisenden fort. Es ist still geworden hier oben auf dem Hügel zwischen den Armen des blauen Sees. Alles, was hier blieb an Menschen, gehörte zu jenen Stillen, die eigene Wege gehen. Da sind die drei Amerikanerinnen mit ihren blassen, müden Gesichtern. Da ist das alte Paar, das seinen Kummer schweigend umherträgt. Da sind ein paar unbedeutende überarbeitete Gesichter, die man kaum zu sehen bekommt, und da ist die kleine, schmale Frau, die immer noch mit derselben Inbrunst und immer noch vergeblich auf ihre Briefe harrt.

Und da bin ich. Ich falle in dieser Umgebung nicht mehr heraus. Ich brauche nicht mehr unter der ungeheuren Qual des Gefühls, ausgestoßen zu sein, zu leiden.

Meine Tage vergehen wie ein Nichts. Ich sitze am Morgen in der wundervollen, grüngoldenen Dämmerung des Gartens. Alles ist still um mich her, alles schweigt, als wäre ich ganz allein auf der Welt. Nur der dünne Strahl der Fontäne rauscht ein leises Rauschen, und durch das Blattwerk schlüpft ein Vogel und singt.

Grüngoldene Dämmerung ist im Park. Das Gras ist hoch, das Gras ist üppig. Es wuchert; da sind fingerbreite, harte Halme und feine, zarte Blümchen, die ihre weißen Köpfe dem Himmel zukehren. Über den alten, grauen Stein, auf den die Füße vergangener Geschlechter traten, huschen die Eidechsen, oder sie sitzen still und sonnen sich, oder sie lauern auf Beute und haschen im Sprunge nach dem Insekt. Man wird so bescheiden. Man freut sich über ein Tier, einen Vogelruf, einen schönen Blick auf den klaren, stillen See, in dem die weißen Segel ziehen. Man freut sich über ein wenig Gesang in der Ferne. Man freut sich über die stillen, einsamen Abende im Boot. Die Nacht sinkt, und Kühle kommt von den Bergen. Am Ufer flammen die Lichter langsam nacheinander auf. Die große, ferne Welt geht zur Ruhe, und ich in meinem Weltwinkel empfinde die Ruhe. Dann sitze ich auch wohl an den Steinen des wundervollen Bades unten am See, das freudefrohe Fürsten sich lüstern bauen ließen. Und ich versuche in Träume zu versinken, die mein Herz mit leichten Gedanken füllten.

Das ist Resignation. Ich will resignieren, und nur die Angst vor der Unmöglichkeit, ein ganzes Leben voller Resignation zu tragen, stört die Resignation.

 

Bellagio, 19. Juni.

Frau von Kowalewska kam zu der Treppe am See und setzte sich auf die breiten Stufen. Ihre feine, schlanke Gestalt hob sich dunkel mit schönen Umrissen gegen das helle Weiß des Gesteins ab. Sie hatte ihr Antlitz gewandt, aber ich sah an der herben Linie der Wangen, daß um den Mund ein Zug des Schmerzes lag.

Wir sind vier Wochen miteinander im selben Haus. Wir schauen uns an und grüßen uns, aber die Worte, die wir sprechen, kommen niemals über die flachste Alltäglichkeit hinaus. Daß wir beide schlechte Nächte haben, wissen wir voneinander. Wir sehen oft den Schimmer unseres Lichtes noch leuchten, wenn alles um uns schon schläft. Wir haben beide die müden, schweren Augenlider derer, die keinen Schlaf mehr finden. Wir sitzen des Abends bis spät, spät unten am See und hören das leise Schlagen der Wellen und können uns nicht entschließen, hinaufzugehen zum Schlaf. Aber wir sind immer allein, niemals zusammen. Wir gehen aneinander vorüber, zögern und bleiben dennoch nicht stehen.

Ich saß nicht weit von der Treppe auf einem Stuhl, den ich mir zum See getragen hatte, und meine Augen freuten sich an der klassisch schönen Gestalt der jungen Frau.

Plötzlich sah ich, wie sie ihren Kopf neigte und in den Händen vergrub, und ich sah, daß ihr Körper vom bitterlichsten Weinen geschüttelt wurde. Ich wäre gern auf sie zugegangen, aber der Mut fehlte mir. Darauf stand ich geräuschlos auf und schlich mich fort. Und doch hätte ihr ein Trost vielleicht wohlgetan. Aber wir Menschen haben ja doch jede Naivität verloren, wir schwanken zwischen allerlei Empfindungen hin und her. Die, die Schiffbruch litten im Leben, fürchten, aufdringlich zu erscheinen; die Stolzen, in ihrer Unfehlbarkeit sich Blähenden, wollen nichts mit den Traurigen zu tun haben. Wo sind die treuen, in sich sicheren Herzen geblieben, die auch Fremden Trost zu spenden vermögen?

An meinem Leben zogen unzählige Menschen vorbei; ich kann mich ihrer nicht mehr genau entsinnen, aber ich weiß, daß ich in der Zeit meiner höchsten Kraft selbst immer die Empfindung hatte: ist dies ein Freund, würde der zu dir halten in bösen Tagen? Und von allen mußte ich mir die Frage verneinen. Spinola und Madame du Foure waren vielleicht Ausnahmen. Aber was war der Grund ihrer Freundlichkeit zu mir? Hatten sie nicht doch einen, mir allerdings verborgenen Grund? Und ich nehme mich selbst an: wie hätte ich in der Zeit meines Glücks gehandelt? Wenn jemand ausgestoßen und mit Schuld beladen zu mir gekommen wäre, hätte ich ihm meine Hände entgegengestreckt? Ich glaube kaum. Ich hätte keine Zeit gehabt und keine Lust, und hätte mich auch vor den Meinungen der anderen gefürchtet.

Tatsache häuft sich auf Tatsache; es sind alles Nichtigkeiten, aber sie wiegen schwer. Und die Möglichkeit meines Lebens wird kleiner und kleiner.

O, wie verzweifelt ist die Einsicht.


 << zurück weiter >>