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V.

Donnerstag Abend. Frau Lori Granier hatte bestimmt, daß Togena schon um halb sieben Uhr kommen sollte. Die übrigen Gäste waren erst für sieben Uhr geladen.

Aber die kleine Sèvresuhr auf dem Kaminsims schlug längst halb sieben, und Togena kam nicht. Natürlich ließ er sie warten. Es würde ihm gar nichts ausmachen, sie eine Stunde warten zu lassen.

Schon drei Viertel sieben – und immer noch war er nicht da. Sie würde wiederum auch nicht eine Minute mit ihm allein plaudern können. Wie ein Aal glitt er durch die Finger.

War das Absicht?

Und weshalb diese Absicht?

Der Zeiger der kleinen Rokokouhr rückte unbekümmert weiter. Lori schmeckte Tränen. Sie hatte ihr Taschentuch zwischen den Händen hin und her gezerrt, daß es fast zerriß.

Aber jetzt!

Fünf Minuten vor sieben kam er.

Togena schob sich durch die Tür in linkischer Art, die jene Menschen kennzeichnet, die sich nicht mit der Welt in volle Harmonie zu bringen verstehen. Er war blaß, schmal, kaum mittelgroß. Die japanischen Augen, die dem Gesicht nicht nur Eigenart verliehen, sondern auch etwas, was abstieß oder gefangennahm, blickten hochmütig. Alles in allem war er ein Mann, den Männer häßlich, Frauen aber reizvoll finden.

Er sah bleich und abgehetzt aus. Um den Mund lag ein müder Zug, der ihr das Blut zum Herzen trieb. Um dieses Zuges willen hätte sie ihn küssen mögen.

Sie fragte besorgt: »Wieder so viel gearbeitet?«

Er ließ sich ermattet in einen Stuhl fallen. Dann entschuldigte er sich für die Verspätung.

»Ja, viel, viel zu tun, und so viel Ärger.«

»Was für Ärger?« fragte sie. Dabei mußte sie unwillkürlich daran denken, daß sie sich jedes Gespräch ihres Gatten über Ärger verbeten hatte. Sie wollte von seinen geschäftlichen Unannehmlichkeiten nichts hören. Dieser Mann dagegen – sie würde glücklich sein, wenn er ihr den Grund seines Ärgers nennen wollte.

Aber er wehrte nur ab. »Von früh an bin ich unterwegs,« erzählte er. »Hierhin mußte ich, dorthin. Und die Prüfungen!«

Lori sagte: »Außerdem haben Sie sicherlich wieder zuviel geübt. Sie sehen total überanstrengt aus.«

»Berlin,« seufzte er, »ach, dieses lästige Berlin.«

»So gehen Sie doch fort, erholen Sie sich.«

Er erregte sich. »Fortgehen, ja, fortgehen! Wie kann ich das!? Sie haben gut reden, können tun und lassen, was Sie wollen.«

»Sie etwa nicht?« fragte sie.

Er sagte trotzig: »Nein, ich nicht. Ich bin hier Lehrer. Ich habe Pflichten, und außerdem –«

Das Außerdem interessierte sie. Aber da tat sich die Tür wieder auf, die junge Frau von Pachoix trat ein, hinter ihr, in allerliebst jugendlicher Art, ihre Schwester, dann ihr Gatte.

Die Damen waren Amerikanerinnen. Köstlich frisch, frei in den Bewegungen, lustig und anmutig. Mabel, die junge Frau, bedeutend hübscher, aber Daisy Barlock entzückend jung und blond, mit ein paar Augen, die die Weiblichkeit selbst waren.

Pachoix war immer noch der elegante Mann wie ehemals. Aber die Jahre hatten seiner Erscheinung den Schimmer genommen, jene unwiderstehliche Elastizität, die ihn so wunderbar auszeichnete. Jetzt neigte die Figur zur Fülle, und das stand ihm nicht. Nur seine Miene war die gleiche geblieben, liebenswürdig, ein wenig kokett, der vollendete Typ des Weltmannes.

Er küßte Lori sehr galant die Hand, machte Togena eine korrekte Verbeugung und ließ dann seine Damen reden.

Die kleine Frau hatte gleich eine ganze Flut Worte auf den Lippen, drollige Ausrufe kamen dazwischen, lustiges Lachen und allerliebste Bewegungen. Sie erzählte, wie das Auto gefahren sei; es war ein Droschkenauto, das ihr durchaus nicht gefallen hatte.

»Immer saßen wir alle uns auf die Schoß. Ich dachte, gleich liegen wir im Kanal. Und diese Kurven. O, o, mir tut meine Magen weh.«

Daisy sagte belehrend: »Es heißt mein Magen.«

» Oh, little one, du bist immer so klugschnablig.«

Wieder verbesserte die Kleine. Und während sie noch lachten, ging wieder die Tür auf. Daisy errötete, Mabel rief lustig aus: »O, Mister Hans Beer!«

Hasso Beer trat mit Hans ein. Die Beleuchtung am Abend ließ das glatt rasierte Gesicht noch sehr jung erscheinen. Man traute ihm kaum den erwachsenen Sohn zu. Und der war wieder strahlend, reizend in der ihm eigenen Art, die bescheiden war, vertraulich und doch sehr sicher.

Er war gleich mitten in einer großen Unterhaltung mit Mabel Pachoix, die ihn heftig beschuldigte, ein Rendezvous mit ihr und Daisy versäumt zu haben.

»Wir standen,« rief sie aus, »wie arme, kleine, verlassene Babys, und er kam nicht. Niemals kommt er zu der Zeit, die er sagt. Und Daisy weinte beinahe. Oh yes, sie hat beinahe geweint … Be quiet, du hast, sei still. Aber ich auch. An der Kaiser Wilhelm-Kirche. Und da war so ein Mensch, der sagte zu mir: ›So'n hübschet Mächen, aber mir hat auch eine versetzt.‹ Daisy, sprich, hat er das nicht gesagt?«

Hans Beer wollte sich darüber halb tot lachen und besonders über Mabels Entrüstung. Er versicherte, dort gewesen zu sein. Seine Miene war treuherzig wie die eines großen Kindes. Eine halbe Stunde hätte er gewartet. Länger sei es bei dem Sturm wirklich nicht auszuhalten gewesen.

Togena, der ein wenig abseits stand, beschaute die Gruppe, die so laut und lustig sprach. Sie kamen ihm fast vor wie fremde, merkwürdige Vögel. Er begriff sie nicht und schwankte zwischen Bewunderung und einem hochmütigen Verachten. Aber so kam man am besten durch das Leben. Alles mit jenem Ton der treuherzigen Liebenswürdigkeit abtun, überall sich durchwinden, ohne anzustoßen. Das würde er niemals lernen.

Und wie wertvoll wäre solch ein Wesen zum Beispiel der schönen Frau Granier gegenüber. Es ärgerte ihn jedesmal, wenn er ihr unhöflich entgegenkam. Mehr noch allerdings ärgerte er sich über seine, wie es ihm schien, oft unmotivierte Liebenswürdigkeit. Die Frau war auch eine von denen, so sagte er sich fast bitter, die nicht den Menschen in ihm, sondern einzig und allein die Kunst, die ihn gleichsam öffentlich machte, bewunderten. Der Mensch Klemens Togena würde als kleiner Beamtensohn ihr niemals gefallen haben.

Ein wenig atemlos, fast unbemerkt, war Granier hereingekommen und dann die letzten, Birons.

Schon die Art, wie Josephine Biron ihren fast erblindeten Mann führte, war wundervoll: ganz selbstverständlich, mütterlich besorgt, ruhig und sicher. Sie war um ein weniges kleiner als er, doch er stützte sich, und seine gebeugte Haltung ließ ihn daher kaum größer erscheinen. Wenn sie ihn führte, schien er durchaus sicher. Das Hilflose, namenlos Hilflose kam erst in seine Gestalt, wenn er ohne sie irgendwo stand. Dann hob sich der Kopf, als suchte er. Seine Hände wollten tasten, aber er erlaubte es ihnen nicht: so blieben sie zuckend hängen. Und in seine Züge, die eine liebenswürdige und ohne jede Bitterkeit sich zeigende Resignation aussprachen, kam Ängstlichkeit. Da war auch ein Lächeln, einfach, geduldig, verstehend. Ein Lächeln, das jedem nur Freude und Glück zu wünschen schien.

Biron war immer eine vornehme Erscheinung gewesen. Das hatte das Leiden ihm auch nicht nehmen können. Ja, das Vergeistigte in diesen Zügen verschärfte es eher.

Fritz Granier hatte sich sofort seiner angenommen. In einer Art, die in ihrer Selbstverständlichkeit Josephines Art glich, ging er mit ihm zu allen Anwesenden zur Begrüßung, brachte ihn dann zu einem bequemen Stuhl und blieb bei ihm. Josephine, die anmutig in ihrem weißen Kleide zwischen den anderen stand, erzählte, daß sie leider mit keiner der Elektrischen mitgekommen seien, alles wäre überfüllt gewesen. Sie hätten gehen müssen und kämen darum so spät. Aber der Gang durch die warme Mailuft sei herrlich gewesen.

Ihre wunderschöne Stimme, die so weich und klangvoll war, erzählte das halblaut, aber alles schwieg unwillkürlich, als sie sprach. Hasso Beer nickte kaum merklich Togena zu, der nun nicht mehr abseits stand. Sie erinnerten sich beide daran, daß sie einmal konstatiert hatten, diese Stimme sei Musik. Pachoix, der um die Worte wußte, versuchte, in den Blick mit aufgenommen zu werden. Es gelang ihm aber nicht, und deshalb sprach er schnell und gewandt ein paar nette Worte, die die Schönheit der Mailuft noch ausführlicher schilderten.

Aber Lori hatte den Blick gesehen. Ihr Mund verzog sich zu einem hochmütigen Lächeln. Wie war es nur möglich, daß man einer so äußerlichen Sache, wie dieser Stimme, solch eine Bedeutung zuwies. Nur Männer sind fähig, so zu empfinden. Wenn Männer sich für eine Frau interessieren – für die Frau eines Halbblinden – pfui!

Lori fühlte deutlich, daß ihre Entrüstung unecht war, aber sie wollte Entrüstung empfinden. Ihr schönes Gesicht, das so voll Hochmut zu blicken vermochte, verzog sich spöttisch, dann plötzlich schmerzlich. Einen Augenblick lang zuckten die Lippen, aber sogleich nahm wieder der kühle Ausdruck vornehmer Unnahbarkeit die Oberhand. Jetzt empfand sie sich wieder als das, was sie wirklich war. Als unwiderstehlich in dem Zauber ihrer Eigenart, in dem Zauber ihres Duftes und ihrer kühlen Steifheit. Sie lächelte geringschätzig über Daisy Barlocks Flirt mit Hans Beer, sie lächelte über Josephines unbewußten Reiz. »Ich, Lori Granier, bin dennoch Königin,« empfand sie. Und als suggerierte sie diesen Gedanken den Anwesenden, wendete man sich plötzlich wieder allgemein ihr zu, so daß sie Cercle hielt wie eine Fürstin.

Man ging zu Tisch.

Das gedämpfte Licht gab dem achteckigen Raum wieder seine volle Schönheit. Sanft abgeblendet war das Weiß der Tafel, übersät mit den blassen, rosig getönten Rosen, die das ganze Zimmer mit ihrem feinen Duft erfüllten. Dieser Eßraum war von vollendeter Ästhetik, kahl fast, mit schweren, englischen Stühlen, mit den niederen Sideboards, die das Silber trugen, mit dem gedämpften Ton der Perser auf dem Boden. Hasso pflegte ihn als das stilvollste Zimmer zu bezeichnen, und Granier seufzte, daß hier zum allerwenigsten die Hausgeister daheim seien. Aber Lori, die in der ersten Zeit ihrer Ehre selbst mit Fanatismus alle Zimmer einrichtete, hatte den Raum für schön und gut gelungen erklärt. Kühle, klare Stimmungen, hatte sie gesagt, gehören sich für ein Eßzimmer. Man soll vor allen Dingen nirgends an Staub oder Motten erinnert werden. »Ich empfinde diese strenge Kahlheit hier als etwas Vollendetes.« – So hatte Granier sich darein begeben müssen, und er entschädigte sich dafür, daß er selbst sich ein Frühstückszimmer einrichtete, in dem die Polstermöbel Orgien feierten und vor dessen Geschmacklosigkeit Lori davonlief.

Sie ging noch weiter in ihrem Gefühl für strengen Stil. So hatte sie angeordnet, daß an den Donnerstag-Abenden das Menü nur sehr einfach, fast puritanisch war. Man kam nicht zusammen, um zu essen, sondern um gute Musik zu genießen, sagte sie. Auch darüber seufzte Granier heimlich. Er tröstete sich jedoch, indem er stets ein paar gute Weinsorten auf den Tisch stellen ließ. Und Lori ließ das geschehen, oder sie fand es vielleicht auch in der Ordnung, denn eine gewisse Feierlichkeit sollten die Abende nicht entbehren.

Es war sehr lebhaft in dem strengen Eßzimmer. Mabel Pachoix hatte einen kleinen Streit mit Hasso Beer, dem es Spaß machte, sie zu necken. Sie hatte dann die allerliebste Art verwöhnter und gutherziger Frauen, mit maulender Empörung zu entgegnen.

»Theater, ja!« rief sie erregt aus, als er sie mit ihrer Vorliebe dafür neckte, »Theater ist wundervoll. Ich sitze da in meine hübsche Kleid auf ein Sessel und sehe ein ganz wunderbares Märchen an. Alles ist Märchen in das Theater. Schauspieler sind auch Märchenprinzen, jawohl, Herr von Beer, ja, ja, Sie böser Mann. Not so, Daisy, Kainz, der war ein Prinz, und Caruso, wenn er singt! Es ist so, ja, es ist so in mir. Dann bin ich eine glückliche Frau und denke nicht an meine Jungfer, ob sie wohl fortläuft, oder an das böse Mensch, die Köchin, welche nicht mag kochen, wie ich mag essen.«

Beer lachte laut auf. »Theater als Trost für die Dienstbotennot.«

Aber Mabel nahm das übel.

»Es ist so, Herr von Beer. Es ist nicht so, wie ein Mann denkt. Immer ist das Leben so, wie eine Frau denkt. Sie kennt es, sie weiß. Männer gehen morgens zu ihre Geschäfte und stecken die Nase in ihre Akten. Da steht nix drin von Leben, zu Hause aber sitzt das arme Frau und denkt sich aus, wie es soll fertig werden mit allem Ärger.«

»Ist es denn wirklich so schlimm?« fragte Beer. Aber Mabel wollte keine Antwort geben, sondern sprach plötzlich sehr eifrig mit Granier über die Schönheit des Raumes in den Kammerspielen. Sie waren beide begeistert, und schließlich wurde das Gespräch allgemein. Lori lobte den Stil und Granier die Bequemlichkeit.

»Wir loben nämlich,« sagte sie, »niemals dasselbe. Wir haben so grundverschiedene Ansichten, wie sie nur möglich sind.«

»Leider, leider,« warf Granier ein.

»Aber warum leider!« rief Hans Beer. »Wenn ihr zwei immer übereinstimmtet, wäret ihr ein fürchterlich langweiliges Paar. Ich hörte einmal von beiden die Kritik über ein Wedekindsches Stück. Erst dachte ich, sie meinten nicht dasselbe Stück. Nachher bin ich hingegangen und habe es mir angesehen.«

»Nun, und wessen Kritik war die interessantere?« fragte man.

Aber Granier winkte mit der Hand ab. »Ganz gewiß die meiner Frau. Denn ich kann den Wedekind mit dem besten Willen nicht verstehen.«

»Verstehen!« sagte Lori. »Aber ich verstehe ihn auch nicht im mindesten. Trotzdem ist er mir als Künstler interessant.«

Beer sagte: »Er ist auch nicht Künstler, er ist Genie in meinen Augen.« Und trotz eines ziemlich lebhaften Protestes fuhr er fort: »Künstler ist für mich überhaupt nur ein Mann, der auch als Persönlichkeit Künstler ist. Es wird in dieser Zeit mit dem Namen Künstler und dem Wort Kunst geradezu ein Unfug getrieben. Jeder, dem es einfällt, irgendein minimales Talent zu haben, baut es aus, pflegt es und nennt sich dann Künstler. Nun will ich allerdings durchaus nicht damit sagen, daß Herr Wedekind ein minimales Talent hat, ich meine eher, sein Talent ist sogar sehr stark. Aber seine Persönlichkeit stimmt mit seinem Talent nicht im mindesten überein, und diese Disharmonie birgt meines Erachtens eine große Tragik; sie hindert ihn daran, ein Künstler zu sein. Ich habe den ›Erdgeist‹ gesehen und war verblüfft. Ich dachte, wenn dieser Mann sich weiter entwickelt, hat er die Fähigkeit, ein Shakespeare zu werden. Diese Erfassung einer gewissen Art Weib ist so klar und so unheimlich wissend ausgeführt, daß man das Werk nicht anders als genial nennen kann. Also ist er ein Genie, ein Künstler nicht.«

Josephine Biron sagte: »Ich verstehe den Unterschied nicht, den du machst. Wie kann ein Genie nicht Künstler sein und ein Talent in einen unkünstlerischen Menschen kommen?«

»Das laß dir von unserem Künstler erklären, liebe Cousine,« sagte Beer. »Ich habe leider nicht viel Beziehungen zur Kunst und kann nur als Laie mit einem allerdings regen Interesse dafür sprechen.«

Aber Togena zuckte die Achseln. »Mein Verhältnis zur Kunst ist sehr kompliziert. Ich kann im Grunde nur sagen, daß mir Musik Lebensbedürfnis ist, und damit ist dieser Streitfrage hier wenig genug gedient.« Er hatte, während er sprach, fast einen leidenden, hilflosen Ausdruck; seine blassen Hände bewegten sich nervös. Sie redeten deutlicher als die Worte.

Und Lori deckte die Hand über die Augen. Diese Bewegungen waren unendlich reizvoll. Sie liebte sie und litt zugleich unter ihnen das Leiden einer gewissen fanatischen Sehnsucht.

Einen Augenblick war es still gewesen, bis Josephine sagte: »Nun weiß ich doch immer noch nicht den Unterschied zwischen Genie und Talent.«

Hasso erwiderte ziemlich kurz, ein bißchen dozierend: »Talent ist die Bemühung eines künstlerisch empfindenden Geistes, sich auszudrücken. Genie ist jene überaus interessante und unerklärliche Macht im Wissen, Denken oder Schaffen, die über jedes gewöhnliche Maß hinaussteigt. Genie wird deshalb zumeist mißverstanden, weil wir erst neue Maße anlegen lernen müssen. Talente setzen sich ihrer Einfachheit wegen rascher durch. Immer ist es ein Genie, das eine Spur bahnt, in der die nachfolgende Zeit sich fortentwickelt.«

Lori hatte es endlich über sich gebracht, die starke innerliche Erregung zu bemeistern. Sie sagte: »Und du stellst das Genie weit über das Talent?«

»Durchaus nicht. Ich spreche beiden ihre Berechtigung zu. Das Talent hat die Berechtigung, die Ästhetik des Lebens zu erhöhen. Das Genie schlägt oft mit Keulen die Ästhetik tot und gibt den Leitfaden zu neuer Ästhetik. Du, liebe Lori, bist ein ästhetisches Talent, das Talent, Lori Granier in Vollkommenheit zu sein. Wir alle profitieren von der Schönheit deines Hauses, deiner Toiletten, genießen das. Ein Genie würde sicher das Haus und sich selbst anders leiten und weniger angenehm.«

»Also fürs Haus das Talent, fürs Leben das Genie.«

»So ähnlich wenigstens. Übrigens kommt zu unserem Glück ein Genie nicht gar zu oft zur Welt.«

Hier trat wieder eine kleine Pause ein, weil niemand eine Antwort auf Beers Worte bereit hatte. Die benutzte Granier, um fleißig seinen Wein zu loben. Seine kleinen Augen zwinkerten lustig, und er hob sein Glas gegen das Licht und sah in das dunkle, schwere Gelb des Weins.

»Das ist ein guter Wein,« sagte er, »den kann man trinken. Der läßt auch den Kopf frei. Gewiß, Herr Togena, ganz gewiß. Davon können Sie getrost noch ein Glas nehmen, wenn Sie auch geschworener Temperenzler sind. Zu dem roten rate ich weniger, es ist auch ein guter Wein, aber schwer, schwer. Wenn man davon drei, vier Gläser trinkt, fühlt man es schon. Der weiße dagegen, wie Wasser, aber wahrhaftig wie Wasser.«

Lori zuckte die Achseln und warf ihrem Gatten einen verzweifelten Blick zu. Und er hatte das Unglück, gerade bei einer freundlichen Umschau diesem Blick zu begegnen; er zuckte sichtlich zusammen und sagte rasch: »Ja, ja, Lori, ich weiß schon, ich rede schon nichts mehr davon. Siehst du, und bei deinem Künstlergespräch kann ich auch eine Ansicht aussprechen. Ich war nämlich gestern in der Sezession. Hans –«

Lori unterbrach ihn. »Um des Himmels willen, Fritz, wenn du von der Sezession zu reden anfängst, sitze ich auf Nadeln.«

»Laß ihn nur, Tante Lori!« rief Hans Beer. »Er hat ein ganz verflucht richtiges Urteil. Ich war wirklich erstaunt.«

Granier war geschmeichelt, er beugte sich vor und lachte vergnügt. »Da sieh einer einmal an. Das ist recht, Hans, daß du mich verteidigst. Auf den Hans halte ich überhaupt große Stücke. Kommt der Junge gestern an und will mich zur Sezession abholen. I woher, sage ich, wie werde ich mir das verrückte Zeug ansehen. Aber da hat er so eine liebenswürdige Miene aufgesetzt, so eine ganz infam liebenswürdige Miene, daß ich weich geworden bin wie Butter. Also ich halte diesen Neffen Hans Beer einfach für ein Genie. Er ist das Genie der liebenswürdigen Überredungskunst. Prost Hans, Pröstchen, du bist doch ein ganz famoser Kerl!«

»Und wie gefiel Ihnen die Sezession?« fragte Josephine Biron.

Zu Loris achselzuckendem Entsetzen fuhr Granier fort, vergnügt zu erzählen: »Eigentlich war es schauderhaft, ich verstehe ja nichts, ich weiß, ich habe keinen Geschmack und keinen Sinn für Ästhetik, so sagt meine Frau. Aber dort in der Sezession, da ist meinem ästhetischen Empfinden das Gruseln angekommen. Ich sage nur Lovis Corinth! Aber lassen Sie das meine Frau nicht hören, um Gottes willen nicht!«

»Lovis Corinth ist eines unserer größten Talente,« sagte Lori ruhig.

»Dann hätte der liebe Herrgott wahrhaftig sein schönes Talent nicht in einen Menschen hineinlegen sollen, der so absolut nicht Künstler ist.«

Lori lachte verächtlich. »Das sagst du. Andere Menschen haben andere Ansichten.«

»Aber Lori, diese absolut unästhetischen Fleischanhäufungen! Ich verstehe so etwas nicht. Nein, ich gebe es gern zu, ich verstehe es nicht, aber ich finde es geradezu schauderhaft.«

Beer sagte: »Meines Erachtens ist Lovis Corinth nur gewissermaßen der Ausdruck des sich gegen die entsetzliche Süßlichkeit früherer Jahrzehnte empörenden Sinns für Wahrheit. Er wird brutal, nur um nicht weichlich zu sein. Aber man kann ihm das Talent nicht absprechen.«

»Das Talent nicht, aber den Sinn für Ästhetik,« warf Togena ein. »Darin stimme ich Herrn Granier vollkommen bei.«

Lori sah kurz, erstaunt fast, auf. Sie sagte plötzlich: »Ich bin übrigens auch keine Verehrerin von Corinth. Ich meine nicht, wie so viele, daß seine Werke die Liebermanns überdauern werden.«

»Liebermann ist einer der wenigen,« erklärte Beer, »den ich für einen wirklichen Künstler halte. Aber ich bin überhaupt ein Gegner der heutigen Malerei. Ich würde mir unter keinen Umständen ein modernes Bild in mein Zimmer hängen. Meine gute Frau schwärmt für moderne Bilder, es ist ihr heimlicher Kummer, daß ich ›die aufkeimenden Talente nicht unterstütze‹. Aber ich bleibe Tyrann. Alte Bilder dagegen, die liebe ich. Wie liebe ich meine beiden sanften, alten Franzosen, die nicht einmal sehr berühmte Namen haben. Sie sind zart und voll Stimmung und doch kräftig.«

Josephine Biron nickte. »Ich hatte auch selten einen Genuß wie den kürzlich in der englischen Ausstellung.«

»Die englische Ausstellung, ja, die war doch teilweise verblüffend. Diese bezaubernden Frauen dort, die in jeder Haltung, in jedem Zuge vornehme Frauen sind. Die sind mein Ideal. Und die Maler des achtzehnten Jahrhunderts verstanden Vornehmheit. Sie verstanden sie so vollkommen, daß sie sie über alles andere hinweg zur Geltung kommen ließen. Unsere heutigen Künstler wissen überhaupt kaum, was eine vornehme Dame ist. Das mache ich ihnen zum Vorwurf.«

»Liebermann mußt du ausnehmen!«

»Liebermann, ja,« gab Beer zurück. »Liebermann aber ist ein enormes Talent!«

»Ein Genie?« fragte Biron und beugte sich vor.

»Ein Genie möchte ich ihn doch nicht nennen. Genie ist zu rar. Ich für mein Teil kenne nur ein einziges lebendes Genie, und das ist Herr von Lassenthin.«

»Dein Freund Lassenthin!« rief Mabel zu ihrem Mann hinüber. »Aber was tut er als Genie! Ich habe niemals gewußt, er ist ein Künstler.«

»Künstler nicht, gnädige Frau,« sagte Beer und verbeugte sich leicht, »und doch Genie. Er ist ein juristisches Genie.«

»O, wie langweilig. Und ich mag das Mann so gern leiden. Er hat einmal gesagt: ›nur eine Amerikanerin versteht es, sich mit vollendeter Grazie zu setzen hin.‹«

»Hinzusetzen!« verbesserte Daisy.

Aber Pachoix rief: »Das ist falsch, Mabel, so hat er es nicht gesagt. Als du dich einmal wie eine kleine Katze in einen Stuhl hineinschmiegtest, sagte er, dieses Schmiegen mit vollendeter Grazie sei den Amerikanerinnen eigen.«

»O, du, du!« entrüstete sich Frau von Pachoix. »Alles macht das Mann zuschanden, was ich hübsch sage.«

»Ja, sie lügt unglaublich,« lachte er. »Wenn man sie dann ertappt, so tut sie ganz unschuldig. Sie lügt einfach, sie hätte nicht gelogen.«

»Nein, er lügt, er, er!« rief Mabel aus. Aber dann schwieg sie rasch. Sie sah, daß Hasso Beer mit ernster Miene redete und die anderen ihm lauschten. Das dämpfte ihre Lustigkeit.

Der Regierungsrat schien das Wort jetzt ausschließlich an Pachoix zu richten, der erwiderte. Sie mußten ziemlich laut sprechen, denn der breite Tisch trennte sie. Ihre Worte klangen deshalb härter, akzentuierter. Beer sagte: »Und ich behaupte, daß es lediglich ein Fehler der heutigen Regierung ist, wenn Lassenthin nicht längst in einer leitenden Stellung ist. Er hat das Zeug dazu. Er ist ein unglaublich intelligenter, in allen Fächern seiner Wissenschaft beschlagener Mann. Er ist nicht nur das. Er ist absolut der moderne Regenerator, und solchen Männern müssen wir über kurz oder lang in der Justiz und in der Verwaltung die Tür öffnen.«

Pachoix erwiderte: »Aber mein lieber Herr von Beer, ich kenne Lassenthin doch auch. Ich bin jahrelang mit ihm befreundet gewesen. Wir arbeiteten zusammen im Auswärtigen Amt, und ich lernte dort also seine Manier, zu arbeiten, kennen. Was ihm nicht paßt, das tut er nicht, oder er macht derartige Schwierigkeiten, daß seine Vorgesetzten den größten Ärger davon haben. Solch ein Mann ist eben kein Beamter; das kann er sich als Privatmann leisten, aber nicht als Assessor in der Regierung.«

»Wenn ihm etwas nicht paßte und er Schwierigkeiten machte, so wird er jedenfalls im Recht gewesen sein,« gab Beer zurück.

Pachoix zuckte die Achseln. »Ob mit Recht oder Unrecht, weiß ich nicht, aber jedenfalls hatte er in seiner Stellung zu gehorchen. Er hatte nicht das Recht, seinen Vorgesetzten so quasi die Akten vor die Füße zu werfen. Er hatte auch nicht das Recht, in so ausfallender Art seine Meinung zu sagen.«

»Das hat er, so viel ich weiß, nie getan.«

»Das hat er doch getan.«

»Er hat einfach nur Rückgrat gezeigt an einer Stelle, wo er seiner Überzeugung nach unbedingt Rückgrat zeigen mußte. Dieser Mann hat eine Überzeugung und hält sie in allen Konflikten aufrecht. So viel ich mich erinnere, haben sich seine Vorgesetzten in jeder Hinsicht inkorrekt und er in jeder Hinsicht korrekt benommen.«

»Nennen Sie es korrekt, wenn er die Worte gebraucht: ›Ich mache die Schweinerei nicht mit!‹«

»Wem gegenüber hat er das gesagt?«

Pachoix zögerte. »Ich weiß nicht genau, wem gegenüber. Aber die Worte sind jedenfalls gefallen.«

»Und daraufhin nahm er den Abschied?«

»Kurze Zeit darauf wenigstens. Ich weiß auch aus seinem eigenen Munde, daß er auf den Kurs der heutigen Regierung sehr schlecht zu sprechen ist. Er gefällt sich da in Paradoxen –«

Beer unterbrach ihn. »Entschuldigen Sie, lieber Pachoix, aber ich hörte in meinem ganzen Leben keine Paradoxen aus Lassenthins Munde. Wenigstens nicht, soweit ernste Sachen im Spiel waren.«

»Aber Sie werden doch zugeben, Herr von Beer, daß er querköpfig ist und den Widerspruch ernster, älterer, in ihrem Fache sehr tüchtiger Männer herausfordert.«

»Das tut er mit vollem Recht,« sagte Beer. »Ich freue mich jedesmal, wenn ich etwas von ihm lese. Er ist prächtig in seinen Ansichten, er ist geradezu der Mann, den unsere heutige Zeit braucht. Seine Hörer in Freiburg sollen ihn vergöttern.«

Pachoix lächelte spöttisch. »Ja, die Jugend, die Jugend ist leicht begeistert. Die begeistert sich auch für sein Steckenpferd, für diesen Unsinn, den er jetzt über die Notwendigkeit der Laiengerichte redet. Ich bitte Sie, Beer, Laiengerichte! Die Leute, die behaupten, daß ein gelernter Schuster keine Schneiderarbeit leisten könnte, haben doch recht, also werden geschulte Richter immer noch – – –«

Beer unterbrach ihn. »Ich bin ebenso Anhänger der Laiengerichte wie Lassenthin. Und der Vergleich mit dem Schuster hinkt beträchtlich. Aber sei dem, wie dem sei. Jedenfalls ist Lassenthin eine ganz enorme Persönlichkeit.«

»Und ein Mann, der sich durch seine Art und Weise jegliche Karriere verdirbt.«

»Glauben Sie, daß er ehrgeizig ist?« fragte Beer scharf. »Ich für meinen Teil danke meinem Schöpfer, daß es noch solche Männer gibt, und ich bedaure es, daß die heutige Richtung sie sich nicht dienstbar macht. Wir würden ein anderes Deutschland haben, wenn auch nur ein paar von der Art Lassenthins an leitender Stelle ständen.«

Pachoix wollte etwas entgegnen, aber da nickte Lori; sie lächelte und hob die Tafel auf.


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