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I.

Die Sitte, an jedem ersten Sonntag im Monat zu der alten Frau von Beer zu Tisch zu kommen, hatte noch der Vater eingeführt. Die drei Kinder hatten sie nach dem Tode des Majors beibehalten, denn die alte Dame empfand rührende Freude darüber, und außerdem kam ihnen allen, wenn auch vielleicht nicht ganz klar, zum Bewußtsein, daß diese traditionellen Sonntage sie zusammenhielten. Ihre Wege wären sonst noch weiter auseinander gegangen.

Selbst die alte Dame machte sich manchmal Gedanken darüber, wie verschieden ihre Kinder waren, und sie begriff das nicht. Sie mußte sich dann mit dem alten Fräulein von Wernheimb, das nun immer mehr von ihrer Stellung als Gesellschafterin zu der einer Freundin hinaufrückte, aussprechen.

Fräulein von Wernheimb fand die Unterschiede durchaus nicht so groß, und das war recht beruhigend. Freilich, Lori lebte ihr eigenes Leben, und Hasso war vielleicht sogar ein Sonderling. Aber Günther, der hatte Ähnlichkeit mit dem alten Herrn von Beer. Es war anzunehmen, daß er ein gutes Bindeglied gab.

Der erste Sonntag im Mai war warm und sonnig. Es war so wunderschön draußen, daß selbst die Zimmer goldenes Licht bekamen. Die alte Frau von Beer saß in ihrem gewohnten Korbstuhl am Fenster, die Hände im Schoß und lächelnd und verträumt wie immer in ihrer Vorfreude. Am anderen Fenster stand Fräulein von Wernheimb ein bißchen aufgeregt und erwartungsvoll. Sie schaute hinaus, ob die Gäste auch pünktlich kommen würden. Denn andernfalls konnte der Braten zu braun werden oder der Pudding fallen – allerdings kamen sie stets zur rechten Zeit. Dennoch –

Plötzlich richtete sich das alte Fräulein höher auf.

»Siehst du, Mathilde, da kommt schon Günther mit seiner Frau. Gerade um die Ecke biegen sie, jetzt sind sie auf dem Platz. Kannst du sie sehen? Ich werde nur gleich in die Küche gehen und sehen, daß Minna alles ordentlich anrichtet. Allein wird sie doch nicht fertig. Und Hasso ist pünktlich auf die Minute, den kenne ich. Die guten Graniers können es sich bei ihrem vielen Verkehr natürlich nicht so einrichten, daß sie genau um 2 Uhr hier sind. Aber Lori hat extra gesagt, es sollte nicht auf sie gewartet werden. Nein. Nun – ich gehe also in die Küche.«

Günther von Beer, den ein gütiges Geschick, entgegen seinen Gaben, in den Generalstab verschlagen hatte, war indessen mit seiner Frau in den Hausflur getreten. Die junge Frau war die Tochter seines ehemaligen Korpskommandeurs. Sie hatte kein Geld und war auch wenig hübsch. Aber sie war, als Günther sie heiratete, eben die Tochter seines Generals. Sie wurde umschwärmt, tanzte sehr viel, bekam auf jedem Ball die meisten Kotillonsträuße und sah im Grunde nicht ein, wieso sie eigentlich nicht hübsch sein sollte. Dann kam da eine etwas rasche Verlobung mit einem von der Garde zur Linie versetzten Leutnant zustande. Das ging aber auseinander, und Günther Beer, der immer ehrfurchtsvoll von weitem nur die Generalstochter betrachtet und bewundert hatte, ward plötzlich herangezogen. Er ward erklärter Liebling, Kind im Haus beim General, Bräutigam, Ehemann –

Es ging alles glatt, rasch, eigentlich ohne sein Zutun.

Und nun kam die Ehe. Hildegard war weder hübsch noch besonders liebenswürdig, doch war sie sonst ein gutes, braves Ding, mit dem es sich schon leben ließ. Es gab nur eine Eigenschaft, die nach und nach sogar dem dicken Hauptmann Beer auf die Nerven ging. Das war ihr absoluter, durch kein Mäntelchen verdeckter Neid.

Als die zwei noch draußen fern im Osten in ihrer Garnison lebten, ging die Sache an. Aber in Berlin wurde es schlimm. Zwar war Günther Generalstäbler, aber –

Da war erstens sein Bruder, der hatte eine reiche Frau.

Da war zweitens seine Schwester, die hatte einen reichen Mann.

Da war drittens das Leben in der Großstadt wirklich so unerhört kostspielig, kostspieliger noch – so meinte Frau Hildegard von Beer –, wenn man reiche Verwandte hatte und doch auch nicht immer und immer zurückstehen wollte.

Und viertens usw. hatte der eine der Kameraden mehr Konnexionen, der andere eine besonders auffällige Art, aufzutreten, und so ging es fort. Hildegard hatte an jedem einzigen Menschen etwas auszusetzen und verquälte sich und ihrem Manne das Leben damit.

Dabei kamen Kinder. Erst ein Junge, dann ein Mädel, dann ein Kleines, das starb, dann ein Zwillingspaar. Immer war Geschrei im Haus und immer Aufregung. Immer Mädchenwechsel, Ärger, Zank. Und die Kinder schlugen alle mit verblüffender Sicherheit der Mutter nach.

Hasso von Beer hatte Hildegard die »unangenehme Beigabe« genannt. Irgendwie war ihr das zu Ohren gekommen. Sie haßte ihn dafür. Mit Lori hatte sie sich niemals gestanden. So blieben ihre Schwägerin Freya Beer und ihr Schwager Fritz Granier übrig, die sie im Grunde, weil beide aus unadligem Hause waren, über die Achseln ansah. Denen sie aber diesen Makel verzieh, weil in ihren Augen – ihr selbst unbewußt – ein Makel besser war, als irgendein ostentativer Vorzug, über den man sich doch nur ärgerte.

Der dicke Günther war in das Zimmer getreten und hatte Frau von Beer begrüßt: »Tag, Muttchen; na, wie geht's denn heut? Immer schön mobil, ja? Das ist recht, mein Muttchen.«

Frau von Beer meinte, daß sie eigentlich nicht sehr mobil sei. »Das Alter, Güntherchen, ach ja, wenn man an die siebzig ist. – Aber wo bleibt denn Hildegard?«

»Die macht sich draußen noch schön,« sagte Günther; »weißt du, wenn sie mit Lori und Freya zusammenkommt, da will sie auch ein bißchen hübsch sein. Das ist verständlich. Eine kleine weibliche Schwäche.«

Frau von Beer fragte gerade noch: »Was macht der Dienst?«

Da kam Hildegard herein.

Sie war wirklich nicht hübsch; wo sie voll sein mußte, war sie mager, und wo sie gar kein Fett gebrauchen konnte, saß es im Überfluß. Sie hatte ein dickes, gelbes Gesicht mit zwinkernden Augen, minimaler Nase und einem drolligen Mund, den man bei kleinen Kindern Schnute nennt.

Sie begrüßte Frau von Beer und fing gleich an zu klagen. Otto-Erich entwickelte sich zu einem wahren Kreuz, kein Kindermädchen hielt es bei ihm aus. Die kleine Lenore hatte unter ihm zu leiden, das sanfte Lamm. Und die Zwillinge – auf die Zwillinge war sie sehr stolz. Es waren merkwürdig hübsche Kinder mit stillen, niedlichen Babymanieren. Aber eines von ihnen war immer krank. Da gab es auch nur Klagen.

Die kleine Uhr auf Frau von Beers schöner alter Kommode schlug klingend 2 Uhr, und der Regierungsrat Hasso von Beer trat ein. Er war groß und schlank, mit dem vornehmen Kopf der Beers und ihren grauen, tiefliegenden Augen. Um den herben Mund lag das liebenswürdige Lächeln der Begrüßung; es zog sich scharf wie eine Falte von der Nase herunter. Von der schönen, schmalrückigen Nase, die dem Gesicht den Charakter gab.

Hinter ihm, schlank und elegant, ein wenig alternd, aber immer noch schön, kam seine Frau. Sie war blaß, von jener sanften, weißen Blässe, die den gepflegten Teint verrät. Obgleich sie durchaus nicht jugendlich gekleidet ging, sah man deutlich ihr Bestreben, noch immer die schöne Frau zu sein.

Und dann kam Ernst, ihr Ältester, der Student, mit den unsicheren Manieren des Gelehrten, mit dem schmalen Kopf des Vaters, der nur zu hager war, vergeistigt, herb bis ins Äußerste.

Zuletzt Hans, strahlend, sonnig, mit dem Lächeln eines Kindes in dem frischen Gesicht. Siebzehn Jahre alt und doch schon vollendet in Manieren und Bewegungen. Prachtvoll gewachsen und prachtvoll jung.

Die alte Frau von Beer war glücklich. »Hassochen, Freya! Ach, da ist wirklich auch der gute Ernst. Und Hänschen, mein Junge, wie du riesig wirst.«

Sie umarmte alle, küßte alle. Die Enkel besah sie mit strahlenden Blicken. Dann rief Fräulein von Wernheimb: »Bitte, zu Tisch. Auf Graniers soll nicht gewartet werden. Bitte, bitte.« Sie hatte wieder Angst, daß der Braten verbrannte oder der Pudding fiel. Für das Essen fühlte sie sich verantwortlich. Aber gerade jetzt kamen Graniers, und da mußte Braten und Pudding warten. Und die Suppe, die schon auf dem Tisch stand, würde kalt werden. Zwei Minuten hätten sie später kommen sollen, einzige zwei Minuten, so dachte das alte Fräulein.

Lori rauschte herein, sehr schön, sehr elegant, kühl und blaß; der Zauber ihrer Persönlichkeit war nicht mehr die Herbheit, die ihre Mädchenjahre auszeichnete, vielmehr umgab sie jetzt der Reiz der großen Dame, jener Reiz des Bewußtseins ihrer Schönheit und ihrer Macht. Köstlich leuchtete das Rot des üppigen Haares; ihre Augen mit den schmalen, dunklen, vollkommen geraden Brauen blickten kalt und dennoch voll von jener gewissen unverbindlichen Liebenswürdigkeit. Der Mund stand rot, üppig in dem blassen Gesicht; der Mund war vollendet schön.

Ihr Gatte verschwand fast hinter ihr, trotz seiner mehr und mehr zur Fülle neigenden Gestalt. Er hatte zwar immer noch jene Behendigkeit, die seiner Figur jede Neigung zum Grotesken nahm. Aber elegant war er nicht, und der tadellose englische Schneider vermochte niemals die starke Wölbung seines Leibes zu verdecken oder die Beine elegant erscheinen zu lassen, die ein merkwürdiges Bestreben hatten, die Knöchel zu zeigen, als seien die Hosen zu kurz.

Lori war auf ihre Mutter zugegangen, sie küßte sie und drückte den anderen nachlässig die Hand. Hans war der einzige, der einen wärmeren Blick bekam. Er quittierte ihn mit einer geschickten Schmeichelei.

Hildegard, die daneben stand und sie hörte, sagte scharf und bekniffen: »Es kann nicht jeder solche Toiletten tragen, mein lieber Junge, wie deine Tante Lori. Ich zum Beispiel –«

Sie hatte ein ganz unmögliches buntseidenes Fähnchen an, ein altes Gesellschaftskleid, das jetzt zu solchen Zwecken umgearbeitet und aufgetragen wurde. Hans sagte nicht sehr höflich: »Tante Hildegard, aber ein bißchen anders könntest du dich wirklich anziehen.«

In diesem Augenblick rief Fräulein von Wernheimb zum Glück wieder dringend zu Tisch, und Hans glitt wie ein Aal von Hildegard fort. Sie hatte gerade nur noch sagen können »lieber Hans«, und auch diese Worte erreichten den Neffen scheinbar nicht mehr. Nun bohrte die Strafpredigt, die nicht gehalten werden konnte, in ihr und wurmte und machte, daß ihr Gesicht noch unliebenswürdiger aussah als sonst.

Bei Tisch war immer eine äußerst glatte, sich in ruhigen Bahnen bewegende und niemals abreißende Unterhaltung. Die alte Frau von Beer und Fräulein von Wernheimb waren der Meinung, daß eine Unterhaltung so gut wie jede andere sei, und daß man als Wirtin nur dafür zu sorgen habe, in ein etwa drohendes Schweigen hinein hastig einen neuen Gesprächsstoff zu werfen. Sie hatten immer einige Lunten bereit, mit denen sie bei Freya oder Hildegard, auch bei Günther einen gehörigen Wortschwall erzeugten, und saßen dann wieder zufrieden und sich ihrer Werke voll bewußt still da.

Die Suppe war noch nicht kalt.

Hasso, der eine liebenswürdige Laune hatte, lobte die Suppe, und das alte Fräulein errötete begeistert. Hildegard fragte gleich: »Sie lassen etwas gestoßenen Pfeffer an die Tomaten tun?«

»O nein,« wehrte Fräulein von Wernheimb ab. Frau von Beer nickte. Die zwei waren versorgt, sie würden den ganzen Mittag über im Geiste miteinander kochen.

Der Braten kam.

Frau von Beer sagte zu Hasso: »Du tust mir die Liebe an und tranchierst, nicht wahr, mein Hasso?« Und zu Ernst rief sie herüber: »Das mußt Du auch lernen; dein lieber Vater macht es so gut, und erst der gute Großpapa! Nicht wahr, du wirst das auch lernen, später für deine Frau.«

Der Student war gerade in eine äußerst wichtige Frage vertieft, die ihn den ganzen Tag schon beschäftigt hatte. Er studierte Jura, seinem Vater zuliebe, Philosophie aus eigener Begeisterung. Nun fand er Bindeglieder zwischen den Wissenschaften, unerhört neue, wundervolle Wahrheiten, die die ganze Welt erschüttern konnten. Sein schmales, blasses, in erster Linie von Grund aus vornehmes Gesicht war erhellt von dem geistigen Schaffen. Die grauen, tiefliegenden Augen hatten einen scharfen, aber vollkommen von der Welt abgewandten Blick. Die plötzliche Anrede hatte ihn verwirrt. Ganz überraschend kam in das Gesicht ein hilfloser Zug, um die Mundwinkel zuckte es nervös; jetzt glich er plötzlich der Mutter oder den Ahnen der Mutter, die Juden waren.

»Liebe Großmama,« sagte er mit der etwas scharfen Stimme, »du sprichst von meiner Frau?«

»Nun ja, von deiner zukünftigen Frau.«

Hans rief: »Aber er will doch nicht heiraten, Großmuttchen; um Gottes willen, beleidige ihn nicht.«

Sobald Hans sprach, hatte Hildegard ihre Unterhaltung mit Fräulein von Wernheimb unterbrochen. »Inwiefern sollte das wohl eine Beleidigung sein, lieber Hans? Natürlich ist Ernst jetzt noch zu jung zum Heiraten. Aber er wird später einsehen, daß es die Pflicht eines jeden rechtlich denkenden Menschen ist, sich eine brave Frau zu nehmen.«

Hans verschluckte sich und hustete angestrengt in seine Serviette. Lori lachte ganz ungeniert auf, aber die alte Frau von Beer war entzückt.

»Siehst du, Hildegard, das ist recht von dir, mein Kind, daß du die Ehe verteidigst. Wie bin ich froh, daß alle meine Kinder verheiratet sind, und so glücklich verheiratet,« fügte sie gerührt hinzu.

Einen Moment herrschte Schweigen. Es hatte jeder in diesem Augenblick so viel für sich zu denken, daß niemand Worte fand.

Da war Hasso mit dem undurchdringlichen, jetzt fast finsteren Gesicht. Er vermied es sichtlich, den Blicken seiner Frau zu begegnen. Er dachte: Was empfindet sie? Ja, was empfindet sie bei diesen Worten? Was fühlt sie überhaupt? Es sind zwanzig Jahre, daß wir verheiratet sind, zwanzig Jahre. Was wissen wir noch von unserem gegenseitigen Empfinden? Was haben wir überhaupt je voneinander gewußt?

Das Gefühl fast peinlichen Unbehagens ließ ihn die Stirn noch tiefer runzeln, noch strenger, kühler, vornehmer aussehen.

Und da war Lori. Sie hatte hochmütig über ihren Gatten, der ihrem Blick warm und freundlich zu begegnen suchte, hinweggeschaut. Sie hatte sich aus dem unangenehmen Gefühl, hier gleichsam ungerecht öffentlich belobt zu werden, in ihre Hochmütigkeit hineingeflüchtet, die sie immer panzerte. Sie empfand nicht wie ihr Bruder. Sie empfand eigentlich nur: diese Taktlosigkeit der guten Mutter ist nicht zu umgehen. Und was kann man erwidern? Kann man bei Tisch erwidern: »Liebste Mutter, du irrst dich ganz gewaltig, wenn du denkst, daß eins deiner Kinder glücklich verheiratet ist. Sie täuschen dir das nicht einmal sehr echt vor, nur um dich zu beruhigen. Im Inneren ist es in allen drei Ehen faul.« Nein, das konnte man nicht. Das wäre unmöglich gewesen, das wäre einfach eine Sünde wider den guten Geschmack.

Und da war Günther. Aber er dachte nicht weiter über die Worte nach, er fühlte sich vielmehr beinahe geschmeichelt, daß man ihm eine glückliche Ehe zutraute, nickte dann seiner Frau zu und hob das Glas und sagte »Prost!« und brach damit den Bann.

Dann fuhr auch Fräulein von Wernheimb eingedenk ihrer Pflichten als Wirtin gleich mit einem großen Wortschwall über das Glück der Ehe auf und brachte durch die absolute Objektivität, mit der sie ihr Thema behandelte, durch keinerlei Sachkenntnis getrübt und voll der Ideale einer etwas sentimentalen alten Jungfer das Gespräch in Bahnen, wie sie im Hause der alten Dame gewohnt waren. Jetzt war jeder wieder mit seinem Nachbar oder seinem vis-à-vis beschäftigt, und nur Ernst blieb still und in sich gekehrt, ganz gedankenlos ein Stück Brot nach dem andern zerkrümelnd, zerkauend. Noch war man zu jung, um mit seinen Ideen an die Öffentlichkeit zu treten. O, zu jung, welch ein Leiden. Die alten verstockten, verknöcherten Tyrannenseelen derer, die es zu etwas gebracht hatten, regierten die Anschauungen. Er würde verlacht werden. Er mußte warten. Warten, warten – wenn die Brust zum Zerspringen voll war.

»Noch etwas Salat?« fragte Fräulein von Wernheimb ihn freundlich und weckte den beinahe Entsetzten und erzählte dann von der Hökerfrau, die auf dem Markt am Wilhelmsplatz in Charlottenburg den besten Salat hatte.

Der Pudding kam, köstlich geraten, braun, dampfend, scharf und gut nach allerlei Gewürzen duftend.

Granier, der sich vorhin Hassos liebenswürdige Worte gemerkt hatte, lobte ihn und meinte, sein Koch machte ihn jedenfalls nicht so gut, was wiederum ein tiefes Erröten bei Fräulein von Wernheimb zur Folge hatte.

Da sagte plötzlich Frau von Beer, die eine der gefürchteten Gesprächslücken zu erkennen glaubte, in den Kreis hinein: »Und was macht denn die gute, arme Josephine?«

Josephine Biron war Frau von Beers Nichte und zugleich die Tochter ihrer liebsten Freundin. Sie hatte einen Marineoffizier geheiratet, dem eine glänzende Karriere in Aussicht schien. Aber plötzlich stellte sich bei ihm ein Augenleiden ein, es wurde schlimmer, die Sehkraft verlor sich mehr und mehr. Er mußte den Abschied nehmen und war nach Berlin gezogen, um dort bei einem Spezialarzt eine besondere Kur zu gebrauchen.

»Ja, was macht denn die gute, arme Josephine?« fragte Frau von Beer freundlich. »Sie kommt selten zu mir, aber sie hat ja wohl auch nur wenig Zeit.«

Hasso berichtete von einem Besuch, den er kürzlich bei Birons machte. »Es geht ihnen allen gut. Natürlich hat Josephine wenig Zeit, der Mann braucht ihre Hilfe sehr, und die beiden kleinen Mädchen auch. Aber sie ist immer frisch, immer sonnig, eine köstliche Frau.«

Freya sagte: »Er schwärmt sehr für Josephine, ich werde nächstens eifersüchtig sein.« Und sie drehte ihren schönen Kopf zur Seite mit einem kleinen, dünnen Lächeln. Aber niemand achtete auf sie, denn zur gleichen Zeit sprach Granier. »Franz Biron ist einer der Menschen, die ich am meisten bewundere. Er trägt sein Leiden auf eine Art, wie sie gar nicht prachtvoller gedacht werden kann. Und diese Kinder! Diese reizenden Kinder! Wenn man hört, wie Veronika mütterlich mit unserem Bubi spricht, und wie drollig Inge ist. Ich weiß immer nicht, welches von den bezaubernden Mädels ich lieber habe.«

Lori warf ein: »Diese bezaubernden Mädels treten mir meinen ganzen Garten zuschanden.«

»Aber Kind, aber Lorichen!« klagte Frau von Beer; »wer wird denn gleich so hart über Kinder urteilen. Wenn sie wirklich einmal über den Rasen laufen –«

»Sie laufen kaum über den Rasen,« unterbrach sie Granier. »Aber Lori will doch nun einmal nicht, daß die Kinder in den Garten kommen. Sie würde es am liebsten ihrem eigenen Jungen verbieten.«

Lori zuckte die Achseln. »Gewiß, Kinder machen den Garten unordentlich, und das verträgt er nicht. Wenn ich einen Park von so und so vielen Morgen hätte, so würde ich eben den Kindern einen Platz anweisen.«

»Du kannst unmöglich verlangen,« sagte Hasso Beer, »in der Rauchstraße einen Park von so und so vielen Morgen zu haben. Das ist ein Wunsch, den dir nicht einmal dein rührender Gatte erfüllen kann.«

»Ein Wunsch? Aber lieber Hasso, ich sprach doch keinen Wunsch aus.«

»Tante Lori,« rief Hans lustig, »um Gottes willen, zanke dich nicht mit Vater. Er wird sonst schlechter Laune, und dann schimpft er auf uns.«

Hildegard fand, daß das kein Ton wäre, in dem man zu seiner Tante spräche. Aber natürlich, Hans darf alles. »Ich begreife das nicht, aber Hans darf sich doch wirklich alles erlauben.«

»Das sind Dinge,« sagte Hasso lächelnd, »die eben überhaupt sehr schwer zu begreifen sind, liebe Schwägerin. Hans erlaubt sich allerdings immer ein bißchen viel, aber –«

Lori lächelte. Es war ein reizendes Lächeln, so voll von Liebenswürdigkeit und Humor. »Laß nur, Hasso, wir wissen schon, was kommen soll. Laß nur. Ich finde es auch absolut in der Ordnung, daß ein so ernster Mensch, wie du, einen schwachen Punkt hat. Gott sei Dank, sage ich immer, sonst wärst du ja völlig unverständlich.«

Die Geschwister schauten sich mit jenem Blick des Einverständnisses an, den Hildegard glühend haßte. Diese Blicke, so meinte sie, tauschten Beers nur unter sich. Es waren Blicke, mit denen Fernerstehende, selbst sie, die Schwägerin, völlig abgetan ward.

Indessen hatte die alte Frau von Beer mit Granier weiter ihr Gespräch über Birons geführt. Es war ein angenehmes Thema. Man konnte bedauern und zugleich sich freuen. Diese Leute waren wirklich von Herzen geliebte Verwandte. Aber was mußte sie hören. Mit Franz Birons Augen ging es so schlecht, daß er nicht einmal mehr lesen konnte. Und sie klagten dennoch nicht mit einem Wort. Nein, sie erzählten vielmehr mit Freude, wie tüchtig jetzt die Kinder sich zeigten. Wie die elfjährige Veronika sich bemühte, fließend die Leitartikel aus der Zeitung vorzulesen. Und selbst die um zwei Jahre jüngere Inge kam und bot ihre Dienste an. Die alte Dame war so gerührt, daß ihr die Tränen in den Augen standen.

Da sagte Hasso: »Übrigens, Lori, du könntest ein gutes Werk tun, wenn du deinen Freund Togena bätest, öfters einmal zu Birons zu gehen. So viel ich weiß, hat er kürzlich dort Besuch gemacht, denn Biron erzählte voll Freude davon. Er ist geradezu Musikenthusiast, und man kann schließlich sagen, was man will, aber ich selbst finde auch, daß Togena einer unserer bedeutendsten und auch angenehmsten Musiker ist.«

Es war, als sei Lori um einen kleinen Schein blasser geworden. Sie saß sehr gerade in ihrem Stuhl; die Hand, die die Gabel hielt, diese schöne weiße, schmale Hand, hatte eine kleine Bewegung gemacht, so daß der Teller klirrte. Einen Augenblick war sie still, nur einen einzigen kleinen Augenblick. Dann hoben sich die Schultern wie in verächtlicher Gebärde. Ihr Mund zuckte. »Wie sollte ich dazu kommen, ihm das zu sagen?«

»Aber Kind, wenn man so befreundet ist, wie du mit Togena!« rief Hasso aus.

»Ich habe deshalb doch absolut keinen Grund, ihm Verhaltungsmaßregeln zu geben.«

»Verhaltungsmaßregeln! Lori, eine Bitte oder ein Wunsch ist doch keine Verhaltungsmaßregel.«

In diesem Augenblick rief Hildegard: »Aber so viel ich weiß, spielt Josephine selbst sehr hübsch Klavier. Es ist doch eigentlich nicht notwendig, daß dieser Musikmensch dem Franz Biron vorspiele, wenn ihm seine Frau das besorgen kann!«

Man lächelte ein wenig diskret, ein wenig mokant, und Günther wurde rot und sagte rasch: »Davon verstehst du nichts, Hildegard. Sie ist nicht musikalisch,« fügte er wie entschuldigend hinzu, und die alte Frau von Beer sagte gütig: »Gewiß, sie ist nicht musikalisch. Wie soll sie dann auch begreifen, inwiefern Togenas Spiel so besonders schön ist. Ich kann so etwas auch nicht recht verstehen. Aber ihr alle, ihr seid ja doch sehr Musikliebhaber. Nun Lorichen, was machen denn deine musikalischen Abende? Sind sie immer noch so interessant? Ach, wenn ich denke, was du überhaupt für ein Leben hast, ein wirklich außergewöhnlich anregendes Leben. Wie freue ich mich für dich, mein liebes Kind! Ja, mein guter Fritz, wie freue ich mich für sie.«

Lori antwortete nicht, sie war immer noch merkwürdig blaß. Ihre Hände hatten wieder die ruhigen Bewegungen, obgleich die Gedanken in rascher Folge durcheinander liefen. Wenn Togena bei Birons Besuch machte, warum erzählte er ihr nichts davon? Warum? Lori sah die kleine, ein wenig zu volle Josephine vor sich stehen. Sie sah ihre Bewegungen, die Art, in Herzlichkeit, in fraulicher Würde die Hand zu reichen. Sie sah ihr schönes braunes Haar und die frischen Farben, ihre braunen gütigen Augen. Plötzlich schrak sie zusammen. Es war ihr, als hörte sie die Stimme jener Frau, die wunderschöne, klare tiefe Stimme, die wie Musik war. Damals, als Togena Josephine kennen lernte, hatte er aufgehorcht, als er diese Stimme hörte. Mit ihrem feinen Empfinden für diesen Mann, für jedes Gefühl, was diesen Mann beherrschte, hatte sie es bemerkt.

Sie runzelte die Stirn und versuchte den Gedanken als lächerlich von sich zu weisen. Aber er quälte, kam wieder. Er nahm sie so gefangen, daß sie nichts von der Unterhaltung der anderen vernahm. Nur als Hasso sich direkt mit der Frage an sie wandte, ob der musikalische Abend am Donnerstag wieder bei ihr stattfände, sagte sie kurz ja und versank dann wieder in das Schweigen.

Indessen hatte sich die alte Dame rings im Kreise umgesehen. »Will denn niemand mehr von dem Pudding?« fragte sie, »gar niemand? Hänschen, du auch nicht? Als Kind, weißt du noch, warst du ganz wild auf Süßigkeiten, und der liebe gute Großvater hatte immer die Taschen voll Bonbons. Weißt du noch? Ach, wie die Zeit vergeht. Als Günther klein war, leerte er einmal die Zuckerdose! Kind, Kind, du verdarbst dir nicht einmal den Magen. Und niemand will mehr vom Pudding? Nun, dann wollen wir ins andere Zimmer hinübergehen!«

Die Türen zur Wohnstube öffneten sich. Es kam eine Flut wundervoller Helligkeit in das immer ein wenig düstere Eßzimmer. Der freie Platz mit seinen frühlingsgrünen Bäumen, mit dem schönen warmen Sonnengold auf dem Rasen gab köstliches Licht in den einfachen Raum.

Hier standen all die Möbel von Frau von Beers Ausstattung. Das Sofa mit der geschwungenen Lehne, derb und haltbar, mit grünem Plüsch bezogen. Ein Paar gemütliche Sessel mit baumelnden Troddeln. An der Wand ein Rollbureau aus Nußbaum und eine hübsche kleine Chaiselongue, die aus älterer Zeit zu stammen schien, denn sie trug graziöse Linien, und ihr Bezug war von einem sanften, ein bißchen blaßgrünen Rips.

In diesem Zimmer stand alles in einer rührenden Ordnung und Akkuratesse. Und die beiden Rohrstühle an der Wand, die jetzt von Günther ergriffen wurden, um zu den Sesseln an den Tisch gereiht zu werden, schienen sich nur widerspruchsvoll von ihrem gewöhnlichen Platz zu trennen.

Man stand noch, und Fräulein von Wernheimb ging aufgeregt umher, weil sie wissen wollte, wann der Kaffee zu servieren sei. Da trat Hasso zu Lori. Seine Augen hatten einen harten Glanz, und um den Mund war etwas wie ein grimmiges Lächeln. Er sagte: »Ich bitte dich, mit mir in Vaters Stube zu kommen, Lori. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Lori schaute ihn an. »Und das kann in diesem Zimmer nicht geschehen?«

»Nein.«

»Eine Unterredung unter vier Augen? Also, so weit ich dich kenne, keine Annehmlichkeit für mich.«

»Für uns beide nicht, Lori.«

»Nun, und warum willst du sie haben? Ich kann dir im voraus versichern, daß sie ohne Nutzen sein wird. Sieh da, mein Gatte wendet schuldbewußt sein Haupt, wenn ich zu ihm hinüberschaue. Also er ist der Anstifter. Gut, mein Lieber, ich komme.«

Sie legte die Hand auf die Klinke und drückte sie nieder. Ihre Bewegungen waren langsam, wie unwillig, dann trat sie plötzlich rasch in den nebenliegenden Raum.

Es war ein stilles, kleines Zimmer. Die Sonne lag im schrägen Streif auf dem schmucklosen Schreibtisch mit seinem grünen Wachstuchüberzug, auf dem Armstuhl davor, blitzte im Glas des alten Bücherschranks und wob etwas wie einen kleinen Heiligenschein um die gerahmten Photographien an der Wand.

Sie hingen, symmetrisch geordnet, eine neben oder unter der anderen, je nachdem die Größe es verlangte. Die kleine Lori stand da im kurzen Kleidchen mit dem offenen, krausen Haar und Hasso als Baby, ernst, mager, auf dem Schoß seiner glückseligen jungen Mutter. Wieder Lori, sehr frisch und herb im Backfischalter mit einer allerliebst herausfordernden Miene. Und im ovalen schwarzen Rahmen, groß und ein bißchen geschmacklos aufgenommen, der gute alte Herr von Beer, der so gern einmal eine Flasche Wein mit Freunden trank und dann immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil das Geld kostete.

O, wie weit lag die Zeit.

Loris Kleid rauschte unwirsch. Es war, als wollte es sagen: Hier gehöre ich nicht hin. Hier gehörst du, Lori Granier, auch nicht mehr hin. Und dies Empfinden des Losgelöstseins machte Lori plötzlich fast bescheiden. Sie setzte sich und sah an ihrem Bruder vorbei in die Sonne draußen.

Die Unterredung begann.

Da war erstens die Erziehung des kleinen Bubi Granier. Der Junge war ein zartes Kind, er war noch keine drei Jahre alt. Er war der Abgott seines Vaters. Und Lori fuhr in all das zarte Sorgen, in all die unerhört weiche Liebe des Vaters mit harten Erziehungsprinzipien herein.

Hasso sprach freundlich davon, ein wenig ironisch.

»Wenn du siehst, Lori, daß dein Kind sich bei dem Tragen von Wadenstrümpfen erkältet, so gib es doch auf,« sagte er zuletzt.

Sie erwiderte: »Seine zarte Konstitution, mein lieber Hasso, soll eben gerade dadurch abgehärtet werden.«

»Lori, wenn du aber selbst siehst, wie dein Mann sich um den Jungen ängstigt!«

»Er soll sich nicht ängstigen, das ist schwach und verächtlich. Ich hasse es an ihm. Hasso, gerade das hasse ich.«

»Du wirst es mit dem Haß nicht ändern.«

»Dann soll der Junge wenigstens stark und derb werden.«

»Das Kind hat keine Anlage dazu.«

»Nein, weiß Gott nicht. Das Kind ist nicht im mindesten mein Kind. Das Kind ist der Enkelsohn der alten Frau Granier, die auf ihren Goldsäcken sitzt und sich im Winter niemals von ihrem wollenen Schal trennt. So ist das Kind. Von mir, Hasso, hat der kleine blasse, aufgeschwemmte Kerl nicht einen Zug. Er ist ein häßliches Kind, ich weiß es. Kranke Kinder sind meistens häßlich. Und ich liebe alles Kräftige, Gesunde. Ich vergöttere das Baby der kleinen Frau von Pachoix, das plump and rosy, wie sie sagt, in seinen Kissen liegt. Und ich werde es nicht aufgeben, wenigstens zu versuchen, meinen Jungen durch Abhärtung zu einem ordentlichen Kerl zu machen.«

»Lori, wenn man dich sprechen hört, so könnte man glauben, daß du ein vollkommen herzloses Wesen wärst. Ich kenne dich. Ich weiß, wie du im Inneren fühlst. Aber glaube mir, du großes Kind, nicht jeder kennt dich so gut. Du wirst mißverstanden werden.«

»Ich spreche sonst mit niemanden über mein Kind, Hasso. Ich schweige immer, wenn andere Mütter reden.«

»Lori, sei doch verständig. Gib in Kleinigkeiten nach. Laß den Jungen lange Strümpfe tragen. Er erkältet sich wirklich jedesmal. Und diese entsetzlich kurzen Höschen! Lori, gib doch deinem guten Manne zuliebe nach. Fritz ängstigt sich halb tot um sein Kind.«

»Ich soll also ruhig zusehen, wie Bubi verweichlicht wird.«

»Ja, Lori!«

»Hasso, ist das dein Ernst?«

»Es ist mein Ernst, wenn ich dich bitte, hier nachzugeben. Du erreichst nichts mit deiner Abhärtungsmethode.«

Lori sah wieder nach dem Fenster. Sie hatte die Stirn gerunzelt. Sie hatte die Zähne fest wie im Krampf zusammengebissen.

»Du meinst, daß die Unkultur der Familie Granier so groß ist, daß auch ihr Sprößling sich nicht an Kultur gewöhnen kann,« sagte sie endlich.

»Etwas Ähnliches wenigstens. Ich meine, wir, Günther und ich, sind übrigens auch zwei ganz stramme Leute geworden ohne Wadenstrümpfe.«

»Aber Hasso, man muß seine Kinder doch von den Wohltaten der neueren Hygiene profitieren lassen.«

»Wenn die Kinder es vertragen, ja. Lori, gib nach, gib doch nur einmal nach, damit Fritz nur einmal sieht, daß du auch nachgeben kannst.«

Sie senkte den Kopf lächelnd, verächtlich. »So sage ihm, daß ich nachgebe. Und – ist dies alles, was du mit mir reden wolltest?«

Hasso schüttelte den Kopf. Er schwieg, aber aus seinen Mienen ersah sie, daß dies nur wie ein Vorgefecht war. Der Kampf sollte erst kommen. Ein ernster Kampf.

Und wieder schürzte sie die Lippen verächtlich. Leise, halb scherzend, um dem Ernst mit Humor die Spitze gleich im Anfang abzubrechen, sagte sie: »Das schwere Geschütz vor, bitte. Ich stehe ganz zur Verfügung.«

Hasso hob den Kopf. Er sah seine Schwester an.

»Ich bitte dich, Togena nicht mehr so oft als bisher dein Haus zu öffnen.«

»Du bittest? Das heißt, Fritz beschwerte sich.«

»Ich bitte, Lori.«

»Nun, und wenn ich dir sage, daß Togena so wie so künftighin nur noch Dienstags und Freitags zur Klavierstunde kommt!«

»Ist das dein Ernst, Lori?«

»Ich lüge nicht.«

»Sage mir, was dahintersteckt.«

Lori lächelte spöttisch. »Mein Lieber, du verkennst Togena. Er ist nicht im mindesten ein Don Juan. Er ist einfach nur ein Künstler, dem seine Kunst im Vordergrunde steht. Ich, Lori Granier, bin ihm nichts. Er opfert nur diese beiden Nachmittage, weil ich bat – und gut bezahle.«

»Und was empfindest du?«

»Ich spiele gar keine Rolle dabei.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht empfinde ich es als ein Mißgeschick, daß ich Clemens Togena so wenig zu bieten vermag. Vielleicht – darüber übrigens bin ich wohl keine Rechenschaft schuldig.«

»Und warum wolltest du Togena von Birons fernhalten?«

Sie verlor einen Moment die Ruhe. Ihre Augen wurden starr, voll Haß, voll Empörung, dann siegte ihre Klugheit. »Ich wollte ihn nicht fernhalten – keineswegs.«

»Und doch wolltest du ihm nicht sagen, wie sehr er Biron durch sein Spiel erfreut.«

»Franz Biron wie auch Josephine haben selbst einen Mund, mein Lieber; sie können es sagen.«

Schweigen.

Dann sagte Hasso: »Man muß dir zugestehen, Lori, du hast eine gute Art, jeden Streich zu parieren. Wahrhaftig, und ich komme nun zu dem schwersten Punkt der Unterredung.« Er lächelte wieder sein grimmiges Lächeln. Er strich sich mit der Hand über das Kinn. »Das ist deine Verschwendungssucht.«

Lori senkte den Blick. Nicht schuldbewußt. Sie schaute einfach nur an der wundervollen Schönheit ihrer Toilette herab. Ein Tuchkleid, weiß, einfach bis zur Raffiniertheit, am Halse nur ein schmales Band aus türkisblauem Samt.

»Fritz klagt, ich verschwende?« sagte sie lächelnd, fast geduldig, ergeben, wie ein Kind, das schuldlos getadelt wird.

»Fritz klagt nicht nur. Wir sehen es alle. Jawohl, selbst ich sehe es, Lori. Und diese unerhörte Verschwendung muß aufhören.«

»Also Fritz klagt, daß ich ihn ruiniere.« Sie betonte das ich.

»Er zeigte mir nur die letzten Rechnungen für deine Toilette.«

Sie sah ihn an zwischen halbgeschlossenen Lidern, schadenfroh, lüstern, spöttisch.

»Vielleicht waren es doch nicht alles meine Rechnungen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»So, wie ich es sage.«

»Das heißt –«

»Das heißt, daß der brave Fritz Granier eine junge Dame aushält!« Das kam bereitwillig, hastig von ihren Lippen. Der Mann mit dem grimmigen Lächeln hörte, daß sie triumphierte.

Er sagte: »Woher weißt du das?«

Sie blühte wieder in Schadenfreude. »Ich weiß es.«

Aber Hasso Beer war doch stärker als sie. Jetzt kam ein Keulenschlag. »Glaubst du wirklich, Lori, daß Fritz Granier fähig ist, mir die Rechnungen seiner Geliebten als die deinen vorzulegen?«

Schweigen. Sie senkte den Kopf. Sie senkte ihn und errötete. Und Hasso, der Mitleidslose, ersparte ihr nichts. Er sagte noch einmal: »Dazu ist er nicht fähig, meine Liebe, o nein.«

Da sprang sie auf. Sie stand vor ihm, schön, mit bösen Augen, und klagte plötzlich heiß und heftig ihren Mann an, ihn selbst an. Niemand gäbe ihr recht. Niemand sei ihr Freund. Sie würde verhöhnt, betrogen. Ein anderer Bruder handelte in solchem Falle –

Hasso streckte die Hand wie gebietend aus. Das grimmige Lächeln schwand, es wich einem Ausdruck von Zorn, der langsam in Trauer überging, in eine verächtliche Trauer. Dann fragte er: »Was wolltest du sagen? Ein anderer Bruder würde – nun was würde er?«

Sie schwieg. Sie wandte sich. Heiß stieg die Scham in ihr hoch. Ganz plötzlich empfand sie, wie kleinlich, wie überaus kleinlich und erbärmlich sie geredet hatte. Sie hätte weinen mögen vor Scham.

Er stand jetzt auch auf. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und strich leise über ihr Haar. Dabei sprach er: »Moral, mein Kind, ist nicht immer der enge Begriff, den wir landläufig kennen. Wer es sich leisten kann, darf die Moral auch dehnen. Jener törichte Strick, den die Menschen um andere ziehen, Lori, den wirst du doch nicht Moral nennen. Du wirst doch wohl verstehen, wenn ich sage: Moral ist das Recht dessen, der ein Recht zu seinem eigenen Recht hat.

»Kind, wenn Fritz Granier seiner Gattin untreu ist, so hat allein die Frau sich das nach Lage der Dinge zuzuschreiben. Denn er vergöttert seine Frau, und sie ist ihm nicht einmal eine gute Mutter seines Kindes. Sie ist der Egoismus in Person, dieser ganz und gar verächtliche, dessen nur Weiber fähig sind, der nicht im mindesten die Größe des echten Egoismus in sich trägt.

»Lori, höre mich, du bist mein Liebling gewesen von klein auf. Ich war stolz auf dich. Ich war stolz auf deine Schönheit, deine Gaben. Jetzt sehe ich, wie du dich selbst in den Schmutz ziehst. Ich sehe, wie du in der Genußsucht aufgehst, wie du nichts bist als ein ästhetisch schönes Bild. Und heute sehe ich dich auch noch kleinlich. Lori, Lori!«

Sie stand immer noch abgewandt. Ihre schmalen Schultern zuckten, er sah, daß ihr das Weinen nahe war. Und nun tröstete er. Er tröstete wie der große Bruder die kleine Schwester.

»Komm Kind, wir vergessen alles. Wir vergessen. Und denke doch, wie gut ich es meine. Komm Lori, wir gehen hinüber zu den anderen, das bringt dich auf andere Gedanken. Sei verständig und denke an das, was ich dir sagte, kleine Lori, komm.« Und wie er sah, daß sie sich beruhigte, öffnete er die Tür und trat mit ihr in das Wohnzimmer.

Fräulein von Wernheimb brachte gerade sehr geschäftig den Kaffee herein. Sie lächelte freundlich und voll Stolz, denn der Kaffee war schön schwer und ohne die geringste Spur von Grund geraten, und dann erhielt sie immer ein Lob von Hans, der ihr besonderer Liebling war.

Die anderen saßen ein bißchen müde und gelangweilt im Kreise um den Tisch, und nur die alte Frau von Beer strahlte im Glück, ihre Kinder um sich zu haben. »Nun, Hassochen, komm, setz' dich her. Was hattest du denn mit Lori zu bereden, sag' doch,« fragte sie neugierig, ein klein wenig schüchtern, weil sie sich aufdringlich vorkam.

»Ach, nichts, Muttchen, es war nichts Besonderes. Lori und ich, weißt du, wir hielten immer gute Freundschaft.«

»So!« sagte Hildegard spitz, »ich fand, in letzter Zeit hattet ihr genügend Meinungsverschiedenheiten.«

»Hatten wir? Nicht daß ich wüßte.«

Und Günther rief dazwischen: »Nein, das ist wahr. Die beiden haben immer zusammengehalten. Ich stand allein, schon als kleiner Junge.«

»Als kleiner Junge,« rief die alte Frau von Beer, »hingst du überhaupt an meinem Rock. Ach Gott, ja, was war der Günther für ein zärtliches Kind und so besorgt um mich. Die anderen zwei, die waren immer heidi. Hasso natürlich nicht um des Vergnügens willen, der saß bei seinen Büchern, aber Lori. Lori, mein Liebling, weißt du noch, wie du nicht aufzufinden warst, und Vater wollte schon zur Polizei gehen, um dich suchen zu lassen, und dann fanden wir dich in unserem eigenen Garten, und du wolltest dich totlachen über unsere Angst.«

Granier war aufmerksam näher gekommen. Er hatte eine leidenschaftliche Vorliebe für Geschichten aus Loris Kindheit. »War sie so? War sie wirklich so ungezogen?« fragte er. Und er dachte dabei an seine eigenen stillen Kinderjahre, wie die Eltern noch in den beiden kleinen Zimmern wohnten, und er zu irgendeinem Lustigsein niemals Mut fand. Lori, die wundervolle Lori, hätte sich auch in seiner Lage um nichts gekümmert, um keine Sorgen und um keine Zukunft. Die wundervolle Frau fragte überhaupt niemals danach, was andere taten und dachten. Sie war stolz für sich allein, sie war die Verkörperung des Egoismus. Das war ihre Stärke, das tat weh, aber es war anbetungswürdig.

Verstohlen schaute er auf seine Frau, die abgewandt am Fenster stand. Er dachte schuldbewußt an seine Klagen, die er Hasso gegenüber laut werden ließ. Er hätte vielleicht doch nichts sagen sollen –. In diesem Augenblick fühlte er Hassos Blick auf sich gerichtet. Er schaute ihn an. Der Schwager lächelte, jenes ein wenig ironische und dennoch gütige Lächeln. Er nickte. Dann schien das Gespräch also gut abgelaufen zu sein. Gott sei Dank.

Und er lauschte nun wieder ruhig den freundlichen Worten der alten Frau von Beer, die erzählte, daß Lori schon im Steckkissen ein Wunder von Eigensinn war. Und die drolligen Antworten, die sie gab. Und dann die Schuljahre, wie immer Beschwerden über Beschwerden kamen.

»Ich verstehe das nicht,« sagte Hildegard; »bei uns zu Haus und auch bei meinen anderen Bekannten wird doch so etwas nicht erzählt. Das ist doch kein Ruhm.«

Und sie verstand noch weniger, weshalb man sie allgemein dafür auslachte.

»Ja, Lori, Lori!« rief sie, »Lori soll immer etwas Besonderes sein.«

»Ist sie ja auch, Tante Hildegard,« sagte Hans.

»Und inwiefern, mein Lieber?«

»Weil sie einfach nur das tut, was sie will, und weil sie auch damit durchkommt.«

Hildegard wurde erregt. »Wenn ich nur das tun wollte, was mir paßt, ach, du liebe Zeit, wo blieben dann mein Mann und meine Kinder. Nein, hier ist eben alles verkehrt. Wo bleibt denn das Pflichtgefühl, wenn wir nur das tun, was uns paßt!«

Hasso lächelte fein. »Wenn nun ein Mensch nur die Pflicht hat, schön und ästhetisch zu sein, und die Pflicht gewissenhaft ausfüllt, was dann, Hildegard?«

»Eine Pflicht, schon und ästhetisch zu sein! Nein, so etwas habe ich doch auch wirklich noch nicht gehört! Günther, hast du verstanden? Muttchen, was sagst du dazu? Muttchen, sprich doch.«

Die alte Frau von Beer sah sich verlegen um. »Ach, laß sie doch reden, Hildegardchen, sie necken dich ja doch nur. Weißt du, wir beide wollen uns lieber miteinander über die Predigt heut' unterhalten. Von dem anderen verstehen wir doch nichts. Ich muß sagen, daß mich heut' der mir sonst so liebe Pastor Frank beinahe abgestoßen hat. Nein, man geht doch in die Kirche, um erbaut zu werden. Aber diese Art –«

Fräulein von Wernheimb fiel erregt ein, denn sie hatte schon den ganzen Tag auf eine Aussprache über den Prediger gelauert. Auch sie war abgestoßen. Ja, abgestoßen. Diese moderne Art. Man verstand das eben nicht mehr.

So kam die Unterhaltung wieder in ruhige Bahnen, und als um fünf Uhr traditionsgemäß Lori aufbrach, sagte die alte Dame beim Abschied gerührt und zärtlich: »Ja, meine Kinder, wie schön sind diese Sonntage. Wie freue ich mich, wenn ihr hier bei mir und um mich herum sitzt und euch so gut versteht. Jeder ist verschieden, das ist natürlich. Aber darauf kommt es ja auch gar nicht an. Auf Wiedersehen, mein Lorichen, mein geliebtes Kind, guten Abend, Fritz. Schickt mir nur bald den Bubi wieder einmal her. Das Kind ist zu lieb. Ja, ja, ich schwatze und halte euch auf, nicht wahr. Guten Abend und vielen Dank, daß ihr kamt.«


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