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XV.

 

30. Januar.

Urteil über Josephine, die Witwe:

Ihre Haltung ist gut, fast edel. Sie hat ein Lächeln, das ist wie das verstehende Zunicken eines von Herzen guten Menschen. Sie hat Bewegungen, die nicht graziös genannt werden können, aber so harmonisch sind, daß sie angenehm berühren.

Ihre Trauer ist echt. Ihr Wesen ist ausgefüllt davon, bietet keinen Raum für andres. Ihre Trauer ist so, daß man sie darum beneiden könnte.

Aber Kleinigkeiten stören: Die Breite ihrer Hüften, die Ungepflegtheit ihrer verarbeiteten Hände. Eine flache Linie am Busen.

Es sind kleine Unschönheiten, aber wenn man sie dem, der diese Frau liebt, ständig wiederholt, so wird er sie wie Fehler sehen; denn er ist schwach. Das Urteil anderer ist deshalb stark in ihm.

Bin ich klar genug gewesen? Habe ich aufrichtig genug gelobt? Ich muß mir, so wehe es mir tut, auch ihre Vorzüge einprägen, denn Vorzüge lassen sich durch kleine Nuancen banalisieren.

Das Schreckliche, das ganz Unerwartete, das über mich hereinbrach, hat mich fast zu Boden geworfen. Aber meine zähe Natur hielt dennoch stand. Nur der Schreck wirkte wie ein Schlag.

Ich erhole mich, langsam zwar. Ich erhole mich aber, weil ich gesund sein will. Ich muß die Zeit, die sie in Braunshagen weilt, benutzen.

Was für Überredungskünste hat es gekostet, um diese Frau aufs Land zu bringen. Und ich, ich allein habe es vermocht. Meinen Spitzfindigkeiten konnte sie nicht standhalten; denn sie war schwach vor Schmerz, und ich war stark, weil ich es sein mußte.

Und hätte ich sie nicht so häßlich und verletzend gefragt, was sie in Berlin zurückhielte, so wäre sie heute noch nicht fort.

Die Beerdigung ist vierzehn Tage her. Ich bin immer noch nicht über den Eindruck fortgekommen.

Wenn ich sehr nervös bin, so daß ich nicht mehr klar denken kann, sehe ich quälend genau den öden Kirchhof im Schnee und das blasse Kind, das mit so schmalen, hilflosen Händen in die Luft griff.

Dies Kind müßte man allein um der Bewegung willen lieben.

O, warum bin ich Mutter eines so plumpen, häßlichen Geschöpfes, das mich mit jeder Äußerung, mit jedem Tun und Lassen an die Familie der Granier erinnert. Warum kann ich nicht ein Kind haben, das mir nahe steht.

Ein Seufzer, den ich als körperlichen Schmerz empfinde.

 

31. Januar.

Erkenntnis: Das Fräulein von Beer war nicht viel wert; aber Frau Lori Granier taugt gar nichts. Wenn sie wenigstens dumm wäre, dann hätte sie eine Entschuldigung.

 

3. Februar.

Telephongespräch mit Hasso:

Er: »Ich erkundigte mich also nach Togena. Er ist tatsächlich krank. Bronchialkatarrh; er fiebert. Leider ist die Pflege sehr mangelhaft.«

Ich: »Wie können wir helfen, Hasso?«

Er: »Es wird das beste sein, wir telegraphieren an seine Verwandten, damit ihn jemand pflegen kommt –.«

Ich: »Er hat keine Verwandten.«

Er: »Er hat mir früher aber einmal von einer ganzen Anzahl Geschwister erzählt. Da wird doch jemand abkömmlich sein.«

Ich: »Er steht sich nicht mit ihnen. Ich halte es für gewagt, einen Kranken mit unsympathischen Menschen zu belästigen. Jedenfalls müßten wir ihn fragen.«

Er: »Aber so kann er unmöglich liegen. Er ist ganz einsam.«

Ich: »Kann seine Wirtin nicht für ihn sorgen?«

Er: »Nein, er hat nur eine Aufwartefrau.«

Ich: »Dann wird er ins Krankenhaus müssen.«

Er: »Aber er ist nicht so krank, Kind. Er leidet einfach an einem Bronchialkatarrh. Wenn er aber immer aufsteht und sich selbst alles holen muß, so kann er eben sehr krank werden.«

Ich: »Ich würde ihn ja selbst gern pflegen, lieber Hasso, aber das ist doch nun einmal in der heutigen Zeit nicht Sitte.«

Er: »Vielleicht könnt ihr ihn ins Haus nehmen?«

Ich: »Wir müßten hören, was Fritz sagt.«

Er, sehr rasch: »Gewiß, das müßten wir. Und du wärst einverstanden?«

Ich: »Natürlich! Togena war in der letzten Zeit sowieso hier wie Kind im Hause. Aber ich würde dich bitten, lieber Hasso, das in die Wege zu leiten. Bei mir könnte es interessiert aussehen. Ich mache dich auf ein Gespräch aufmerksam, das wir ehemals hatten.«

Er, entrüstet und zugleich beschämt: »Ja, damals, wir haben seitdem unsere Ansicht geändert. Es ist nett von dir, daß du dir die Mühe machen willst. Ich danke dir.«

Ich: »Keine Ursache. Grüße Freya und Hans.«

Schluß.

Ich sitze immer noch auf demselben Stuhl, auf den ich mich nach dieser Unterredung schleppte.

 

8. Februar.

Unser eines Fremdenzimmer hat den Blick auf den Garten. Es ist nicht sehr groß, aber die Form ist gut. Ein Fenster nur. In einer Ecke eine Tür. Es hat eine hellgelbe Tapete und die Möbel mit hellem Kretonne bezogen. Es hat nicht viele Möbel; ein Bett, einen Waschtisch, ein kleines Sofa, einen Tisch, drei Stühle, einen Toilettentisch, Schrank, Kommode.

Es ist sehr hell und luftig, und es riecht wie in den Zimmern auf dem Lande.

Dort liegt Togena.

Ich gehe von Zeit zu Zeit zu ihm und sehe nach ihm, vielleicht drei-, viermal am Tage. Dann bleibe ich niemals länger als eine halbe Stunde. Er bittet jedesmal, ich möchte länger bleiben, aber ich habe dann immer hunderterlei vor.

Manchmal sage ich nur: »Ich muß fort!« und sage nicht wohin. Ich bin dann eilig und zerstreut.

Wenn ich nach langer Zeit wiederkomme, fragt er unruhig und mit fiebernder Nervosität, wo ich war.

Dann sage ich: »In der Stadt,« oder: »beim Schneider.«

Übrigens ist er leider, leider schon beinahe gesund.

Jetzt gehört er mir, ganz und gar mir. Niemand, nur ich und die Mädchen, der Diener, kommen in seine Nähe. Ich bin ruhig und glücklich.

Es folgt daraus, daß ich vielleicht allein an einer krankhaft gesteigerten Eifersucht leide, an dem Gefühl, mich für verschmähte Liebe rächen zu wollen. Wenn ich C. T. sehe, ihn geborgen bei mir in meinem Fremdenzimmer weiß, so schweigt alles in mir. Ich zittere nicht in dem mir selbst verächtlichen Verlangen. Ich empfinde nur das Glück, für diesen Mann sorgen und denken zu dürfen.

Eine Liebe der Sinne würde doch wohl versuchen, ihn sich zu eigen machen zu wollen. Das Verlangen nach Rache würde versuchen, ihn jetzt schon zu beugen.

Neue Erkenntnis: Eine Frau, die liebt, liebt in ihrem innersten Empfinden mütterlich. Ich liebe in dieser Zeit des Sorgens für ihn, Togena mütterlich. Sein körperlicher Besitz reizt mich nicht; aber sein Besitz, der Besitz seiner selbst, Körper und Geist, der wird mir unentbehrlich.

Und damit kommt eine zweite Erkenntnis: ich werde nicht eher zur Ruhe gelangen, als bis ich Togena zum Gatten habe.

Die andere darf ihn nicht besitzen; ich will es nicht. Nicht nur mir wäre er verloren, sondern auch der Welt. Denn sie würde sich mit ihren beiden Kindern an ihn hängen und ihn herabziehen. Sie ist ziemlich mittellos, und er erwirbt nur gerade das, was er für sich braucht. Aber ein Eheleben kostet, wenn es nur ein wenig bequem sein soll, eine nicht geringe Menge Geld. Ein Eheleben mit beschränkten Mitteln ist der Tod seiner Kunst, denn seine Kunst ist zart, zerbrechlich wie Glas. Es ist die Kunst eines Empfindsamen. Der Geruch nasser Windeln und täglich Kohl auf dem Tisch richtet das Talent zugrunde.

Ich dagegen bin die rechte Frau für ihn. Wenn ich mich scheiden lasse, muß das kleine Mädchen in der Barbarossastraße der gute und saubere Grund sein. Und die Rente, die mein Gatte mir geben muß, werde ich nicht zu knapp bemessen. Dafür wird er, ich werde großmütig sein, sein Kind behalten dürfen. Kinder sind nichts für fein empfindende Künstler. Sie stören zum mindesten jede Stimmung.

Ich aber werde neben dem Glück, seine Gattin zu sein, auch das Glück empfinden, ihn gebeugt zu haben.

Ich werde triumphieren und doch ihm alles sein, Gattin, Mutter, Geliebte, Freundin. In Sorge um ihn werde ich aufgehen und doch eigenes Leben leben auf meine Art.

Wer stark ist, kann sein Schicksal selbst leiten.

 

Nachmittags.

Ich war bei ihm. Er hielt meine Hand fest und wollte mich nicht fortlassen. Er bat wie ein Kind: »Nur bleiben, nur eine kleine Zeit noch bleiben.« Aber ich nahm meine ganze Energie zusammen und ging.

Heute, zum erstenmal, empfand ich – Schicksal, wie soll ich dir danken –, daß seine Kühle zu weichen beginnt.

 

9. Februar.

Eine Abhandlung über das, was wir »ein Verhältnis« nennen:

Zwei Menschen, die sich kennen, glauben sich voneinander gegenseitig geliebt. Die Frau ist lüstern, der Mann empfindet, daß eine Abwechslung oder eine Lösung des vorigen Verhältnisses am Platze sei.

Rendezvous.

Es verläuft normal, man wird sich interessant, man strebt nach mehr.

Lüsternheit hier, Entgegenkommen dort. Noch ein Rendezvous.

*

Nachdem man sich besitzt, ist man schon bald ernüchtert. Das Unangenehme der Begleitumstände schöpft unsauberes Wasser auf die Gefühle.

Hier dies, dort jenes. Man lügt und betrügt. Man demütigt sich. Man erlebt Enttäuschungen. Man will zueinander, wenn jedes Zueinanderkommen unmöglich ist. Man hat sich satt, wenn man sich sieht.

Man will ein Ende machen.

Aber nein, der andere würde leiden. Man macht kein Ende. Man fühlt sich absolut gemein und elend und sucht unbewußt schon nach dem Trost bei einem anderen usw. Dieselbe Geschichte von vorn.

Ich jedenfalls habe keine Lust, mich in so unerquickliche Zustände zu begeben.

 

10. Februar.

Er ist aufgestanden.

Ich sorge für ihn, wie eine Mutter nicht besser sorgen kann. In diesem Sorgen bin ich glücklich, ausgefüllt.

Gebt einer Frau ein Kind, das nach ihrem Herzen ist, und sie ist glücklich.

Wir sitzen zusammen im Zimmer am Kamin, zumeist sitzen wir drunten im Musikzimmer, weil wir daran gewöhnt sind; aber er besucht mich auch oben in meinem kleinen Salon.

Er klopft an und tritt ein.

Noch etwas matt ist er, aber seine Augen blicken ruhig. Er ist blaß wie immer, die Hände haben die Bewegungen, die ich liebe.

Er fragt: »Störe ich?«

Ich antworte: »Durchaus nicht.«

Er geht im Zimmer hin und her und beschaut meine Sachen; oder er facht das Feuer im Kamin an und legt neue Kloben darauf. Er spielt mit dem Kamin wie ein Kind. Ich schreibe ruhig meinen Brief oder mein Tagebuch fertig.

Er kommt zu mir und fragt: »Was ist das?«

»Mein Tagebuch,« antworte ich.

Er lacht und sagt, er hätte nie geglaubt, daß ich ein Tagebuch schriebe; es müßte interessant sein; er möchte es lesen. Ich verschließe es in den Schub, der drehbar ist und den niemand aufzumachen versteht.

Wir setzen uns in die kleinen Stühle, die am Kamin stehen.

Draußen ist es sehr kalt. Die Fenster haben Eisblumen. Man sieht nur etwas Weißes, Frostiges, das ist der Garten. Man hört die Wagen knirschen und die Autos blöken. Man hört rasche, hart aufgesetzte Fußtritte.

Es dunkelt. Ich zünde die Lampen an. Wir warten auf den Tee; wir freuen uns beide auf den Tee.

 

11. Februar.

Ich habe ein Klavier in meinem Zimmer. Es klingt ein bißchen weich, aber gut.

Togena spielt mir vor. Er spielt alles, was ihm gerade in den Sinn kommt. Sein künstlerisches Empfinden verfeinert sich mehr und mehr, ich fühle es. Er selbst sagt, daß er nirgends so zum Komponieren aufgelegt sei wie in meinem Zimmer.

»Das macht der Duft und die Schönheit und Ästhetik, die mich umgibt,« sagt er lächelnd.

Ich fühle, daß mein Herz klopft. Ich fühle, daß ich es immer mehr diesem Mann und seiner Kunst schuldig bin, ihn an mich zu fesseln.

Er spielt wundervoll. Es ist ein Genuß, ihn zu hören. Er selbst genießt auch sein Spiel.

Vielleicht wird er der größte Künstler unserer Zeit. Er ist ein Mensch, der sich spät entwickelt. Was an mir liegt, soll geschehen, daß seine Kunst einen Höhepunkt erreicht. Glaube macht stark. Ich glaube an ihn.

 

13. Februar.

Er schrieb einen Brief an Josephine. Leider war es mir nicht möglich, den Brief, ohne Verdacht zu erregen, an mich zu bringen. Ich sagte: »Soll ich den Brief expedieren lassen?«

Er antwortete rasch, fast gereizt: »Ich will Sie nicht bemühen. Der Diener kann ihn nachher mitnehmen.«

Morgen oder übermorgen kehrt er in seine Wohnung zurück. Er ist gesund.

 

15. Februar.

Ich bin nicht mehr wie eine Mutter, die ihr Kind hat fortziehen lassen. Ich bin wieder wie eine Geliebte, die sich fanatisch sehnt.

Wohin führt das? –

Wir machen wieder Gesellschaften mit. Länger als sechs Wochen wollten wir bei dem immerhin ferneren Verwandtschaftsgrad nicht trauern. Es ist besser für mich, wenn ich ausgehe und mich amüsiere. Die Zeit der Ruhe und Sicherheit hat mich doch moralisch so weit gefestigt, auch körperlich gestärkt, daß ich die Sehnsucht nach C. T. in gesunder, natürlicher Form empfinde.

 

1. März.

Wetterumschlag. Wir haben Frühling. Draußen steht mein kleiner Junge bewundernd vor den ersten Schneeglöckchen. Ich hätte sie sicher nicht bewundert als Kind, sondern abgerupft. Natürlich wird Fritz sich nun einbilden, daß er ein großer Naturwissenschaftler wird. So wie er vor einem Jahre schon den Kunsthistoriker in dem Jungen sah, weil er sich einmal eine halbe Stunde die Sixtina anschaute.

Mich macht der Wetterumschlag nervös. Ich vertrage Frühlingsluft nicht.

Und dann – zu Ostern will Josephine wiederkommen.

Kurze Notiz: C. T. bat mich, mit ihm zu Birons Grab herauszufahren, um nach dem Rechten zu sehen und es zu schmücken.

Übrigens war das Fest bei Exzellenz Bärenclau sehr amüsant. Exzellenz selbst hat eine große Vorliebe für mich. Er betrachtet mich zärtlich wie kostbares Porzellan. Diese Zärtlichkeit steht ihm ausgezeichnet. Er würde mich am liebsten wie das wertvolle Stück einer Sammlung unter eine Glasglocke stellen; natürlich angezogen, denn meine Kleider gefallen ihm besonders.

 

6. März.

Leider ist man manchmal nichts anderes als ein gehetzter Mensch. Atemlos kommt man vom Schneider heim. Atemlos ißt man. Atemlos kleidet man sich um und quält die Jungfer dabei. Atemlos stürzt man zum five o'clock, atemlos kehrt man heim, wechselt wieder die Garderobe, empfängt Gäste, lacht, plaudert; sinkt atemlos zu Bett. Dann kommt man zu Atem, aber zu keinem Schlaf. Ich habe mich auf zwei Tage ins Bett gelegt, damit meine Nerven sich nicht wieder in jenen verzweifelten Zustand hineinhetzen. Somit sehe ich C. T. zwei Tage nicht.

Aber ich bin ruhig.

Ich liege im Bett, und das Fenster steht auf. Eine warme Luft kommt herein, sie erinnert mich an Italien. Ich liebe dies Land nicht, aber es ist so angenehm und beruhigend, daran zu denken und sich danach zu sehnen. Der Sehnsucht steht keine Unerfüllbarkeit im Wege, also ist es nur die Sehnsucht einer Stimmung.

Die Sehnsucht, hervorgerufen durch die Luft und ein unglaublich gutes Buch, das ich jetzt gerade lese: Heinrich Mann »Die kleine Stadt«. Nur der fortgesetzte Dialog ermüdet, rinnt monoton. Und die wundervolle Tragik der »Flora Garlinda« geht fast verloren in einem Wust von anderem, das kleiner ist und sich, fast erstickend, breit macht. Vielleicht ist es Absicht des Dichters, eine Vornehmheit, Zurückhaltung. Ich bewundere das Buch und langweile mich manchmal. Trotzdem ist kein Grund zur Langeweile, nur die Eintönigkeit fordert sie heraus.

Vielleicht hätte ich doch Lust zum Reisen. Ich blieb noch nie den langen Winter daheim. Fritz wundert sich schon, er läßt Andeutungen fallen, über die ich lache. Ich glaube, er denkt, ich hätte ein Verhältnis mit Bärenclau.

An Florenz denke ich – Portofino – Rom –.

Hinter jedem Namen müßten sechs Gedankenstriche stehen.

Es ist hübsch, im Bett zu liegen und gemächlich zu denken.

Es ist hübsch, in den Gedanken umherzureisen.

In Wirklichkeit bleibe ich daheim.

 

24. März.

Ende März, Lori Granier!

Am 1. April wird Josephine den Umzug aus der Hardenbergstraße in die beschränkte Dreizimmerwohnung des Gartenhauses draußen in der Uhlandstraße vornehmen.

Ich hatte im Innersten gehofft, sie würde Berlin verlassen. In all meinen Briefen war deutlich von dem teuren und unruhigen Berlin die Rede.

Aber sie sagt, sie wollte dort sein, wo ihres Mannes Grab ist, wo sie ihre Bekannten hat und die Kinder ihre Freundinnen besitzen. Auf dem Lande bei ihrem Bruder sei kein Platz.

So sagt sie, und ich glaube ihr nicht. Ich werde wieder kämpfen müssen.

Ich habe das Kämpfen so satt. Der Frieden war so schön, und es war Ruhe in mir. Ich war beinahe ein glücklicher Mensch.

C. T. kam zu mir und saß bei mir und erzählte mir. Er sprach niemals von Birons. Nur einmal sagte er ganz unmotiviert: »Inge ist ein eigenartiges Kind.«

Nichts weiter. Ich fragte auch nicht, weshalb er das sagte. In mir lebte deutlich eine brave, gute Zukunft:

Eine ganz einfache Etagenwohnung, in der ich mit ihm leben würde. Wir würden uns vielleicht ein wenig einschränken müssen, aber er hat gute Einnahmen, und ich werde vermögend sein. Ich denke an die Realitäten, ganz genau male ich mir alles aus. An das Ideale, das Zusammenleben, wage ich kaum zu denken. Aber alle Zimmer richte ich in meinen Träumereien ein. Ich stelle jedes Stück schon zurecht, wie es am schönsten ist, und wie er es am meisten lieben würde. An alles denke ich.

Aber jetzt werde ich wieder kämpfen müssen. Es ist solch ein Haß, ein fanatischer Haß in mir gegen die Frau. Es ist mir zumute, als hätte sie ihn mir gestohlen.

Ich glaube, ich wäre zu allem, jawohl, zu allem fähig.

Loyola, der Kluge, sagt: der Zweck heiligt die Mittel. Er kannte die Welt. Er schuf mit einer klugen, harten Hand eine Macht, die unbegrenzt war.

Alle großen Männer waren, wenn wir es sehr streng nehmen, Verbrecher, d. h. sie setzten das Leben anderer auf das Spiel. Sie töteten oder ließen töten. Ihre Mittel wurden durch den Zweck geheiligt.

Wieviel ist im Grunde eines Menschen Leben wert? –

Wenn nun der Mensch, der überflüssig oder lästig ist, eines natürlichen Todes stürbe?

Dann hülfe das Schicksal. –

Man ist in der heutigen Welt zimperlich geworden. Ehemals galt ein Menschenleben nicht viel. Nur ein Königsleben war wertvoll, das Leben der Freien bedeutete weniger, das der Hörigen nichts.

Lucretia Borgia war schön und stark. Sie empfand es als Stärke oder vielleicht auch als Selbstverständlichkeit, daß der, der ihr im Wege war, aus dem Wege geschafft wurde.

Wir haben die Sitten des Damals nicht mehr. Wir haben den strengen Begriff des Rechts. Recht darf durch Gewalt nicht gebeugt werden. Wie aber komme ich zu meinem Recht ohne Gewalt?

Ich handle im Recht der Gesamtheit, wenn ich so handle, wie ich handeln will. In ihrem Recht zu handeln ist Moral.

Jede außergewöhnliche Tat muß einen moralischen Hintergrund haben.

Spitzfindigkeiten –?

 

28. März.

Ich habe Momente, in denen es mir scheint, als begänne mein Ring von innen heraus zu leuchten. Das ist Nonsens, aber dieser Nonsens entspringt dem Fanatismus, den ich gebrauche.

Ich leide unter dem nivellierenden Einfluß unserer Zeit. Ein großer Fanatismus ist ebenso gut und anbetenswert wie ein großes Talent.

Wie liebe ich die Renaissance. Es gibt Stunden, in denen ich mich ganz ihrer Lektüre widme.

 

3. April.

Josephine ist hier.

Ich sah sie. Sie kam mir entgegen mit Vertrauen und Liebenswürdigkeit. Diese Liebenswürdigkeit kommt von Herzen, darum ist es schwer, ihr zu widerstehen.

Und doch widerstehe ich ihr. In dem Augenblick, als ich sie wiedersah, stand mein Entschluß fester als je.

 

11. April.

Gestern beging ich einen großen Fehler. Ich ward heftig, als man von Josephine sprach. Natürlich lobte man sie. Hasso lobte sie, Fritz, Togena auch. Ich sagte, daß ich nicht verstände, was an dieser Frau fortgesetzt zu loben sei.

Man bedeutete mir, daß ihre Art, sich einzuschränken und mit einem Nichts den Haushalt musterhaft zu führen, eine zu lobende Tat sei.

Verbohrt bestand ich auf der Meinung, das natürlich zu finden.

Erst als es zu spät war, als ich mir das vergeben hatte, was ich mir niemals vergeben durfte, erkannte ich meinen Fehler. Aber mein Einlenken half nichts mehr. Hasso hat den Eindruck bekommen, daß ich sie hasse. Die andern nicht, die sind zu wenig klug.

Dies aber, Lori Granier, darfst du niemals wieder dir zuschulden kommen lassen. Du mußt sehr falsch sein, dich beugen, um den Fehler auszuwetzen. Du mußt alles tun, um keinerlei Verdacht zu erregen.

Was es gilt, weißt nur du selbst.

Deshalb schickte ich heute zur Uhlandstraße und ließ die Kinder für den Nachmittag herbitten. Die Kinder werden kommen.

 

Abends.

Josephine brachte sie selbst her. Es ist nicht fortzuleugnen, daß ihr Schwarz gut steht. Raffiniert muß das Weib gewesen sein, das die Witwenschneppe erfand. Dieses sanfte In-die-Stirn-gehen der Spitze macht selbst ein plumpes Gesicht schmal. Die Stirn wirkt schön. Und die Einfachheit der Linien gibt Vornehmheit.

Ich war bezaubernd liebenswürdig, und ich fühlte, Josephine war erstaunt und angenehm berührt. Veronika betrachtete mich entzückt, und nur Inge blieb kalt.

Ich hatte ein Gespräch mit Inge.

Ich sagte: »Wie sind die Stunden bei Togena?« Dabei wußte ich, daß sie keine Stunden mehr bei ihm hat.

Sie: »Ich spiele nicht mehr Klavier.«

Ich, erstaunt: »Aber Kind, das ist doch unrecht. Hast du denn so viel Schularbeiten?«

Sie: »Ich glaube, Veronika ruft mich.«

Ich: »Laß sie nur rufen, wir unterhalten uns noch ein Weilchen. Außerdem höre ich sie gar nicht.«

Sie, bestimmt: »Doch, sie ruft, und ich muß fort.«

Ich: »Dann sage mir wenigstens erst, warum du nicht mehr Klavier spielst.« Ich wußte, daß ich dem Kinde wehtat mit der Frage. Sie wurde blaß, und ihre Augen sagten mir: »Ich weiß ganz genau, weshalb du fragst.«

Laut sagte sie: »Es macht mir keine Freude, zu üben.«

Ich, im Erzieherinnenton: »Man muß nicht danach gehen, was Freude macht, sondern man muß aus Pflichtgefühl üben.«

Sie, fast großartig: »So sprechen die Großen. Wie sie Kinder waren, haben sie anders gedacht.«

Ich: »Später wirst du deine Faulheit bereuen.«

Sie sieht mich an, offenkundiger Hohn ist in ihrem Gesicht. Dann etwas wie Scham. Ich fühlte, sie schämt sich für mich. Ich wende mich ab, und sie läuft durch den Garten. Ihre kleinen, schmalen Beine laufen sehr rasch. Die Arme rudern mit. Ich sehe sie noch immer laufen. Vielleicht wäre sie ein Kind, wie ich es mir wünsche. Mit Josephine versteht sie sich nicht mehr; es ist leicht zu merken, daß Josephines Liebling Veronika ist. Obgleich sie sicher sehr gerecht zu sein glaubt, empfindet sie für die anschmiegende Ältere ganz andere Liebe als für die Kleine, die sich gegen sie wehrt.

Und es ist deutlich zu erkennen, daß sich Inge innerlich gegen ihre Mutter wehrt.

Ich ließ die Kinder abends im Auto zurückbringen. Bubi begleitete sie, er saß wie ein Schatten zwischen den beiden prächtigen Mädchen.

 

4. Mai.

Ich hatte einen sehr schlechten Tag. Die weiche Frühlingsluft ließ meine Nerven zittern. Sie machte mich sentimental. Ich sehnte mich nach jemanden, der mich liebte.

Darum fuhr ich zu meiner alten Mutter in Charlottenburg.

Sie war gerade vom Kirchhof zurückgekommen, saß in ihrem Korbstuhl am Fenster und hatte das Gesangbuch vor sich. Als ich kam, küßte sie mich und fragte sogleich mit begeisterter Großmütterlichkeit nach Bubi.

Ach, wie mir das wehtat! Ich kam, ich selbst, und sie fragt nach dem Kinde. Natürlich ahnte sie nicht, daß ich so sentimental und innerlich so hilflos war und daß sie mir wehtat. Sie hätte sonst nie gefragt. Aber dadurch war nun schon ein verschobenes Verhältnis zwischen uns. Ich empfand törichterweise eine Zurücksetzung, wo keine war, und schloß sogleich mein offenes Herz zu.

Aber ich setzte mich in ihre Nähe und erzählte ihr ein bißchen. Alles, was ich erzähle, interessiert sie rührend. Nur von den Toiletten mag sie nichts hören, denn sie nennt das Geldverschwendung und sündhaft. Ich bin überhaupt sehr sündhaft in ihren Augen, und sie weint oft über meine Zukunft in der Hölle.

Aber schließlich muß ich bekennen, daß diese Frömmigkeit für sie ein großer Segen ist. Ihr ganzes Leben geht glücklich, wunschlos und ohne Alteration darin auf. Die Wernheimb pflegt ein anderes Christentum. Sie liebt Askese und ein schweres Grübeln und Zweifeln. Es bereitet ihr geradezu Genuß, etwas nicht zu verstehen. Dann setzt sie in Hast ihren Hut schief auf und vergißt den Schlitz ihres Rockes zu schließen und läuft zu der jeweiligen Vertrauensmännin, die ihr die Erklärung abgeben muß, nach der sie lechzt.

Sind solche Frauen nicht zu beneiden?

Aber ich war als Kind schon fest überzeugt von der Richtigkeit meiner Zweifel am lieben Gott und seinen Engeln. Und der gute, alte Pastor Frohlick, der in sich auch nicht gerade einen gefestigten Glauben aufzuweisen hatte, konnte mich trotz aller Mühe nicht zu der alten Kinderreligion zurückbringen. Dennoch bin ich jetzt überzeugt davon, daß ich ein besserer Mensch wäre, wenn ich mit dem Gesangbuch im Korbstuhl säße oder mit schiefem Hut und offenem Schlitz zu einer Vertrauensmännin liefe. Ich wäre auch ein glücklicherer Mensch, denn so wanke ich nur hin und her und will allerlei, was ich nicht wollen sollte. Man ist ein törichter Mensch, wenn man das Glück vom Außenleben erlangen will. Das Glück wohnt drinnen, das haben schon Menschen gesagt, die weiser waren als ich. Ich setze nur hinzu: ich will ja nichts als ein innerliches Glück. Nichts anderes. Der böse Fall ist nur, daß ich zu diesem innerlichen Glück nur durch den ungeheuren, aufreibenden Kampf kommen kann.

Ich blieb fast zwei Stunden bei meiner alten Mutter. Immer nahm ich einen Anlauf und versuchte, ein wenig Kind zu sein, das Hilfe sucht. Aber sie verstand mich gar nicht. Sie ist so felsenfest davon überzeugt, daß ich eine strahlend glückliche, zwar etwas schwierige, aber doch vortrefflich versorgte Frau bin. Ja, was fehlt denn der Lori? Sie hat doch alles, was sie sich nur wünschen kann. Sogar mehr noch, denn so viel wie sie hat, kann sich ja kein Mensch wünschen.

Sollte ich nun die arme, alte Frau mit meinen Sorgen, meinem verzweifelten Nicht-ein-, Nicht-auswissen quälen? Sie würde mir nicht helfen können, und ich hätte sie nur beunruhigt.

So sprachen wir recht nebensächliche Dinge.

Sie fragte mit rührender Sachunkenntnis und doch dem Bestreben, interessiert zu sein, nach dem neuen, offenen Auto, das Fritz erstand. Ich antwortete, und sie fragte nun wieder etwas anderes. Dann lobte sie mich, weil sie gehört hatte, daß Hasso mich lobte. Dann erzählte sie von der neuesten Art der Bibelerklärung in ihrem Gemeinschaftsverein, der sie ferner stünde, was recht betrübend sei. »Ach, daß sie niemals bei dem lieben Alten bleiben können,« seufzte sie; »man ist zu alt, um sich umzugewöhnen. Ja, ja, mein Lorichen, ich gehe nun bald in die Siebzig.«

Ich hatte Angst, sie würde von ihrem Tode sprechen. Das ist mir stets so peinlich, ich kann nicht sagen weshalb, aber ich weiß dann keine rechte Antwort. Darum erhob ich mich und ging.

Der Chauffeur, der so lange hatte warten müssen, war schlechter Laune und überfuhr beinahe ein Kind. Ich schimpfte herzhaft; er war patzig.

Daß man auch immer Ärger haben muß!

 

20. Mai.

Heute empfand ich zum ersten Male deutlich, daß C. T. mir wieder verloren ist. Die Art, wie er mit mir spricht, ist fast ungezogen. Es liegt etwas Herausforderndes, Widerspenstiges darin.

Ich weiß, er nahm es übel, daß ich es ablehnte, das Auto für eine Ausfahrt zu borgen, die er mit Josephine und den Kindern unternehmen wollte.

Ich sagte: »Mein Lieber, ich finde das nicht passend.«

Er erwiderte, daß ich kleinlich sei, und daß ich es gar nicht verstehen könnte, wie er mit Josephine stände.

Dann kam der Satz, der mir zu schaffen macht, und über den ich in zitternder Verzweiflung grüble.

Er lautet: »Es wird die Zeit kommen, da werden Sie mich verstehen.«

Wenn er sie wirklich heiraten wollte? –

 

5. Juni.

Es hat gar nichts mehr Raum in mir als der eine Gedanke.

Ich beginne das Wort »besessen« zu begreifen. Ich bin von dem Gedanken besessen.

Lucretia Borgia machte nicht so viel Umstände, ehe sie etwas tat. Sie war stärker und größer. Als ich Kind war, bewunderte ich sie offen.

Ich wollte, ich wäre fünf oder sechs Jahrhunderte früher geboren. Aber vielleicht wäre ich damals als Hexe verbrannt worden.

Wenn ich nur hexen könnte. Aber meine suggestive Macht scheint so klein zu sein, daß sie gar nichts vermag.

Ich bin elend und sehr oft vollkommen geistesabwesend. Gestern verursachte ich fast ein Feuer, weil ich in diesen geistesabwesenden Momenten mit einer Streichholzschachtel am Toilettentisch spielte.

Ich schlafe meist schlecht, aber manchmal träume ich sehr tief. Wenn ich dann aufwache, kann ich mich gar nicht mehr zurechtfinden. Dabei bin ich ängstlich. Als vor ein paar Tagen ein anderer Tee gemacht worden war, weil der gewöhnliche nicht ankam, glaubte ich, man wollte mich vergiften.

– Ich habe den Ring mit dem Skarabäus immer bei mir.

 

10. Juni.

Seitdem ich den Entschluß faßte, bin ich ruhiger.

Es muß sein, und das Recht ist auf meiner Seite. Ein Künstler gehört nicht dem einzelnen, er gehört der Welt. Wenn er selbst das nicht begreift, so muß eine Nahestehende ihn mit allen Mitteln vor seinen Torheiten bewahren.

Mit allen Mitteln, sage ich, und mir bleibt nun, nachdem ich alle Überredungskunst anwandte, doch nur das eine übrig. Dies eine ist furchtbar, und je näher die Tat heranrückt, um so schwerer dünkt mich die Ausführung. Ich bin verzweifelt nervös in der letzten Zeit, mein Zustand grenzt an Wahnsinn. Ich habe Halluzinationen und quäle mich grauenvoll.

Dann möchte ich zurück, Umkehr halten.

Und doch muß ich tun, was das Schicksal, das Leben, die Welt von mir verlangt.

Große Worte, große Worte.

Der Ring leuchtet.


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