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XVIII.

Der Regierungsrat von Beer saß im Ledersessel am Fenster. Granier ging unruhig auf und ab. Er war in den letzten Wochen stark abgefallen, das blasse Gesicht machte einen schlaffen, fast kränklichen Eindruck. Seine sonst so ruhigen Bewegungen zeigten Nervosität.

Hasso Beer warf von Zeit zu Zeit einen halb mitleidigen, halb spöttischen Blick auf seinen Schwager. Er hielt zwischen seinen Fingern einen Brief, in dem er blätterte. Seine schmalen, langen Hände hielten den Brief in einer fast unwilligen Art.

»Ich halte nichts davon,« sagte er, »daß Lori noch länger im Sanatorium bleibt. Was der Arzt schreibt, ist durchaus nicht klar und einleuchtend. Man sollte sie aus dieser Anstalt nehmen und sie veranlassen, nach Hause zurückzukehren. Der Passus in dem Brief« – er las –: ›Es besteht kein Zweifel, daß Ihre Frau Gemahlin schwer hysterisch ist, daß sie als Hysterikerin in der denkbar schonendsten Weise behandelt werden muß; denn wir müssen uns stets darüber klar sein, daß die Hysterie eine Krankheit ist,‹ – »leuchtet mir durchaus nicht ein. Meine Schwester ist – soweit ich sie kenne – niemals hysterisch gewesen. Sie ist einfach nur ein ungezogenes und eigensinniges Kind, das man am besten prügelte;« er lachte grimmig auf, »ich probierte es wirklich mit der Reitpeitsche.«

Granier erschrak. Eine derartige Kur schien ihm durchaus nicht geeignet. Schon er selbst fühlte sich völlig unfähig, sie auszuführen. Selbst der Gedanke daran war ihm so unerträglich, daß er rasch mit ein paar Worten darüber hinwegging. »Ich halte Lori tatsächlich für krank.«

Beer lächelte wieder das alte, grimmige Lächeln. »Mein Lieber, als meine Schwester noch ein Backfisch war, da kam ich hinter eine Liebelei mit einem Gymnasiasten. Ich liebte Lori damals. Weißt du, was ich tat? Ich gab ihr rechts und links ein paar Backpfeifen, die ihr die Ohren klingen ließen. Das heilte sie.«

»Aber hier handelt es sich um keine Liebschaft,« warf Granier ein.

»Hier handelt es sich um etwas, was einfach nur eine Ungezogenheit ist. Du bist ein guter Mensch, Fritz, zu weich und nachgiebig, zu zartfühlend, jawohl, das letztere ist ein krasser Fehler bei dir. Du bist ganz klar und einfach zu wenig Mann. Wenn das Frauenzimmer dir fortläuft und erklärt, es könnte nicht mehr zurückkommen, so fährt man einfach hin und holt sie mit Gewalt. Man drängt das Zartgefühl zurück und man bezwingt die Nerven. Man tritt ihr mit Energie entgegen und sagt: ›Du mußt.‹ Das hilft, mein Lieber. Andernfalls aber tröstet man sich. Ich, als ihr Bruder, will dir sagen, daß du herzlich wenig an ihr verloren hast.«

Der andere blieb stehen. Er sah sich so hilflos um, daß in Beer wieder das Mitleid aufstieg, dessen er sich schämte. »Sie ist die Mutter meines Kindes,« sagte Granier.

»Sage lieber, sie hat dein Kind geboren und sich dann auch nicht einen Tag mehr darum gekümmert. Sie ist keine Mutter.«

»Du bist zu hart, Hasso.«

»Nein, ich bin gerecht.«

Und wieder war es still im Zimmer. Granier nahm den ruhelosen Gang auf, und Beer schaute in den Brief. Er überlas ihn noch einmal, es fielen ihm wieder Stellen auf, die ihm so von Unwahrheit zu strotzen schienen, daß ihm die Adern an der Stirn vor Scham für den Schreiber emporquollen. Lauter Beschönigungen, ein sanftes, ein schmeichelndes Beruhigen. Die Kranke sei ein so sympathischer Mensch, daß ihre Absonderlichkeiten nur als Krankheit angesehen werden könnten. Und der strikte Wille, nicht mehr zu ihrem Gatten zurückkehren zu wollen, spiegelte ein Krankheitsbild wider, wie es nur zu oft schon vorgekommen sei. Der Patient bildet sich etwas ein, er leidet unter dieser Selbstsuggestion. Man dürfte um Gottes willen hier nicht mit starken, nervenaufreizenden Mitteln eingreifen. Alles müßte mit Sanftmut, mit einer vollendeten Geduld behandelt werden. Hier folgte eine gelehrte Auseinandersetzung, deren Latein nicht mehr zu dem Latein stimmen wollte, das Hasso einst in seiner Kindheit lernte. Und dann der Schluß: Mit gutem Gewissen könne behauptet werden, daß die Korrespondenz der Dame mit Sorgfalt überwacht worden sei. Es seien keinerlei Anzeichen vorhanden, daß sie etwa mit irgendeiner Person besonders häufig korrespondiere. Sie schriebe überhaupt sehr selten, empfinge selten Briefe. Sie zeige keinerlei Aufregung, wenn etwa ein Brief erschiene oder ausbliebe. Es wäre nicht im mindesten irgendein Anhalt zu finden, daß die Weigerung, zurückzukehren, auf der Basis beruhe, daß ein Mann im Spiele sei. Auch glaube er – der Arzt –, vollkommen in das Vertrauen seiner Patientin gedrungen zu sein, sie käme ihm offen entgegen und hätte bestimmt, wenn eine Liebe im Spiele sei, davon erzählt. Was das sexuelle Leben der Patientin anbeträfe, so schiene sie ihm, wie alle Hysterikerinnen, stark sinnlich veranlagt, doch – Hasso ließ den Brief sinken. Er war so degoutiert, daß er sich nicht mehr dazu zwingen konnte, weiterzulesen. Am Ende der Seite sah er noch das Wort »Perversität«, das zwischen einigen Phrasen hübsch eingebettet war. Die Adern an der Stirn schwollen wiederum an. Er sah aus dem Fenster in das weiche Bild des Gartens, den der Herbstregen frisch und voll zarter Nebel erscheinen ließ. Es war ihm notwendig, sich auf andere Dinge zu konzentrieren.

»Und Loris letzter Brief?« fragte er nach einer Weile.

Granier sagte: »Sie schreibt überhaupt nicht mehr.«

»Siehst du,« fuhr er nach einer Pause fort, »ich würde sagen wie du, sie ist eigensinnig und verrannt. Aber im Juni jener Krampfanfall und dann diese entsetzliche Ohnmacht bei Josephines Tode. Das Erwachen dann – du hast es nicht mitgemacht, Hasso, aber ich, ich! O, du weißt nicht, wie es war. Niemand, der es nicht selbst erlebte, weiß es. Man kann es nicht beschreiben. Man könnte es nicht mit den entsetzlichsten Worten beschreiben.«

Beer sagte hart und mit einer Miene, die wie aus Stein gemeißelt war: »Wir wissen doch auch nicht, mein Lieber, was zwischen den zwei Frauen verging, ehe sie so gefunden wurden.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Granier und blieb dicht vor Hasso stehen.

»Ich kann nichts sagen, denn ich weiß nichts. Tatsache ist nur, daß Josephine im Zeitraum von wenigen Minuten gesund und tot war.«

Granier war so blaß geworden, daß er fast grün aussah. »Sage mir endlich, ich bitte dich, sage mir endlich, was du mit diesen Worten sagen willst.«

»Ich will nur das eine sagen, daß zum mindesten der Tod sehr rasch erfolgte.«

»Aber als Todesursache haben zwei Ärzte mit vollkommener Sicherheit Herzschlag festgestellt. Herzschlag kann den Tod in einigen Sekunden eintreten lassen.«

»Aber Josephine war jung und sehr kräftig.«

»Hasso, sage mir, was du sagen willst.«

»Kannst du versichern, daß uns hier niemand hört?«

Granier ging zu der Tür, die nach dem Korridor führte. Er öffnete sie weit und schaute sich um. Er schloß sie und zog den Vorhang davor. Dann flüsterte er: »Wir haben den Tee, der vor Josephine stand und von dem sie augenscheinlich nicht einmal getrunken hatte, chemisch untersuchen lassen. Wolltest du etwas Derartiges zur Rede bringen?«

»Das wollte ich,« sagte Hasso ernst.

»Du traust ihr zu –«

Hasso unterbrach ihn. »Ich traue den Frauen überhaupt alles zu. Das Geschlecht an sich ist minderwertig, nicht meine Schwester allein.«

»Aber du siehst –«

Wieder unterbrach ihn Hasso. »Ich wußte von der Untersuchung des Tees nichts. Damit ist diese Sache ja wohl auch erledigt.«

»Was für ein Interesse sollte Lori überhaupt an dem Tode dieser Frau haben?« sagte Granier.

Hasso zuckte die Achseln, aber Granier war noch nicht beruhigt. »Ihr Juristen seid immer voll Mißtrauen. Herr Gott, ja, was habe ich für Ärger und Weitläufigkeiten mit den Behörden gehabt, wegen des unerwarteten Todes der Frau. Die Staatsanwaltschaft und das Gericht wollten sich darein mengen. Nichts sollte im Zimmer gerührt werden. Am liebsten hätten sie noch meine arme Frau wieder auf den Boden gelegt, so wie sie gefunden ward. Es ist ja doch gar kein Wunder, daß sie durch die fortgesetzten Fragereien und Belästigungen zuletzt etwas wie Verfolgungswahn bekam.«

»Erzähle mir das noch einmal,« bat Beer.

Granier war schwer dazu zu verstehen. Er hatte schon genug berichten müssen. Unwillig, fast schroff, sagte er: »Du kennst die Sachen doch.«

»Ich hörte nur, daß Lori krank sei. Näheres weiß ich nicht.«

Granier erzählte. Erst ungern, dann beinahe geläufig.

»Die Nurse war gerade dazu gekommen, wie Lori gefallen war. Sie hatte noch den dumpfen Ton des Hinstürzens und das Schreien gehört. Ihr erster Gedanke galt natürlich den Kindern. Darum war sie fortgelaufen und hatte die drei dem Gärtner, der gerade vorbeikam, in Obhut gegeben. Damals dachte man ja doch noch gar nicht, daß auch mit Josephine etwas geschehen sei; man dachte nur an Lori.

»Als nach ein paar Augenblicken die Nurse wiederkam, stürzte ihr der Diener entgegen, die gnädige Frau sei tot, und die Frau Biron säße im Stuhl und rührte sich nicht. Natürlich war alles in furchtbarer Aufregung, aber die Nurse behielt den Kopf doch so weit oben, daß sie zum Arzt schickte.«

Hasso unterbrach ihn. »Das weiß ich alles, der springende Punkt ist Lori. Sie erwachte also, so viel ich mich erinnere, erst im Bett.«

Granier wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, er war fast atemlos, als er fortfuhr: »Sie erwachte im Bett und schrie mich, den sie zuerst sah, an: ›Was willst du von mir!‹ Da ich ganz sanft zu ihr sprach, beruhigte sie sich, klammerte sich sogar krampfhaft an meine Hand und bat in einer Art, die ich nie vergessen werde, so lange ich lebe: ›Laß niemanden zu mir, Fritz.‹ Zum Unglück kam gerade jetzt ein Arzt, den sie nicht kannte; und da sprang sie aus dem Bett zum Fenster. Um ein Haar hätte sie unten gelegen. Wir konnten sie nur mit Mühe in ihr Bett zurückbringen.«

»Und dann,« sagte Hasso; er atmete tief auf.

»Dann wiederholten sich diese Zustände. So oft ein fremder Mensch ins Haus kam und sie die Stimme hörte – sie hörte alles –, so wollte sie aus dem Fenster. Sie litt an Verwirrungszuständen, sagte der Arzt. Dann trat heftiges Fieber ein. So sahest du sie. Als sie gesund war, behauptete sie, daß es ihr unmöglich sei, mit mir zusammen zu leben. Sie erklärte, sie hätte durchaus keine Abneigung gegen mich, aber die Eindrücke seien derart entsetzlich gewesen, daß sie niemanden sehen könnte, der ihr damals nahe war. Nur eine andere Umgebung könnte sie heilen. Das geht jetzt bald drei Monate so.«

»Und du meinst nicht, daß du mit Energie etwas durchsetzest?«

Granier schüttelte nur den Kopf.

»Und ich sage dir, lieber Schwager, Energie ist hier alles. Wenn damals die Verwirrungszustände herrschten, so schließt das absolut nicht aus, ja es ist sogar so gut wie sicher, daß Lori jetzt klar ist. Aber dann ist es einfach ihre absolute Pflicht, zu dir zurückzukommen. Sie muß, sie muß! Und wenn du selbst nicht darauf bestehst, so tue ich es als ihr Bruder.«

Granier hatte beide Hände auf die Lehne eines Stuhls gestützt; er sah sorgenvoll in das fahle Grau des dämmernden Regennachmittags. Wie in krankhafter Erregung zuckte es um die schlaffen Falten des Mundes. »Würde es dir,« fragte er, »nicht widerstehen, deine Frau, die von dir ging, mit Gewalt zurückzuholen?«

Hasso rief rasch und fast entrüstet: »Ich würde mich keinen Augenblick besinnen. Sie sollte meine Macht fühlen.«

»Du warst nie in der Lage,« sagte Granier langsam, »und dann bist du stark und von dir und deiner Kraft überzeugt. Freya zittert vor dir. Aber in unserer Ehe bin ich nicht der, nach dessen Willen es geht; da herrscht sie. Es ist unmöglich für mich, plötzlich den Tyrannen zu spielen.«

»Niemand kann den Tyrannen spielen, mein Lieber, aber man muß Willen haben und den festen Glauben an den eigenen Willen.«

Granier schüttelte den Kopf. »Und wenn sie kommt, was dann –?«

»Dann muß dein Wille weiter herrschen. Unter einem Willen würde die Hysterikerin gesund. Das glaube mir.«

»Dann nimm du sie in die Kur.«

»Ich als Bruder kann es nicht.«

Sie schwiegen. Von draußen kam langsam der Herbstabend ins Zimmer. Noch leuchtete graugelbes Regengewölk durch die kahlen Zweige der Bäume. Das welke Laub am Boden war voll Licht, aber ins Haus vermochte das Licht nicht mehr zu dringen.

Granier ging zur Lampe und schaltete sie ein, er drehte die Krone an, so daß das Zimmer hell ward. Seiner Stimmung war das traurige Licht der Dämmerung zuwider.

Da erhob sich Hasso. »Also wir sind mit unserer Unterredung um keinen Schritt vorwärts gekommen?« fragte er, und er vermied dabei, Granier ins Gesicht zu sehen.

»Wenn du gekommen bist, um mir zu sagen, wie ich deiner Meinung nach mit Lori verfahren soll, nein.«

»Fritz, auch wenn du denkst, daß es für ihr Bestes ist?«

»Auch dann nicht.«

»Das ist eine unverzeihliche Schwäche.«

»Ich weiß es, ich versage im Hause immer. Meine Energie wird aufgebraucht im geschäftlichen Leben. Ich versage Lori gegenüber, auch wenn ich niemals versagen dürfte.«

Hasso atmete tief. »Dann will ich es versuchen.«

»Ich danke dir,« sagte Granier kurz. Er wandte sich ab, um zu verbergen, wie sein Gesicht vor Erregung zuckte.

Gerade als Hasso Beer sich zum Gehen anschickte, tönten vom Korridor her Kinderstimmen. Das blasse, dünne Organ des kleinen Granier und das tiefere, reinere Veronikas, das so sehr an Josephine erinnerte.

»Du hast das Kind immer noch hier?« fragte Beer. »Ich glaubte, es sollte zu Oktober in Pension?«

Granier lächelte das verlegene Lächeln eines Willenlosen. »Wir behielten Veronika. Sie bleibt gern, und Bubi ist froh.«

»Und Inge?« fragte Beer.

»Inge bleibt nach wie vor in ihrem Stift.«

Der Regierungsrat dachte an das kleine, schmale Gesicht der Jüngsten, aus dem ein paar Augen geschaut hatten, die nicht mehr eine Spur von Kindlichkeit in sich bargen. Augen, die ans Herz griffen, leidenschaftliche, vergrämte, in sich verschlossene Augen.

»Schreibt sie zufrieden?« fragte er.

»Sie schreibt selten und sehr kurz. Sie ist kein leichtes Kind, die Inge.«

»Man müßte sich viel mit ihr beschäftigen,« sagte Beer, »vielleicht, daß sie dann Zutrauen faßte. Ich glaube –«

Granier wartete auf die Vollendung des Satzes, aber sie blieb aus. Die Kinderstimmen verklangen lachend im oberen Stockwerk. Da dachte Beer unwillkürlich wieder an die leidenschaftlichen, vergrämten, in sich verschlossenen Augen des Kindes Inge. Die lachte nicht, die weinte nicht. Die war still und kühl und lebte zwischen den vielen Kindern des Stifts ihr einsames Leben. Da war Tragik, da war echter Kummer.

Der Regierungsrat strich über die Stirn. Er reichte Granier fast hastig die Hand zum Abschied und trat dann aus dem Portal des weißen Hauses auf die neblige Straße.


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