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II.

Lori trat aufatmend in die Sonne. Es war so warm, so duftend, so frühlingsfrisch draußen in der Natur. Sie stieg, von Fritz sorgsam gestützt, in das offene rote Auto, das vor dem Hause hielt.

»Ich hätte eigentlich Lust, noch ein bißchen in den Grunewald zu fahren,« sagte sie.

Fritz neigte zustimmend den Kopf. »Aber mich entschuldigst du doch. Ich habe nämlich eine kleine geschäftliche Angelegenheit vor –«

Sie unterbrach ihn: »Kann dich das Auto wenigstens vorher irgendwo hinbringen? Bitte, bestimme nur, bitte.«

Sie lächelte, er war verlegen. Nun lächelte sie stärker.

»Ich möchte dich wirklich nicht gern aufhalten, Lori. Vielleicht fährst du mit mir zur Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche und setzest mich dort ab. Es ist ja kaum ein Umweg.« Er sprach noch allerlei und stieg dabei ein.

Leicht federnd, wundervoll leise setzte sich der schwere Wagen in Bewegung.

Er nahm die Ecke der kleinen Straße, er fuhr in die breite Berliner Straße ein. Pfeilschnell, ruhig. Ruhig, wie in kühler Gelassenheit.

Da war schon das Knie, Hardenbergstraße. Da war der Schwarm der Menschen, der aus der Untergrundbahn hinauf ans Licht stieg; der Schwarm der sonntäglichen Menge auf dem Bürgersteig. Alles flog vorbei. Alles tauchte auf, verschwand wie im Fluge. Hoch ragte die Kirche in das schöne blasse Blau des Himmels. Ein ruhender Punkt. Sie kam näher. Jetzt sauste der Wagen durch die Überführung der Bahn. Jetzt bremste er. Er hielt.

Granier kletterte ein wenig ungeschickt heraus. Er stand still und reichte Lori die Hand.

»Also, wir essen wie gewöhnlich um sieben Uhr?«

»Ja, um sieben Uhr. Wirst du zu Haus sein?«

»Aber gewiß, natürlich. Weshalb denn nicht? Gewiß. Auf Wiedersehen, Lori.«

»Auf Wiedersehen, Fritz, amüsiere dich.« Sie lächelte.

»Amüsieren! Wo sollte ich mich wohl amüsieren? Na, bis nachher –«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Er bog graziös um die Ecke. Schnurgerade, breit, schnurgerade lag der Kurfürstendamm vor ihm, in den er einfuhr.

Lori saß zurückgelehnt und schaute in den Menschentrubel auf den Steigen. Oder sie schaute geradeaus, wo Wagen, Elektrische, Autos in endloser Reihe sich fortbewegten. Sie freute sich, daß sie allein war, dann hatte sie das Empfinden, frei zu sein. Ihr Gatte, dieser Schwerblütige, Schwerfällige, störte sie immer. Er hatte eine Art, gerade dann zu sprechen, wenn sie schweigen wollte, zu schweigen, wenn ihr Anregung willkommen war. Es war ungerecht, so zu denken. Aber wer kann Ungerechtigkeiten ändern, die tief im Inneren, tief in dem Inneren, dem wir machtlos gegenüber stehen, begründet sind!

Lori hob das Kinn, sie schaute kühl um sich. Ihr Nacken war steif, die zarten Schultern fielen ab und verbargen sich halb in dem großen Schleier, der den Hut hielt. Wie ein schönes, kaltes Bild war sie, die weiße Gestalt in dem roten Wagen.

Die Baumreihen sausten rechts und links vorbei. Dann wieder mußte der Wagen langsam fahren, halten, der ungeheure Verkehr nach dem Grunewald hemmte die Eile des Einzelnen.

Aber Lori liebte diesen Verkehr. Sie empfand sich als mitten darin und dennoch durch ihr Selbst als dominierend. Dies war auch der Duft, den sie liebte. Nirgends war er so stark ausgeprägt als am Sonntag auf dem Kurfürstendamm. Der Duft von Staub, von erwärmtem Asphalt, von Pferdeleibern, Menschenmengen, von Parfüms. Der Duft, der fade war, süßlich, der plötzlich durch die Wolke aufdringlicher Benzingase fast unerträglich ward. Und den sie dennoch liebte. Denn hier offenbarte sich Berlin, hier streute es glühende Wünsche und Verlangen aus, hier war es in eigener Person. Es war nicht wie Paris, das zarte, träumende, das der Kultur vergangener Tage nachgeschaut und resigniert. Es war wie die Inkarnation des Wollens, Müssens, Mühens, des wahllosen gemeinen Genießens. Aber des vollen, vollen, vollen, durch nichts gedämmten Genießens. Die Brutalität der Stimmung stieß ab und zog an.

Lori lächelte.

Dies Berlin war es, das sie bildete. Das war ihr Leiter gewesen. Das hatte sie gelehrt, zu sein, zu empfinden. Das hatte ihre Härte bestärkt, alle Sentimentalität beiseite geschoben. Sie liebte Berlin wie ein Wesen, wie irgendeine riesengroße, fast persönliche Macht.

Jetzt lichtete sich die Baumreihe des Kurfürstendammes. Jetzt kam klar, blendend, ein Stückchen Platz zum Vorschein. Die Halenseer Brücke kam. Die Königsallee. Der Menschenstrom flutete nicht mehr in so dichten Scharen. Das Gewimmel der Gefährte ließ ein wenig nach. Lori wandte sich und sah zurück; sie lächelte wieder.

Und diese Kolonie Grunewald war auch ein echtes Kind der Riesenstadt. Hier herrschte in breiter Protzigkeit der Reichtum. Er gründete sich Stätten der Geschmacklosigkeit und doch auch Stätten der Schönheit. Hier war ein anderer Duft und anderes Leben. Der Flieder blühte in den Gärten, der Goldregen, stark, fast betäubend duftendes Grün lohte im Gold der Maisonne. Da war so viel heimliche Schönheit, da war so viel strenger Geschmack zwischen all dem Wust des anderen. Sanfte, kleine Alleen bogen zur Seite, in Grün endend, durch Grün sich ziehend. Hier leuchtete ein rotes Dach, dort ein weißer Bau wie ein Licht.

Vorbei.

Der Wasserspiegel des kleinen Sees, an dem die wunderschönen Trauerweiden träumten, glänzte.

Vorbei.

Lori dachte an die Zeit, als sie darauf drang, die Villa, die ihr Gatte im Grunewald besaß, zu verkaufen. Sie hatte ein Landgut haben wollen, unbedingt. Es war ihr zumute gewesen, als könne sie dann erst glücklich sein. Als sei sie prädestiniert dazu, Landdame zu spielen im großen Haus, mit Pferd und Wagen, mit Tausenden von Morgen eigenen Besitz um sie her.

O, es mißlang.

Es war öde, langweilig. Die Gutsnachbarn waren unsympathische, verbauerte Junker. Dort konnte sie nicht leben.

Oder vielleicht doch?

Lori bekam plötzlich Sehnsucht nach dem Haus mit dem roten Dach, den Fenstern, an denen die Pelargonien blühten. Sie bekam Sehnsucht nach dem Balkon, der ganz in das Grüne ging und auf dem sie das Frühstück nahm. Ganz allein, ganz weltabgeschlossen.

Konnte man nicht gute Bücher lesen, musizieren?

Konnte nicht der oder jener zu Besuch kommen –?

Aber dann war es keine Einsamkeit. Dann kamen Hasso und Fritz mit ihren Ansichten über Moral und schickliche Lebensweise, dann würden diesen Besuchen Motive untergelegt werden, die kleinlich und gemein waren.

Und Togena –

Der Wald nahm sie auf. Kiefern, Sand, eine blinkende Wasserfläche zur Rechten.

Vorbei.

Kiefern, Sand und Staub. Ein wundervoll blauer, hoher, hoher Himmel.

Weiße Wolken darin.

Grauweiße Wolken, zarte, verschwindend zarte Schleierwolken.

Kiefern, Kiefern.

Lori ließ plötzlich halten. Sie befahl dem Chauffeur, auf dieser Stelle zu bleiben, und wandte sich dem Walde zu.

Rasch ging sie. Nach ein paar Augenblicken war schon die Chaussee und der rote, glänzende Wagen verschwunden.

Und dann ward ihr Schritt langsamer. Sie blieb stehen. Sie lauschte auf ein fernes Singen und Rufen. Sie lauschte auf den Wind, der leise durch die Wipfel der feierlichen Kiefern strich.

Die Stille tat ihr wohl. Sie dachte: diese wundervolle Stille ist wirklich das, was mir fehlte. Ich müßte sie alle Tage aufsuchen. Hat Hasso vielleicht doch recht? Bin ich flach geworden? Ich habe einen scharfen Verstand. Ich bin immer ein ausgezeichneter Geist gewesen. Ich habe Talente. Wie war es schön damals, in der großen, freien Natur zu sitzen, in jener wundervollen, großen, einsamen Natur zu sitzen und zu skizzieren.

Das war schön.

Die Skizzen selbst nur –

Da war immer etwas, was fehlte. Da waren immer kleine Farbenunterschiede, kleine, kleine Fehler, kleine Unfähigkeiten, die das Ganze vollständig verdarben. Da waren Mängel, die keine Arbeit, keine leidenschaftliche Anstrengung gut zu machen vermochten.

Die Natur war plötzlich kalt, ablehnend. Die Natur schrie ihr förmlich entgegen: so bin ich nicht. Die Natur äffte mit heimlichen, wunderbar feierlichen Stimmungen. Sie äffte mit ihrem Rauschen, sie äffte mit ihrer Bewegung. Das alles fehlte dem Bilde.

Die Skizze war seelenlos. Sie wurde zerrissen oder wanderte in die Mappe, aus der sie nie wieder hervorgeholt ward.

Aber Musik.

Das war die unbegreiflichere, die höhere, die ganz und gar vergeistigte Kunst. Die Kunst, die ohne Vorbild aus sich selbst entstand.

Lori wußte, daß sie ein feines Empfinden für Musik hatte, ein gutes Gehör.

Aber was nutzte das?

Auch hier war die Kunst wiederum spröde. Sie ließ sich nicht packen, sie entschlüpfte. Denn wenn sie unzählige Male dieselbe Sonate, die vorher so prächtig, so überaus erhebend klang, geübt hatte, war alle Schönheit vorbei. Dann rauschte sie kalt vorüber. Man hatte das Nachsehen. Man fing eine neue Sonate an, um mit ihr dasselbe zu erleben.

Und der, der ihr die hohe Kunst vermitteln konnte, Togena –

Sie stampfte mit dem Fuß auf den Waldboden. Togena hatte niemals Zeit.

Hastig rief sie die Gedanken in andere Richtung. »Es muß etwas geben, das mich interessiert. Es muß irgend etwas in dieser schalen, abscheulichen Welt geben, das mich ausfüllt, beschäftigt. Ich war eine sehr gute Schülerin. Ich lernte leicht, in den Fächern besonders, die mich interessierten.

»Da war Geschichte –

»Aber sie ist trocken, trocken. Sie ist trocken, weil sie von jenen trockenen Menschen, die sie studiert haben, trocken und ohne Stimmung wiedergegeben wird. Nein, nein, es ist nichts mit dem Geschichtsstudium.

»Aber Kunstgeschichte« –

Sie tat einen tiefen Atemzug. Sie reckte sich. Es ward hell und leicht in ihr.

Kunstgeschichte.

Da gab es so wundervolle Werke. Da gab es Bilder, die staunen und immer wieder staunen ließen. Da gab es Skulpturen. – Es gab eine unendliche, unbegreifliche Schönheit in jenen Menschenwerken. Die rührend frommen, weisen Bilder Fra Angelikos. Die Frauen Filippo Lippis, diese süßen, zarten, sanften, traurigen Frauen. Die sonderbaren Gestalten des großen Botticelli, diese unwirklichen, schlanken, bleichen. Dies alles war nicht wie die Sonaten, die kalt und leer wurden, durch den Fleiß, den man an sie wendete. Die wurden lebendiger, schöner, eigenartiger, je länger man schaute.

Man könnte nach Florenz gehen. Nach Florenz, der schönen Stadt, die so viel sanfte Stimmung zwischen ihren Straßen trägt. Dort leben und studieren, studieren. Die Präraffaeliten, dann die große Zeit der Renaissance.

Dann –

Und Togena –?

Die dunkelgrünen Wipfel rauschten leise. Tiefblauer Himmel schob sich harmonisch darein. Die kleinen Gräser, die Farnkräuter und geduckten Blümchen am Erdboden standen regungslos, leicht ihren würzigen Duft ausatmend. In der Mulde vor ihr krauste sich hellschimmerndes Gebüsch neben gnomengleichem, düsterem Wacholder.

Aber da ertönten wiederum Stimmen, Lachen, ein sehr tiefer Baß schalt und grollte. Die Stille floh, und Lori wandte sich eilig.

Ein paar Minuten darauf flog sie Berlin wiederum zu. Der Wald blieb hinter ihr, jetzt auch die Kolonie Grunewald. Die Brücke von Halensee. Schon kam ihr wieder jener Geruch entgegen nach Staub, Asphalt, nach Menschenstrom und Fliederbüschen.

Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche ragte grau, kühl, hoch in den fahlen, sich färbenden Himmel. Ein paar Minuten noch, und dann stand der Wagen vor dem weißen Hause in der Rauchstraße.

Frisch und angeregt war Lori heimgekommen. In ihr hafteten noch die Eindrücke der kurzen Fahrt. Die weiche Luft, die draußen herrschte, hatte sie beruhigt, zugleich kräftiger, elastischer gemacht. Sie dachte: in jener Nachmittagsstimmung hätte ich mit Hasso überhaupt nicht reden dürfen. Ich hätte ihn am Abend zu mir bitten sollen. In meinem Hause bin ich Herrscherin, da steht mir meine Macht besser zu Gebot. Und der Abend ist heimlich. Diese kalte Nachmittagsstimmung bringt mir stets Niederlagen. Ich habe elend klein beigeben müssen. Aber Hasso wird sehen, was dabei herauskommt, wenn man mich zwingen und tadeln will. Und Fritz auch. Was fällt dem ein?

Die gute Laune war plötzlich wieder fort. Zum Diner um sieben Uhr war sie allein mit ihrem Gatten. Ein Gedanke, der Alpdrücken verursachen konnte. Und dann kam seit Wochen wieder einmal einer jener Abende ohne Gäste, ohne jede Anregung.

Ganz unwillkürlich und ohne sich dessen bewußt zu werden, überdachte sie ihren Bekanntenkreis. Schließlich konnte man immer noch einen der Freunde antelephonieren.

Togena? –

Das Bewußtsein setzte wiederum ein. Ein scharfer, brennender Stich durchfuhr sie. Alle Gedanken wurden voll Haß. Erst gegen Togena, dann gegen sich, gegen das ganze Leben.

Es war nutzlos, an Togena zu telephonieren, denn er würde nicht kommen.

Und Hans Beer?

Der hatte bestimmt eine Verabredung. Vielleicht auch ließ ihn Freya nicht fort. Außerdem war es langweilig, immer nur die gleichen Menschen im Haus zu haben. Alles wurde langweilig durch allzu häufige Wiederholung. Auch Hans Beers gute Laune wirkte mit der Zeit ermüdend.

Sie überdachte noch diesen und jenen, aber es paßte nichts.

Lori wollte ärgerlich und verzweifelt weiter über die Langeweile klagen, da trat der Diener ein und sagte: »Herr Dr. Berthold ließ anfragen, ob sein Besuch heute abend angenehm sei.«

»O,« sagte Lori, und ihr Gesicht war gleich wieder heiter und reizend, »das paßt sehr gut. Wollte er zum Essen kommen?«

»Nein, gnädige Frau, erst gegen 8 Uhr. Er sei sehr beschäftigt.«

»Ist er selbst am Telephon?«

»Nein!«

»Nun, also antworten Sie, sein Besuch wäre uns sehr angenehm. Übrigens, ist Herr Kommerzienrat schon nach Hause gekommen?«

Ja, er war zu Hause, aber er arbeitete in seinem Zimmer.

So gab es also doch Abwechslung. Der Besuch ihres Arztes brachte Lori Granier stets einige Anregung, interessante Aufschlüsse über sich selbst und über Leiden, die sie besaß oder zu denen sie zum wenigsten neigte. Ein helles Abendkleid konnte ausgewählt und angezogen werden, es war ein Grund dazu vorhanden.

Lori lächelte, summte etwas vor sich hin, gab rasch noch einer kleinen, traurigen Betrachtung an Togena nach, um sogleich wieder kühl und hochmütig zu denken: Ich brauche ihn nicht. Nein, ich habe andere Menschen. O nein, mein lieber Clemens Togena.

Und dennoch, dennoch. –

Vielleicht könnte er etwas aus mir machen. Mir zu jenem verhelfen, was ich nicht bin und doch sein könnte. Meine ungenützten Gaben – ja, sie liegen brach.

Wir armen Frauen, ach ja, wir armen Frauen können wenig aus uns selbst werden. Immer verlangen wir nach dem Stärkeren, der uns stützt und hilft. Unter dessen Schutz und Rat wir uns erst zu entfalten vermögen.

So sind wir, nicht alle vielleicht, aber die Mehrzahl. Die weiblichen Frauen, die Lob und Tadel brauchen, wie die Pflanze Sonne und Regen. Ohne ein wenig Bewunderung als Ansporn wird nichts aus uns. Niemand kann dies leugnen. Wir sind so. Es ist unsere Stärke, unsere Schwäche.

»Henriette, hier noch das Haar ein wenig bauschiger. O nein, nicht doch so. Ich will nicht aussehen wie eine Kokotte. Schweigen Sie und machen Sie das Haar noch einmal.«

Daß man auch nicht einmal einen interessanten Gedanken in Frieden ausdenken kann! Gleich muß die Jungfer etwas Falsches machen. Sie wird es nie lernen, mich zu frisieren, wie ich es mag und wie es mir wirklich steht.

Im Grunde kommt Ärger über Ärger. Man sollte sich nicht ärgern! Aber was hilft es? Man tut es doch.

Natürlich verlief das Diner elend.

In dem hohen Zimmer, das achteckig war und von wundervoll harmonischen Verhältnissen, saßen sich die beiden Gatten am runden Tisch gegenüber. Ohne jede Harmonie. Auf dem Sideboard an der Wand blinkte das Silber. Das Licht der elektrischen Flammen drang nur gedämpft, zart, rötlich aus der verdeckenden Hohlkehle an der Decke. Auf dem Tisch standen Kerzen, in hohen Vasen purpurne Blumen, die einen süßen und blassen Duft ausatmeten.

Der Diener servierte geräuschlos die trefflich bereiteten Speisen, aber es ward wenig gegessen, noch weniger gesprochen.

Granier fragte: »Ist die Amme mit Bubi auch den ganzen Tag draußen gewesen?«

Lori antwortete nachlässig: »So viel ich weiß, ja!«

»Du hast natürlich nicht besonders darauf acht gegeben!« sagte er.

Und sie: »Wie käme ich dazu? Wir haben eine englische Nurse und die Amme. Ich dächte doch, daß das genug für ein einziges Kind wäre.«

Dazu schwieg Granier und seufzte.

Er sah alt aus. Seine kleine, dicke Gestalt vertrug das Altwerden nicht, es ließ ihn gewöhnlich erscheinen. Sein Gesicht begann plötzlich Ähnlichkeit mit dem seiner Mutter zu bekommen. Die Augen traten vor, und die Nase ward dick. Und trotz allem gab die Freundlichkeit und eine fast listige Klugheit seinen Zügen einen gewissen Reiz. Seine Häßlichkeit war fast angenehm.

Nach einer Weile fragte Granier wieder: »Wie verlief übrigens deine Unterhaltung mit Hasso?«

Sie schien Ärger über die Worte zu empfinden. »Warum fragst du?«

»Nur so, ich meinte nur.«

»Wie du dir denken kannst, hielt er mir eine lange Strafrede.«

»Das hätte er nicht tun sollen,« sagte Granier mit einem schattenhaften Lächeln.

Sie antwortete: »Gewiß nicht, denn es nützt euch alles nichts.«

Wieder lächelte er und fragte, indem er in der liebenswürdigen Art, die ihm früher so gut stand, die Augen zusammenkniff: »Werden wenigstens die Wadenstrümpfe für Bubi abgeschafft?«

»Ja, ja, ja,« sagte sie ungeduldig, »wie du willst.«

Zum Schluß des Essens ward ihre Miene plötzlich freundlicher. Dann brach sie das Schweigen, das nun schon wieder geraume Zeit herrschte, und sagte: »Was ich noch erzählen wollte – Dr. Berthold will heut abend kommen.«

Granier sah sichtlich erschrocken auf. »O, es ist doch nichts mit Bubi –«

Sie wehrte ab. »Aber nein, mein Lieber, meinetwegen. Und außerdem. – Es wäre mir wirklich lieb, wenn er auch einmal mit dir über mich spräche.«

»Fühlst du dich leidend?« fragte Granier rasch.

Sie sagte, indem sie eine matte Bewegung mit der Hand machte: »Lassen wir das jetzt. Nachher –«

Dabei erhob sie sich. –

Dr. Berthold war groß und sehr schlank. Wie alle Menschen, die in Berlin einer anstrengenden Tätigkeit nachgehen, sah er blaß und überarbeitet aus, doch fiel das bei seinen hageren Zügen nicht besonders auf. Da war vielmehr eine diskrete, fast frauliche Liebenswürdigkeit, die seinem ganzen Auftreten das Gepräge gab.

Ohne besonders schöne Hände zu haben, hatte er gute Bewegungen. Bewegungen, die zu beruhigen, zu streicheln schienen. Er war kein Spezialarzt, galt aber doch in erster Linie als Autorität in Nervenleiden.

Als er eintrat, erhob sich Lori rasch und ging ihm entgegen. Granier folgte langsamer, seine Bewegungen drückten eine gewisse Zurückhaltung aus. Er sagte: »Ich blieb auf den besonderen Wunsch meiner Frau hier. Sonst würde ich mich natürlich zurückgezogen haben, um die Konsultation nicht zu stören.«

Aber als der Arzt von Bubi zu sprechen begann, wich all seine Steifheit einem lebhaften Interesse.

Dr. Berthold führte aus, daß natürlich das Kind sehr zart sei, aber durchaus nicht skrofulös veranlagt. Außerdem geistig unerhört geweckt. Vielleicht zu sehr. Er erzählte von anderen Kindern, deren elenden Zustand er sorgfältig beschrieb. Plötzlich brach er ab. Er heftete die Augen auf Lori und sagte: »Gnädige Frau, Sie sehen heut blaß und erregt aus.«

Lori machte wieder jene matte Bewegung ihrer schönen Hand, die schon bei Tisch abwehrend beschied.

»Ich habe im Grunde nicht zu klagen,« sagte sie. »Allerdings fühle ich die Stiche wie gewöhnlich in der Schulter. Aber das ist eine alte Sache; ich fange an, mich darein zu finden.«

Granier fragte in einem nicht durchaus warmen und besorgten Ton: »Was sind das für Stiche?«

Jetzt nahm Dr. Berthold wieder das Wort: »Ihre Frau Gemahlin leidet,« erklärte er, »an einer leichten Lungenaffektion. Gewiß nichts Schlimmes, nein, gewiß nicht. Aber Sie, lieber Herr Kommerzienrat, werden selbst zugeben müssen, daß unsere gnädige Frau zart ist. Wir müssen deshalb auf die kleinsten Symptome achten.«

Granier sprang in die dünne Lücke, die zwischen des Arztes Worten entstand. »Ich war der Meinung, daß der Winter im Süden meine Frau vollkommen herstellte. Ja, der Meinung war ich.«

»Herr Dr. Berthold,« sagte Lori, »ist immer ein bißchen ängstlich mit mir. Nicht wahr, Herr Doktor? Ich denke, das alles ist bei mir im Grunde nichts als Nervosität. Berlin ist eine schreckliche Stadt. Es bringt stärkere Menschen, als ich es bin, um.«

»Aber du liebst doch Berlin!« warf Granier ein. »Du konntest aus Cannes doch nicht rasch genug heimkommen.«

Lori zuckte die Achseln. »Ja, Cannes, Cannes.« Sie blieb den Rest des Satzes schuldig. Sie dachte: Fritz versteht nichts, nie versteht er etwas. Und wie soll ich ihm sagen, daß alles in mir in Cannes sich nach Togena sehnte. Wie soll ich als seine Frau ihm das sagen! Es ist unmöglich, und darum ist auch jedes Verstehen ausgeschlossen. Dr. Berthold ahnt. Dieser Mann kennt die Frauen so genau, daß er all ihre Gedanken ahnt. Auch jetzt – nein, ich werde ihn nicht ansehen.

Sie hob das Kinn und schaute an den beiden Männern vorbei in eine der dämmerigen Zimmerecken.

Da fragte Granier: »Und welchen Rat geben Sie uns jetzt, Herr Doktor?«

»Wenn Sie gestatten,« sagte Berthold, »so möchte ich erst noch ein paar Fragen an Ihre Frau Gemahlin richten.«

Granier machte eine verbindliche Bewegung, und Lori hatte sich steif aufgesetzt.

Sie sollte Auskunft geben über die Stiche. Wie häufig sie aufträten, wann? Ob sie viel hustete?

Dann kam das Herz an die Reihe, und zuletzt meinte Berthold befriedigt: »Nun, das läßt sich hören. Wir gehen dann im Sommer ein paar Wochen an die See oder ins Hochgebirge. Ostende zum Beispiel oder Zermatt. Ich würde auch nichts einzuwenden haben, wenn Sie den Lido besuchen wollen. Aber ein Bleiben in dem staubigen Berlin ist ausgeschlossen. Vollkommen –« Er schnitt mit einer Handbewegung jede Widerrede ab. »Auch der Berliner Winter ist nichts für die zarte Konstitution der gnädigen Frau; im Winter schlage ich, wie im vorigen Jahre, den Süden vor. Selbstverständlich ja.« Und dann, mit einer ganz natürlichen Art, die voll von Grazie war, kam er auf anderes zu sprechen. Er versicherte auf Graniers dringende Frage, daß auch Bubi ein Aufenthalt in anderer Luft durchaus zuträglich sein würde. Doch das schien nebenbei gesagt zu sein, die Hauptsache blieb Lori. Er sagte es nicht, aber Granier war sich dessen dennoch bewußt. Und in dem langsam fassenden Mann begann sich etwas zu regen, das war wie Haß.

Er stand plötzlich auf. Seine Bewegungen waren wieder so plump wie damals, als er noch nichts anderes wie Fritz Granier war. Er ging aus dem Zimmer hinauf in die hellen, luftigen Räume, wo sein kleiner Junge wohnte. Das Bettchen mit den weißen Gardinen leuchtete. Dämmerig und sanft brannte das Licht in der Ecke bei dem Bett der Amme, die drüben, dicht bei der offenen Tür, über ein Buch gebeugt saß. Granier winkte der Aufspringenden ab und schlich sich auf den Zehen zu dem weißen Lager.

Da lag der Kleine und schlief. Sein mageres Gesichtchen hatte er in die Kissen gedrückt, ein Ärmchen daruntergeschoben. Das andere mit geballter Faust ruhte auf der blaßblau seidenen Steppdecke.

Granier schaute ihn an und strich mit zitternden, vorsichtigen Fingern über das schlichte Haar des Kleinen. Und während er so stand und seinen Sohn anschaute, kam es ihm immer deutlicher zum Bewußtsein, wie fanatisch er an diesem Kinde hing. Alle Liebe häufte er auf das kleine Wesen hier vor ihm, alle Sorge, alles Verstehen.

Die Frau dort unten war verloren, er würde sie auch mit der größten Mühe und Geduld nicht mehr zu sich heranziehen können. Aber das Kind war sein Eigentum. Das konnte er als Eigentum lieben und betreuen.

Der Kleine regte sich. Er streckte eins der dünnen, hilflosen Ärmchen aus und warf es herum. Er dehnte das Körperchen.

Granier trat rasch zurück. Wenn das Kind aufwachte und den geliebten Vater sah, wollte es beschäftigt werden. Das wußte Fritz Granier. Aber abends um zehn Uhr durfte ein Kind nicht spielen, das wußte er auch.

Und trotzdem konnte er sich von den lieben, hellen Räumen noch nicht trennen. Er ging zu der Amme.

»Was sagen Sie dazu, daß unser Kind keine Wadenstrümpfe mehr tragen braucht, Rosa?« flüsterte er.

Sie flüsterte zurück: »Nurse sagte es. Ist es denn wirklich wahr?«

»Ja, es ist wahr.«

»Das hat der Herr Regierungsrat durchgesetzt! Ich sag' schon, Herr Kommerzienrat, wenn wir den nicht hätten. Ich sag schon. Ich wär auch längst nicht mehr im Haus, wenn er nicht für mich gebeten hätte.«

Granier lächelte verlegen. Er kam auf anderes zu sprechen.

»Wie war denn der Tag heut'? War Bubi munter?«

»Sehr munter, Herr Kommerzienrat. Vergnügt wie 'n kleiner Fisch. Und nach den kleinen Mädchen fragt er so oft, nach denen von Frau Biron. Das sind doch so liebe, verständige Kinder, und kommen so gern zu unserem Bubi. Aber die gnädige Frau will's ja doch nicht.«

»Sie will's nicht? Seit wann denn, Rosa?«

»Na, seit vorigtes Mal, wie die kleine Inge hat den Rasen ein bißchen zertreten. Da hat denn die gnädige Frau gesagt, sie sollen nicht mehr so oft kommen.«

Wieder lächelte Granier verlegen. Er räusperte sich. »Das wird so schlimm nicht sein, ich werde einmal mit der gnädigen Frau sprechen.«

»Hätt's man lieber der Herr Regierungsrat noch gesagt,« flüsterte die Amme. »Der sieht doch auch ein, daß 'n Kind andere Kinder haben muß zum Spielen. Das sieht doch jeder ein.«

Granier bekräftigte: »Das sieht doch jeder ein.«

Er schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, aber dann sagte er plötzlich, freundlich wie immer, aber ein bißchen gedrückt und verlegen: »Gute Nacht, Rosa!«

Und er schlich sich wieder zurück und schloß die Tür behutsam hinter sich. Als er in den Salon kam, hörte er scheinbar mit Interesse einer Unterhaltung zu, die zwischen Dr. Berthold und seiner Gattin eifrig hin und her flog. Es war eine so geistreiche Unterhaltung, wie sie nur wenig Frauen zu führen verstanden. Aber er mußte sich zeitweise abwenden, um ein Lächeln zu verbergen, das unwillkürlich kam. Viele von den packendsten und auch verblüffenden Antworten seiner Frau kannte er.

Es kam ihm vor, als sei sie ein Kind, das ein Spiel spielt. Angelerntes, Ausgedachtes wurde hin und her geworfen, Eigenes wenig.

Ganz deutlich fühlte er, daß Eigenes da wirklich nur noch wenig vorhanden war. Er lächelte milde.

Und dennoch, dennoch war sie ehemals anders.

Da war sie herb und kühl und interessant. Damals, als sie noch für sich lebte und nicht in der großen Welt.

Es freute ihn, daß auch sie gerechtfertigt war. Sie, die Mutter seines kleinen Jungen.


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