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III.

Ja, damals war sie herb, kühl und interessant. Damals, als sie noch für sich lebte und nicht in der großen Welt. Als sie noch das Fräulein von Beer war, schlank, schmal und aufrecht, mit den lebenshungrigen Augen und den kühlen, ein wenig schmerzlich geschwungenen Lippen.

Damals, als er, Fritz Granier, mit seiner ersten Frau Hochzeit machte und sie als die Freundin der jungen Frau kennen lernte.

Damals –

Auch Lori erinnerte sich daran, daß sie einmal anders war. Schon als Kind wäre es ihr gewiß niemals eingefallen, das nachzusprechen, was andere sagten. Ihrem eignen krausen Gedankengang hing sie nach, und wenn sie vielleicht nicht davon redete – sie liebte es nicht, viel zu sprechen, besonders das, was da innen tief in ihr vorging, sich da gewissermaßen selbst aus sich entwickelte, das gab sie durchaus nicht preis, – so ahnte sie doch, unbewußt gleichsam, daß dies innerlich Gedachte das Richtige war. Und gab darauf acht, dem Folge zu leisten.

Aus diesem Grunde besaß sie die große Macht den anderen gegenüber, allen gegenüber: den Eltern, Lehrern, Mitschülerinnen, weil sie eben mehr ahnte als die anderen, und mit diesem wissenden Ahnen hochmütig und gelassen ihren eigenen Weg ging.

Einer freilich von allen hatte sich ihr nicht gebeugt, und gerade er war ihr deshalb als ein besonderer erschienen. Das war ihr eigner Bruder Hasso. Es bestand etwas zwischen ihnen, ein Band, enger noch als Geschwisterliebe, eine tiefe innerliche Gemeinschaft: die Erkenntnis, die ihnen beiden vielleicht nicht einmal recht zum Bewußtsein kam, daß sie auf besonderer Stufe standen, höher als die anderen, oder zum mindesten abseits.

Hasso Beer hatte Lori in sein kühles Herz geschlossen, und sie fühlte auch sich ihm sehr nahe stehend, obgleich sie es gewiß nicht immer bequem fand, ihn als Bruder zu haben. War er nicht der einzige, der Ansprüche an sie stellte, ihr nichts nachsah, nicht an der Bewunderung teilnahm, die man ihr von anderer Seite zollte! War er nicht auch der, der zu erziehen wagte. Sie erinnerte sich deutlich zweier Vorkommnisse. Das eine lag sehr weit zurück, sie war wohl damals erst ein recht kleines Mädchen gewesen, und man hatte über irgend eine sehr törichte Hänselei der Lehrer gesprochen, die Lori mit Begeisterung mitgemacht hatte. Als er das hörte, war er böse geworden. »Kannst du dich nicht für dich halten,« hatte er gesagt. »Was diese dummen Dinger in der Schule tun, ist längst nichts für dich. Denke dir gefälligst selbst etwas aus, wenn du durchaus solche Neckereien mitmachen mußt, aber laß die Hand von dem, was andere dir vormachen.«

Ein andermal aber, und damals war sie schon älter gewesen, hatte er ihr blind im Zorn eine Ohrfeige gegeben, weil er erfuhr, daß sie sich mit einem der Gymnasiasten, einem hübschen, blonden und auch nicht unintelligenten Jungen traf und küßte. An einem herrlich warmen Maiabend war das gewesen, sie erinnerte sich noch genau, und der Spaziergang mit jenem Jungen am Wasser angesichts eines halben Mondes und vieler Sterne am nächtlichen, sonderbar fernen Himmel hatte ihr wie etwas ganz Außerordentliches gedeucht. Auch der Kuß war schön gewesen, fremd ins Blut gegangen, erregend und nach großen und unbekannten Begebenheiten schmeckend. Aber Hasso, der irgendwie von ihrem Erlebnis erfuhr, hatte sie mit schärfstem Spott übergossen und all jene Empfindungen so tief erniedrigt, daß sie für lange Zeit geheilt war. »Willst du dich mit Dienstmädchen und Ladenfräuleins auf eine Stufe stellen,« hatte er zornig gesagt, »dann bist du die Lori nicht, die ich in dir suchte. Dann bist du eben auch nicht besser als jene, und ich werde mich nicht mehr an dich verschwenden.« Und sein Spott, der finster und herb klang, hatte noch lange in ihr gewühlt und sie unruhig und unzufrieden mit sich gemacht.

Es kam dann auch bald die Zeit, wo sie sich für Gymnasiasten viel zu gut und zu erhaben deuchte. Man brachte sie früh in den Kreis der Erwachsenen, es machte sich von selbst. Die Eltern waren zwar nach des Vaters Verabschiedung nach Berlin gezogen, und der große Kreis junger Offiziere, der den Backfisch umgab, schmolz zusammen, immerhin befanden sich in Berlin so viel Verwandte und Freunde, daß man auch dort in größerer Geselligkeit lebte. Aber Berlin war nicht die Stadt, die ein junges Mädchen mit der Eigenart, die Lori auszeichnete, besonders günstig beeinflussen konnte. In Berlin sah sie zu viel, wonach ihr Lebenshunger strebte, ihre Genußsucht und ihr heißes Wollen entwickelte sich zu stark und zu einseitig, und die guten Eltern, die von Loris eigentlichem Sein nicht die geringste Ahnung hatten, konnten dies alles nicht in rechte Bahnen leiten. Hasso freilich hätte es vermocht, allein er war jung verheiratet und in seinem Beruf außerordentlich beschäftigt, er konnte sich nicht in dem Maße wie früher um sie bekümmern.

So ging sie allein ihren Weg.

Der Weg war gefährlich. Es konnte nicht ausbleiben, daß sie mit ihrer weißen Haut, den roten Haaren und dem schön und gleichsam schmerzlich geschwungenen Munde gefeiert und bewundert wurde. Man begehrte sie, und obgleich sie gewiß kein besonders sinnlich veranlagter Mensch war, wirkte das auf ihre Sinne. Den Eltern entging diese Bewunderung nicht, sie wurden noch stolzer auf sie, verwöhnten sie noch mehr, gaben jeder Laune nach. Es schien ihnen gewiß, daß ihre Tochter einen reichen, angesehenen Mann heiraten würde, hatte sich doch mehr als einer ihr genähert und sie zur Frau begehrt, aber sie hatten ihr nicht gefallen, ja, sie war voll Spott gewesen, etwas in ihr, das man vielleicht am ersten mit einem sehr stark ausgeprägten Stolz bezeichnen konnte, wehrte sich gegen eine solche Heirat. Sie fand den einen zu dick, den anderen zu dumm, für einen dritten hatte sie überhaupt nur ein verächtliches Lachen, es packte sie sogar etwas wie Zorn bei dem Gedanken einem von jenen angehören zu müssen, im tiefsten Innern war eine Erinnerung an jenen Kuß im Mondschein am See der kleinen Stadt, an jene fremde Süße, die sie damals durchströmt und die sich nie wieder zeigte.

Zu dieser Zeit, es war gerade Mai, unterhielt sie sich einmal mit ihrer Schwägerin Freya. Die junge Frau hatte neben dem harten nur seiner Arbeit lebenden Hasso Beer keinen ganz leichten Stand, aber sie war nicht unzufrieden. Sie stammte aus reichem Hause, war hübsch, feingliedrig bei hohem Wuchs und fast aristokratisch, und nur an kaum merklichen Falten und Mienen sah man den jüdischen Typus, den sie so gern verbarg. Lori hatte sich von Anfang an – sie war freilich damals noch Kind gewesen, aber ihr Urteil stand schon fest – gut mit ihr gestanden. Das Aufrichtige in ihr, das in sich fest Begründete und Reife hatte ihr Eindruck gemacht. Was Freya sagte, schien ihr eine zeitlang fast wie ein Evangelium, dann freilich stellten sich Zweifel ein, doch konnten sie das Bild nicht beschatten. Lori wußte instinktiv, wie Freya war, und daß man sie schätzen mußte. So war die junge Frau von Beer vielleicht die Einzige, die einmal einen kurzen Einblick in das verschlossene Mädchen, das doch so ungern in sich hineinschauen ließ, bekam.

»Du hättest deinen Gutsmagnaten ruhig heiraten sollen,« sagte Freya, auf eine Weigerung Loris anspielend, die sich unlängst ereignete. »Er hat mir nicht schlecht gefallen, und als Schloßherrin würdest du eine sehr gute Figur machen. Worauf wartest du noch, Lori? Ich muß gestehen, ich bin hierin wie die anderen, ich begreife dich nicht.«

Lori sah Freya an. »Hättest du Hasso genommen, wenn er dir durchaus zuwider gewesen wäre?«

»Nein,« sagte die junge Frau, »gewiß nicht. Aber ich –«

»Du meinst, du mit all deinem Geld konntest dir einen Mann aussuchen.«

»Pfui, Lori.«

»Es ist doch so, Freya, gib es nur zu, du bist sonst so ehrlich.«

»Etwas Wahres ist daran.«

»Nun, siehst du.«

»Und vieles Falsche.«

»Nein, Freya, es ist nichts Falsches, alles ist wahr. Und wenn ich dir sage, daß ich – ja, ich – ohne Liebe nicht heiraten will.«

»Kannst du überhaupt lieben?« fragte die Schwägerin.

Lori dachte daran, wie bis ins Innerste zuwider ihr jener Mann gewesen war, sie dachte, daß, wenn sie so starker Abneigung fähig sei, unbedingt doch auch einmal das Gegenteil, die Liebe, in ihr sprechen mußte. Doch sagte sie nichts davon, und Freya, die wohl einsah, daß sie nicht reden wollte, nickte ihr nur freundlich und ein wenig spöttisch zu. »Ich glaube, Lori, du liebst nur dich selbst.« Allein, sie hatte auch damit keinen Erfolg, Lori antwortete nicht.

An diesem selben Abend, ein wenig später, lernte sie den Mann kennen, dem sie mit all ihren Sinnen sogleich entgegenflog.

Sie war zusammen mit den jungen Beers bei einer bekannten Familie eingeladen, den Hohenthals. Irmgard von Hohenthal und sie hatten schon als Kinder zusammen gespielt, sie war jetzt junge Frau, nicht eben besonders befreundet mit Lori und doch zum näheren Verkehr rechnend.

»Darf ich dir,« sagte sie, als sie Lori mit jenem ein wenig gnädigen Kopfnicken begrüßte, das sie jungen Mädchen gegenüber seit ihrer Verheiratung angenommen hatte, »darf ich dir meinen berüchtigten Vetter vorstellen?«

Lori schaute auf den Mann, der vor ihr stand. Er war nicht allzu groß, sehr schmal und gut gebaut, mit dunklen, seltsam eindringlichen Augen und einem blassen Gesicht, in dem sich allerhand ausprägte, was ihr nicht ganz verständlich, jedenfalls aber sehr anziehend deuchte.

»Georg Pachoix kommt eben von Japan zurück,« erklärte die Hohenthal mit ihrer immer ein wenig fetten Stimme.

»Von Japan –« sagte Lori und machte ihr undurchdringliches Gesicht. Sie wollte sich nicht imponieren lassen, aber das Fremde, das Sonderbare, das von diesem Mann ausging, hatte schon Besitz von ihr ergriffen. »Und Sie kehren bald zurück?«

Es stellte sich heraus, daß er nicht zurückkehrte, leider nicht, man hatte vor, ihn als Assessor im Auswärtigen Amt zu beschäftigen, was langweilig und mit viel Arbeit verbunden war. Und er schalt.

Sie sprachen dann noch einiges andere, belanglose Dinge, die Lori dennoch sonderbar wichtig deuchten, denn seine Stimme behielt jenen eindringlichen Klang, auch die Augen waren voll von einer Eindringlichkeit, wie sie ihr bewußt noch nicht begegnet war. Obgleich sie selbst sich unbegreiflich fand und ihre kühle Miene mit Gewalt zu wahren bemüht war, fand sie sich doch bis in das Innerste aufgewühlt. Etwas Heißes und Wildes war in ihr erwacht und hatte sie bis in die tiefste Seele ergriffen. Sie suchte verstohlen den schlanken Mann, der so nachlässig um sich schaute, mit ihren Blicken und schrak doch zurück, wenn sie seinen Augen begegnete. Und empörte sich gegen das eigene Gefühl. Als sie aber an diesem Abend allein war, fort von der Gesellschaft in ihrem stillen Zimmer, da wußte sie mit einer wahrhaft erschütternden Deutlichkeit, daß sie diesen Mann liebte.

Seit diesem Tage dachte sie kaum an etwas anderes als an Pachoix, und wie sie eine neue Begegnung mit ihm herbeiführen könnte. Ihr unbeschäftigter Geist – denn was war dies Helfen im Haus, was war die Malstunde für einen so stark ausgeprägten Menschen wie sie! – suchte sich seine eignen Wege und fand sie. Es war nicht einmal ein ungesundes Träumen, sondern eine erstaunlich wache Beobachtung dessen, das in ihr arbeitete. Freilich war sie sich klar, daß dies die Sinne waren, aber sie schreckte durchaus nicht davor zurück. Einmal mußte es so kommen, sagte sie sich, es ist die Natur, die Bestimmung in uns. Man darf sich nicht zu sentimentaler Seligkeit hinreißen lassen, man muß genau prüfen. Aber es ist stärker als ich, ich muß gehorchen.

Der Zufall brachte es mit sich, daß sie kurze Zeit darauf Pachoix bei den jungen Beers traf. Er hatte trotz seiner Jugend einigen Einfluß, und das veranlaßte den sehr zurückhaltenden Hasso, ihn einzuladen. Wenn Loris Bruder freilich geahnt hätte, wie es um sie stand, so wäre das niemals der Fall gewesen, doch Beer war es so gewöhnt, in der Schwester die Kühle, die ganz und gar Unsinnliche zu sehen, daß er ihr keine Liebe zutraute. Zudem hatte sich wiederum jener Gütermagnat um sie beworben, und da sie jetzt nur gleichmütig und ohne Empörung ihr Nein gesagt hatte, so kam man in der Beerschen Familie zu der Ansicht, sie sei willfähriger geworden. In Wahrheit hatte Lori die Zumutung jenes Mannes, den sie doch schon einmal zurückwies, so lächerlich gefunden, daß ihr nicht mehr einfiel, entrüstet zu sein.

Dieser Abend aber brachte Pachoix zu der Erkenntnis, wie es um die kühle Lori stand, und da er klug war und sehr genau um die Frauen Bescheid wußte, hatte er leichtes Spiel. Sie gefiel ihm, zwar waren jene sehr schlanken Mädchen gar nicht einmal sein Geschmack, allein der Stil mit dem sie sich einfach und dennoch so durchaus persönlich zu kleiden verstand, auch ihre Kühle und die Weiße ihrer Haut reizten seine Sinne. Als Gattin käme sie freilich nicht in Betracht, er war darauf angewiesen, reich zu heiraten, einer kleinen Liebe jedoch, die zu dem oder jenem führte, brauchte er nicht aus dem Wege zu gehen. So verabredete er mit ihr vorsichtig, – er war immer vorsichtig in solchen Dingen, hatte keinerlei Lust, sich um einer Frau willen die Karriere zu verderben, – ein Zusammentreffen, auf das sie ohne jedes Besinnen erstaunlich rasch einging.

Dies erste Zusammentreffen fand im Charlottenburger Schloßpark an jenem lieblichen Bau statt, den man wohl als das Teehaus bezeichnet. Lori hatte vor einigen Tagen dort eine Skizze begonnen, die sie fortsetzen wollte. Es war der Vormittag gewählt, nicht allzu spät, um den Park nicht übersät von Spaziergängern zu finden. Frühnebel hüllten sacht die Ferne ein, die Nähe war blau und dunstig. Alle Farben wirkten gleichsam wie unter Schleiern, sanft und voll von leiser Schwermut. In dieser Landschaft, zumal wenn es Mai ist, gibt sich ein Herz leicht hin, es ist gewissermaßen selbst wie eingeschlossen in all die Geheimnisse, die es nebelgrau umgeben. So kam es, daß Lori durchaus nicht lange um sich werben ließ, – sie hätte es verachtet, um sich werben zu lassen, denn sie liebte und wollte frei und offen eingestehen, daß es so war – und er, der die Gründe ihrer raschen Bereitwilligkeit nicht erkannte, war erstaunt, und sie setzte sich in seinen Augen herab.

Es kam eine Zeit für Lori, in der sie, die Kühle, die so durchaus Unsentimentale, wie in einem Traum lebte. Fühlte sie reines Glück? unter der Schwelle des Bewußtseins wußte sie wohl, wie viel ihr dazu fehlte. Zwar lag es ihrer Natur nicht, sich Skrupel zu machen, das Schicksal hatte ihr diesen Mann in den Weg geführt, gerade diesen Mann, so war es gewissermaßen selbstverständlich, daß sie ihm gehörte. Sie rechnete nicht, sie schenkte sich einfach fort. Selbst die Heimlichkeiten ihrer Beziehungen machten ihr nur geringe Sorge, gewiß log sie nicht gern, wenn sie es aber tun mußte, so geschah es ohne Gewissensbisse. Auch dies reihte sie ein in das große Gefühl, das jetzt allem anderen voranging. Nur das Eine bekümmerte sie, und auch hier machte sie sich durchaus nichts vor, sondern schaute dem klar ins Gesicht, daß sie nämlich wohl merkte, in wie ungleich tieferer und wahrerer Art sie den Mann liebte als er sie. Sie stellte ihn niemals zur Rede darüber, aber es kam vor, daß sie das Gespräch darauf brachte.

»Liebst du mich?« pflegte sie von Zeit zu Zeit einmal zu fragen.

Er versicherte: »Sehr, Lori, sehr.«

»Aber ich liebe dich mehr.«

»Wenn das der Fall sein sollte,« gab er klug zurück, »also gesetzt, daß es der Fall wäre, so wird das wohl auch das Richtige sein. Ihr Frauen mit eurer anschmiegenden Natur müßt diejenigen sein, die uns Männer, uns im Leben Stehende, mehr lieben. Umgekehrt wäre es bestimmt nicht das Richtige.«

»Aber du könntest mich ebenso lieb haben wie ich dich,« beharrte sie.

Dann fand er es bequem, zu sagen, daß dies auch der Fall sei, nur könnte er seine Liebe nicht in dem Maße zeigen. Er sprach weiter darüber, sehr hübsch und sehr intelligent, und konnte es doch nicht hindern, daß sie ihm in ihrem Innersten nicht glaubte, – so gern sie es getan hätte.

Diese Beziehungen liefen den ganzen Sommer hindurch. Als es Herbst wurde, schöner, goldklarer, sonnenleuchtender Herbst, machte Pachoix den Vorschlag, mit ihr eine kleine Reise zu unternehmen. Obgleich sie vor Verlangen danach zitterte, fand sie es doch zu gewagt, so einigte man sich darauf, zwei Tage zusammen in Potsdam zu bleiben. Und diese zwei Tage waren wie in Gold getaucht, wie von Gold überschüttet, er bemühte sich um sie liebevoll und aufmerksam wie noch nie, und sie strahlte im vollsten Glück, in vollster Erwartung einer herrlichen Zukunft. Er lernte sie lieben –?

Sie kamen heim, und am Morgen darauf hielt sie einen Brief von ihm in den Händen, in dem er ihr von seiner Versetzung nach einem der südamerikanischen Staaten berichtete. Er war schon fort, – ohne Abschied genommen zu haben. – Ohne Abschied –

*

In der ersten Zeit nach diesem Ereignis meinte Lori das Leben nicht ertragen zu können. Sie war wie vor den Kopf geschlagen, gleichsam gelähmt. Da noch niemals ein großer Schmerz in ihr Leben getreten war, stand sie diesem Empfinden vollkommen machtlos gegenüber, sie war ihm ausgeliefert, hilflos und ohne Halt. Freundinnen, denen sie sich anvertrauen konnte, im Anvertrauen vielleicht ein wenig Trost finden, besaß sie nicht, es ging ihrer Natur zuwider, sich mit Gleichaltrigen gewissermaßen auf eine Stufe zu stellen. Sie ahnte oder wußte, daß sie anders war als jene, und deshalb von wirklichem Verstehen nicht die Rede sein konnte. Auch war ihr die alberne Art der meisten ihrer Bekannten in innerster Seele zuwider. So stand sie also ganz allein dem Schmerz gegenüber, ihm vollkommen ausgeliefert, und Bitterkeit und das Gefühl, auf das Schmählichste betrogen zu sein, kämpften heiß gegen das Selbstgefühl, das so tief erniedrigt wurde. Manchmal meinte sie, es sei am besten, kalt und tot zu sein, die Welt hatte keinen Wert mehr für sie, weil sie ganz und gar in dem einen Gefühl gelebt hatte, das nun sterben mußte. Dann ging sie auf die Brücke, die hinter ihrem Hause über die Spree führte, und schaute in die trüben Fluten des dunklen Flusses. Allein sie konnte zu keinem Entschluß kommen, es deuchte ihr schrecklich, in diesem schmutzigen, unendlich langsam fließenden Wasser zu versinken. Ihr ekelte davor, und sie wandte sich hastig ab.

Es galt das Leben zu tragen, sich hineinzufinden in das Grau, das seit der Abreise des Geliebten sie umgab. Es galt zu vergessen. Aber wie vergessen, wenn alle Gedanken unter der Schwelle des Bewußtseins eigensinnig bei dem Einen verharrten. Es galt, aufrecht zu bleiben, sich nicht zu verlieren, o, sich nicht zu verlieren. Vielleicht konnte man leichtsinnig und ohne Bedenken in einem anderen Manne finden, was der Eine versagte. Vielleicht war dies ein Ausweg! und doch kannte sie sich zu gut, um nicht zu wissen, daß diese Hoffnung sehr klein war. Die Zähne zusammenbeißen und überwinden. Dies und nichts anderes blieb ihr übrig.

Und der Herbst ging goldleuchtend, nebelblau und wundersam schwermütig zu Ende, Winterzeit kam, und sie fand sich nicht zu sich zurück, denn immer deuchte es ihr, als hätte sie etwas vom Besten in sich verloren, von jener sehr stolzen und sehr starken Sicherheit, die sie auszeichnete. Allein dies schienen die Ihrigen nicht zu bemerken, Hasso Beer äußerte sogar einmal zu Freya, daß seine Schwester in der letzten Zeit seiner Meinung nach ungleich gewonnen habe. »Sie ist einen Schritt vorwärts gegangen,« so drückte er sich aus, »bei euch Frauen geht's ja immer nur schrittweis, einen Sprung zu machen, mit einem Schlage hinaus zu kommen, das bringt ihr nicht fertig. Nun, ich will schon mit dem Schritt zufrieden sein, wenn es nur nach vorwärts geht.«

»Ich vermute,« sagte Freya, »sie hat eine große Enttäuschung hinter sich.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine es, wie ich es sage.«

Beer war während dieser Unterredung hin und her gegangen, jetzt blieb er vor seiner Gattin stehen. »Weißt du etwas Positives, Freya?«

»Nein,« sagte sie.

»Aber du ahnst etwas?«

»Es schien mir so,« erklärte Freya in gleichgültigem Ton, »als ob sie sich für Pachoix interessierte.«

»Für Pachoix! nein, Freya, da irrst du dich, die kluge Lori und dieser kleine unbedeutende Elegant.«

»Er ist ein Mann, der den Frauen gefallen will und ihnen auch gefällt.«

»Dir etwa auch?«

»Nein, mir nicht, ich bin nicht Lori. Im Übrigen weiß ich auch nichts. Sie wird niemanden zu ihrer Vertrauten machen.«

»Gott sei Dank, sie wird nie jemand zu ihrer Vertrauten machen. Sie braucht keine Vertrauten, ich achte das an ihr.«

Freya schwieg. Sie hatte ihre eigenen Gedanken, war aber gewohnt, diese nicht ihrem Gatten gegenüber auszusprechen. Das führte zu nichts, er würde sie niemals verstanden haben, gerade sie nicht, weil sie seine Frau war.

Indessen fragte sie ein paar Tage darauf Lori, warum sie so blaß und schmal geworden sei. Das müßte einen Grund haben. Sei etwa der Grund in einer Liebe zu suchen.

Lori lachte sie an. »In einer Liebe! ach Freya, wie romantisch! wen sollte ich wohl lieben! den dicken Kaldorp oder euren hübschen Keelmannsegg! Meine liebe, kluge Schwägerin, hast du etwa noch jemand auf Lager?«

»Und Pachoix?«

Wieder vermochte es Lori, zu lachen. »Pachoix? ich denke, er ist längst fort.«

»Ja, er ist fort.«

»Und ich soll ihm nachtrauern?«

Jetzt war Freya besiegt, sie schämte sich sogar, Lori einer so törichten Liebe für fähig gehalten zu haben. »Ich meinte nur,« sagte sie rasch, »ich meinte nur, es sei vielleicht doch etwas daran, was ich damals hörte, daß du nämlich einige Male in Pachoix' Begleitung gesehen worden seist.«

Lori zuckte die Achseln. »Vielleicht habe ich ihn einmal getroffen, Freya, aber das ist ja so unwesentlich. Rate mir lieber, was für ein Kleid ich zu Marias Hochzeit anziehen soll, das ist interessanter.«

»Ihr fahrt also wirklich hin?«

»Ich fahre allein, Freya, den Eltern ist es zu teuer, aber sie wünschen, daß ich es tue.«

»Natürlich mußt du es tun, ich wundere mich, daß Mutter nicht mitfährt, wo sie doch so befreundet mit den Frohlicks war.«

»Mit den Frohlicks! Nein, Freya, sie ist nur mit der ersten Frau des Pastors befreundet gewesen, mit Marias Mutter, die zweite Frau ist ihr sehr unsympathisch. Übrigens macht das Mädel eine glänzende Partie.«

»Ich hörte davon. Ist sie so hübsch, Lori?«

»Sie war als Kind entzückend, eine dunkle Schönheit mit blauen Augen. Hoffentlich ist der Mann ein guter Mensch, sie braucht das. Aber das Kleid, Freya, das Kleid, rate mir doch.«

Man kam zu dem Schluß, daß Lori das brennend rote Kleid anziehen sollte, das freilich sehr gewagt zu ihrem kupfernen Haar stand, und doch die ganze Schönheit ihrer Haut hob und ins rechte Licht setzte.

Und in diesem Kleid, diesem brennend roten Kleid, lernte Granier an seinem Hochzeitstage mit Maria Frohlick Lori kennen. –

Über das Kennenlernen ist wenig zu sagen. Es war nach der kirchlichen Trauung, das Brautpaar stand in den großen, hohen Räumen der Villa, die den alten Graniers gehörte. Dort wurde die Hochzeit gefeiert, denn die engen Stuben im Pfarrhaus hätten niemals einer Gesellschaft, wie sie die alte Frau Granier an diesem Tage wünschte, Stand gehalten. Die Brautjungfern mit ihren Herren kamen herein, um den Neuvermählten Glück zu wünschen. Unter ihnen Lori, und es war freilich kein Wunder, wenn sie Granier auffiel, denn ihr Stil war in Haltung und Kleidung dem der anderen jungen Mädchen so weit überlegen, daß sie wie aus einer anderen Welt schien.

»Wer ist das, Maria, wer ist das?« fragte er eifrig.

»Das ist doch Lori Beer, Fritz.«

»Das ist Lori Beer! aber sie steht ja großartig aus.«

»Habe ich dir das nicht immer gesagt!«

Sie konnten nicht weiter reden, denn die Glückwünschenden nahmen ihre Zeit in Anspruch, sie wurden umringt, man bewunderte Maria, man küßte sie. Und nur Lori stand wiederum nur von fern, sagte zwar herzliche Worte und blieb doch kühl.

»Verdammt hübsch,« flüsterte Granier Maria noch einmal ins Ohr.

Und Maria nickte freundlich und gelassen.

Sie wußte nicht, daß Granier einen Augenblick lang den Vergleich zwischen ihr und Lori zog. Den Vergleich, der, obgleich Marias blasse Madonnenschönheit ihm immer als etwas besonderes schien, doch zu Loris Gunsten ausfiel. Und Granier selbst wußte es auch nicht, es war nur ein Gedanke, kurz und heiß, der doch gleich auch wieder schwand.

Erst später, als er seine junge Frau zur Abreise holen kam, sah er wieder die wunderschöne brennend rote Gestalt, wie sie sich gleichsam mütterlich zu Maria beugte, und von neuem erstaunte er über die zarte Bewegung und den sonderlich kühlen und doch so inständigen Ausdruck in dem blassen Gesicht.

Diesen Ausdruck hatte Lori der Schmerz gebracht. Es schien etwas besonderes darum, gleichsam eine neue Anziehungskraft, die stärker noch auf die Männer wirkte, denn sie war mehr noch gefeiert, mehr noch bewundert. Sie hatte wiederum Freier abgewiesen, die alten Beers verzweifelten schon, und Hasso schalt. Aber sie meinte, es sei noch Zeit, sie habe vorläufig durchaus nicht Lust zu heiraten.

Nein, sie hatte nicht Lust, irgend einem Manne anzugehören. In der ersten Zeit bitterster Qual nach dem Fortgang des Geliebten hatte sie wohl gemeint, ihn durch einen anderen ersetzen zu können, doch sah sie bald ein, wie unsinnig der Gedanke war. Es war ihr nicht gegeben, auf diesen tiefen Stand der Moral zu kommen. Sie rechnete scharf mit sich ab, ja, sie vermochte es sogar, mit Freya ähnliches zu sprechen. Freya kam ihr in der letzten Zeit verändert vor, sie wußte auch, daß ein Maler, der ihr Bild gemalt hatte, das übrigens vortrefflich gelang, des öfteren in dem Hause verkehrte. Und sie hatte den Blick gesehen, mit dem die junge Frau einmal rasch und geheimnisvoll zu dem Manne hinschaute. Ein Blick, der nicht erwidert ward, und der ihr doch zu denken gab.

Lori begann mit der Frage. »Glaubst du, Freya, daß es in Wahrheit eine junge Frau oder ein Mädchen gibt, die aus sich heraus moralisch ist?«

Es war in Freyas Zimmer, vormittags, und die Sonne, wiederum eine herrliche Sommersonne, lag über dem Tiergarten. Die jungen Beers wohnten dicht am Königsplatz, so daß sich eine freie und sogar herrliche Aussicht von ihren Fenstern bot.

Freya hatte mit großer Aufmerksamkeit die Schwägerin angesehen. »Es ist gut,« sagte sie, »daß du die Frage an mich richtest, ein anderer Mensch würde dir einfach empört den Rücken wenden.«

»Und ich würde nicht so dumm sein, einen anderen zu fragen. Von dir weiß ich, wie du bist, und daß du mich kennst, da kann ich mir die Frage schon erlauben.«

Freya lächelte ein wenig. »Hältst du dich für moralisch?«

Lori war aufgestanden, sie trat zum Fenster und schaute hinaus und trat wiederum zurück ins Zimmer, dicht zu Freya heran. »Das ist es ja, daß ich es nicht weiß. Ich denke manchmal, ich sei bodenlos unmoralisch, und dann wiederum wundere ich mich, wie verhaßt mir jede Unmoral ist, und daß ich nicht anders als moralisch empfinden kann. Glaubst du, es ist bei allen Frauen solch ein Wechsel?«

»Frage Hasso, er wird dir sagen, daß jeder Frau die Ethik fern liegt.«

»Aber ich will nicht Hasso fragen, sondern dich.«

»Dann will ich dir zwei Frauen sagen, die bestimmt moralisch sind: deine Mutter und deine Cousine Magdalene Orendorf.«

»Meine Mutter,« sagte Lori langsam, »ist sehr gut, sie ist wirklich rührend gut, aber sie steht gewissermaßen jenseits der Grenze, jenseits vom Leben. Und Magdalene ist einfach eine unausstehliche Person, sie ist in ihrer frommen Gemeinschaft nur, um zu herrschen. Nennst du das moralisch? Als sie jung war, hat sie nicht genug tanzen und sich amüsieren können, jetzt ist sie eine alte Jungfer, und niemand schaut sie an, da hat sie sich auf die Frömmigkeit geworfen.«

»Herrlich bist du,« rief Freya aus, »herrlich, wenn du dich so ereiferst.«

»Aber wir kommen zu keinem Resultat, Freya, wir kommen zu nichts, wenn du nicht ernsthaft redest.«

Freya legte die Hände ineinander. »Wir kommen zu nichts, nein, ich glaube, wir kommen zu nichts. Von einem gewissen Dutzendmenschenstandpunkt sind wir vielleicht beide moralisch, aber wir wollen höher hinaus, ich fürchte fast – ich fürchte fast, Lori, dazu langt's bei uns beiden nicht.«

Lori wollte heftig erwidern, da tat sich die Tür auf, und die beiden Jungen, Hans und Ernst, kamen mit ihren Schulmappen auf dem Rücken herein. Hans lief gleich auf die Mutter zu, umarmte und küßte sie und trat dann fröhlich zu Lori und lehnte sich mit einem kleinen verschmitzten Lächeln an sie. »Tante Lori, du bist ein famoser Kerl,« sagte er.

Sie gab ihm einen Kuß, denn sie liebte den Neffen. Ernst aber, der immer noch in der Nähe der Tür stand und nur eine etwas steife Verbeugung zur Begrüßung gemacht hatte, murrte: »Mutter, was er da wieder zu Tante Lori sagt.«

»So laß ihn doch,« beruhigte Freya, »Tante Lori hört das gern.«

»Ihm fehlt eben jeder Respekt,« entrüstete sich Ernst weiter.

Lori und Freya lachten. »Die Moral und die Unmoral Seite an Seite!« rief Lori aus. »Die Moral, die sich entrüstet, und die Unmoral, die keck ist und gefällt.«

»Du bist eben doch sehr unmoralisch,« sagte Freya immer noch lachend, »wenn du ihr so das Wort redest.«

Aber mit diesen Gesprächen war gar nichts getan. Die Rätsel blieben, und der fressende Schmerz blieb auch. Wenn sie zum wenigsten etwas zu tun gehabt hätte! Aber die Stunde Hausarbeit am Morgen, die zudem noch qualvoll langweilig war, dann ein wenig Üben auf dem Klavier, – ach, Gott, allzuviel Talent war ihr nicht gegeben, – und die Stunden bei der kleinen schüchternen Lehrerin, die nicht viel Geld dafür nahm, denn ein teurer Unterricht wäre nicht zu erschwingen gewesen, ließen auch viel zu wünschen übrig. Die Malerei –, hatte sie überhaupt Begabung dazu! Ihre Skizzen sahen nicht aus, wie sie hätten aussehen müssen, wenn die Kunst ihr wirklich gegeben war. Dies alles war nichts, überall fehlte das Wesentliche, überall das, was ihren herumirrenden Sinn festgehalten hätte. Sie beneidete fast die einfachen Mädchen, die als Verkäuferinnen oder im Büro ihre Stunden getreulich abarbeiten mußten, um dann abends die Freiheit in vollen Zügen auszukosten, die Freiheit, die doch nur Wert hat, wenn eine Tätigkeit sie auf ein bestimmtes Maß einschränkt. Gewiß hätte sie der Mutter vorschlagen können, das Mädchen zu entlassen und selbst die Hausarbeit zu übernehmen, aber dazu war sie nicht fähig, das war viel zu unbequem, viel zu beschwerlich, und man würde sie nur ausgelacht haben, sie, die immer Prinzessin war.

Wenn nur die Gedanken geschwiegen hätten, diese schmerzlichen sehnsüchtigen Gedanken, die sie trotz aller Gegenwehr heimtückisch, gleichsam aus dem Hinterhalt überfielen.

Eine kleine Ablenkung brachte Marias Rückkehr von der Hochzeitsreise. Lori hatte das junge Paar nicht allzu bald besuchen wollen, aber Maria schrieb einen langen Brief, der ihr freilich nicht ganz verständlich schien, – wie denn, war die kleine Frau nicht glücklich? – und lud sie dringend ein, zu ihr zu kommen.

Die Graniers bewohnten im Winter ihr Haus in der Rauchstraße, im Sommer aber wurde die Villa im Grunewald vorgezogen, die einen großen Park am See besaß, der schattig und kühl die Hitze kaum empfinden ließ. Dort sollte Lori sie besuchen.

»Du mußt wirklich bald hingehen,« sagte die alte Frau von Beer in ihrer freundlichen Art, »die Graniers sind gleich nach ihrer Rückkehr bei uns gewesen, es tut mir leid, daß sie uns nicht trafen. Ich finde, der Brief klingt traurig.«

»Sie hat keinen Grund, traurig zu sein,« erklärte Lori.

Die alte Dame wiegte den Kopf. »Keinen Grund? Ja, weißt du denn, wie Granier ist? Das Geld allein macht es nicht.«

»Aber es macht viel, Mutter.«

»Ja, Kind, ja, so redest du, und wenn sich dir eine gute Partie bietet, schlägst du sie aus.«

Lori ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Granier hat mir sehr gut gefallen an der Hochzeit. Die kleine Maria kann froh sein, daß sie ihn hat.«

»Ja, ja,« seufzte die alte Dame, denn sie ließ sich mit Lori nicht gern in Debatten ein, die war doch klüger, die sah schärfer und stand im Leben. Was sollte ein alter Mensch, wie sie, da noch viel sagen.

Aber sie sprach jeden Tag von Maria, bis sich Lori endlich entschloß, hinauszufahren.

Lori war sich klar, daß sie in erster Linie hinausfuhr, um das Haus und alles, was Maria umgab, kennenzulernen. Die alten Graniers hatten mit all ihrem Geld keine Kultur um sich zu verbreiten vermocht, aber der Sohn schien ihr anders. Er hatte viel gesehen, war oft im Ausland gewesen und hatte sicherlich dies und jenes gelernt. Maria selbst kam erst in zweiter Linie, sie stand ihr fern, die Kinderfreundschaft existierte längst nicht mehr, eine andere konnte zwischen zwei so verschiedenen Naturen kaum möglich sein. Die kleine verschüchterte Maria mit ihrer Frömmigkeit und ihrer Scheu vor allem, was Geselligkeit bedeutete, hatte sich in den wenigen Wochen sicher nicht geändert.

Das Haus lag still und weiß in seinem grünen Park. Es war einfach, aber in guten und klaren Verhältnissen gebaut, und die breite Behäbigkeit, eine wundervolle Einfahrt mit einer Laterne, die scheinbar ein altes Stück von selten schöner Arbeit war, dazu die Wohlgepflegtheit des Gartens, gefielen Lori. Sie stand still und schaute und versuchte sich vorzustellen, wie die kleine Maria in dieses Haus hineinpaßte.

Aber da kam sie ihr schon durch den Park entgegen, ganz in Weiß, sehr schmal und schlank und ungemein lieblich. »Ach, daß du kommst!« rief sie aus, und dann hatte sie beide Arme um Lori geschlungen und sich fest, fast wie Zuflucht suchend, an sie geschmiegt. »Ich bin so allein, so ganz allein.«

Lori machte sich von ihr frei, sie tat es sanft, aber doch auch energisch. Solche Szenen waren ihr unsympathisch, hier begriff sie sie vollends nicht. Sie schaute die junge Frau, der die Tränen in den Augen standen, an und sagte: »Aber, kleine Maria, du hast doch deinen Mann!«

»Der den ganzen Tag, den ganzen Tag fort ist, Lori.«

»Nun ja, dann muß man sich allein beschäftigen.«

»Ach Lori, das ist es ja! ich möchte mich so gern beschäftigen, aber es ist nichts da, für mich zu tun. Hier hat jeder seine Arbeit, der Diener, die beiden Hausmädchen, die Mamsell, der Kutscher, der Gärtner, jeder, jeder weiß, was er tun soll, nur ich stehe überall im Wege, und wenn ich etwas anfasse, laufen sie alle ganz entsetzt herzu und wehren mich ab. Ich nähe nun Spitzen, aber ich bin so ungeschickt, es wird auch daraus nichts.«

Lori lachte hell auf. »Du dumme, kleine Maria, warte nur, das wird schon anders werden, wenn erst –« Lori hielt inne und sah Maria lustig an.

Die aber erwiderte den Blick nicht. »Wie soll es anders werden,« sagte sie.

»Es könnte doch zum Beispiel ein kleines Wesen –«

Maria sah erschrocken auf. »Nein, nein,« unterbrach sie rasch, »nein, Lori, sprich nicht davon, daran ist nicht zu denken! Ach, wie war das schön zu Hause! ich mußte schon immer um 6 Uhr aufstehen, weil all die kleinen Geschwister zur Schule fertig gemacht werden mußten. Ich hatte gar keine Zeit, niemals Zeit! wie war das schön!«

»Habt ihr keinen Verkehr?« fragte Lori.

»Ja, die Matthesius sind da, die wohnen hier nebenan, aber die junge Frau ist eine echte Berlinerin, die paßt nicht zu mir, sie lacht mich wahrscheinlich aus. Der Mann ist nett. Du weißt doch, es ist der Bildhauer Matthesius.«

Lori erwiderte. »Die Matthesius sind sehr nette Menschen. Sei nur freundlich zu der Frau, dann wirst du dich gewiß gut mit ihr vertragen. Man muß die Menschen nehmen, wie sie sind.«

Maria schien etwas sagen zu wollen, allein da öffnete sich die Tür, und Granier trat ein.

Granier sah frisch aus, er war ein wenig schlanker geworden, die Sorgfalt in Kleidung und Körperpflege stand ihm gut. Man hatte den Eindruck des sehr Frisch-Gewaschenen, der sich zudem viel an freier Luft bewegt. Seine früher so blasse Haut war gebräunt, die Augen hatten Glanz. »O, das Fräulein von Beer!« sagte er erfreut, und erzählte, daß er sich frei gemacht habe, um an diesem wundervollen Nachmittag draußen auf dem Wannsee zu segeln. Die Stadt sei erdrückend heiß gewesen und dies der beste Weg, der Hitze zu entfliehen. Überhaupt sei der Segelsport ungleich der schönste für ihn. »Reden Sie Maria doch zu, gnädiges Fräulein, daß sie sich entschließt, mitzukommen. Sie wird dann sehen, wie schön das ist, und mich immer begleiten.«

»Nein, nein,« wehrte Maria ängstlich ab, »o nein, Segeln ist nichts für mich. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur ein Boot sehe.«

»Aber auf dem Wannsee!« sagte Lori lachend.

»Der Wannsee hat auch Wellen.«

Jetzt lachte auch Granier, aber es klang doch nicht echt, Lori sah, daß er sich ärgerte. Sie verstand ihn gut, sie verstand jetzt überhaupt die ganze Ehe. Es war auf beiden Seiten eine Enttäuschung, auf beiden Seiten ein völliges Mißverständnis. Aber wie hatte der Mann auch diese Frau heiraten können! Und ein Gedanke, der sie fremd berührte, weil er aus Tiefen stammte, die ihr unbekannt waren, zog blitzschnell auf und schwand auch gleich wieder. »Da wäre ich besser am Platz.«

Und gerade in diesem Augenblick sagte Maria: »Vielleicht fährt Lori mit dir, dann hast du Gesellschaft.«

»Würden Sie das tun?« fragte er und er heftete seine Augen auf das junge Mädchen, der Ausdruck war ihr nicht klar, aber er ließ sie irgendwie erstaunen.

»Gewiß,« gab sie zurück.

»Das wäre prächtig!« sagte er, und auch Maria machte ein fröhliches Gesicht. »O Lori, tu' es, tu' es! dann habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn allein fahren lasse. Tu' es!«

»Aber du bleibst dann wieder einsam im Haus.«

»Ja,« sagte Maria leise.

»Bist du lieber allein als mit uns auf dem Wasser?«

Jetzt nickte Maria nur, aber Granier zog wieder das rätselhafte Gesicht und schüttelte den Kopf.

Man aß zusammen in dem schönen, kühlen Speisezimmer, das den Blick über den See frei ließ. Es war eine lebhafte Unterhaltung, Granier erzählte und lachte, Lori erzählte und lachte, und Maria saß mit zufriedenem Gesicht dabei.

»Das ist heut gemütlich,« sagte sie, »sonst –«

Granier unterbrach sie. »Sonst,« berichtete er und versuchte wieder heiter zu sprechen, »sonst sitzen wir zwei zusammen und reden keine Silbe.«

»Was soll man sich auch erzählen,« gab die junge Frau zurück, »wir sehen uns doch immer.«

Lori wollte einwerfen, daß Maria soeben erst geklagt hätte, ihr Gatte sei den ganzen Tag fern, aber Granier selbst hatte das Wort ergriffen. »Ich bin überzeugt, mit Fräulein von Beer würde ich mich immer ausgezeichnet unterhalten.«

»Sicher,« gab Maria zu, »sicher, sie war schon als Kind sehr amüsant. Weißt du noch, Lori, wie du allen Lehrern nachahmen konntest, aber auch allen.«

Granier sagte aufgeräumt: »Das kann ich mir denken. Wie reich machen Sie selbst Ihr Leben, indem Sie sich gut unterhalten.«

»Reich –« gab Lori langsam zurück. Dieser Gedanke war ihr noch nicht gekommen.

Aber er beschäftigte sie, er beschäftigte sie so stark, daß sie als sie ein paar Stunden später mit Granier zusammen in dem schmucken Boot auf dem Wasser war, darauf zurückkam.

Und doch fand sie keine Worte für das, was sie sagen wollte. Die Stille um sie her war zu groß, das blaue Wasser zu schön, die dunkel bewaldeten Ufer zu wunderbar in ihrer schwermütigen Einsamkeit. Nein, man konnte nicht reden in dieser Natur. Und die Gedanken suchten ihren Weg, die Gedanken kamen und gingen, sie standen gegen sie auf, beschwichtigten sich und standen wieder auf. – Wenn ich andere mit meinem Frohsinn reich machen kann – sagte sie sich – warum bin ich selbst so bettelarm? gab ich alles aus für den Einen? behielt ich nichts zurück? Wer viel gibt, der hat auch viel in sich. Ach, ich gab und gab und gab und erhielt von dem, dem ich gab, nichts wieder. Ich gab und gab und gab, und der, dem ich gab, konnte mich fortwerfen wie eine lästige Sache, die man vergessen will und vergißt. Wie bin ich arm geworden. –

Granier hatte wohl von Zeit zu Zeit dies oder jenes Wort gesprochen, allein auch er schwieg bald still, auch er empfand zu deutlich den Zauber der Landschaft. Und den Zauber der blassen Gestalt in seinem Boot, die fremd und kühl mit so sonderlich entsagendem Antlitz in das Wasser schaute, in dies stille, seidenglänzende Wasser, das das Boot leicht beflügelt durchschnitt.

Es war zu schön zum Reden, es war so zauberhaft. Der Himmel war blau, von Wolken durchwebt, jenen schönen weißköpfigen Wolken, die in wundervollen Formen langsam in eine fremde Ferne ziehen. Die am Horizont in langen Bänken stehen, seltsam geformt, doch immer voll einsamer Pracht. Die Sonne stand schon tief, das gab die langen Schatten, das gab die Kontraste im Grün des Ufers, das gab das Blitzen und Funkeln im Wasser, das schon golden ward.

Als sei die Welt gestorben, so still war's rings umher.

Er hatte das Segel ein wenig gedreht, sie kamen nun rascher vorwärts und hielten auf Potsdam zu. Da blickte er auf und schaute Lori plötzlich gerade in die Augen.

»Sagen Sie, gnädiges Fräulein, wie finden Sie meine Frau?« sagte er.

»Ihre Frau –« gab Lori zurück, »nun, ich meine, sie sieht recht wohl aus.«

»Und zufrieden?«

»Ist sie nicht zufrieden, Herr Granier?«

»Nein,« sagte er hart.

»Es ist vielleicht alles zu neu um sie, es überwältigt sie. Daran gewöhnt sie sich bald.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Glauben Sie es nicht?«

Und wieder sagte er »nein.« Und wieder schwiegen sie.

Still, fremd und schattengleich zog die Pfaueninsel vorbei, die Ufer auf der anderen Seite schauten dunkelnd herüber.

»Sie sehnt sich,« begann er wieder, »nach der Atmosphäre, in der sie aufgewachsen ist. Sie, die als Braut bitter über die Überanstrengung bei der Sorge um die kleinen Geschwister klagte, möchte jetzt am liebsten wieder zu ihnen zurück. Ich kann das wohl verstehen, sie hat einfach zu viel müßige Stunden, aber umsomehr sollte sie lernen, die Zeit auszufüllen. Das ist es, worüber ich mich jetzt beschwere, das! Glauben Sie, daß Sie da helfen können?«

Lori zuckte die Achseln, er aber fuhr fort: »Und dann – sehen Sie, dann – ja, das ist schwer auszusprechen, aber ich kann es nicht ertragen, daß sie immer mit der Bibel und mit Gottes Wort bei der Hand ist. Ich kann es einfach nicht ertragen.«

»Sie haben gewußt, Herr Granier, daß sie aus einem frommen Hause stammt.«

»Der Vater ist nicht so,« sagte er rasch. »Pastor Frohlick ist ein abgeklärter Mann, der nur selten ein Wort spricht. Ein Mann, der meine ganze Hochachtung besitzt, und vor dessen Gläubigkeit ich mich beuge. Aber gegen Marias Fanatismus empört sich etwas in mir.«

»Ist die sanfte Maria wirklich fanatisch?« fragte Lori.

»Sie ist es. Und ihr Bestreben geht dahin, mich zu bekehren.«

»So lassen Sie sich bekehren, Herr Granier.«

»Fräulein Lori, ich bin ein Mann, der mitten im Leben steht, ein Mann der Arbeit. Für mich ist solch eine sentimentale Ekstase nichts.« Und als sie schwieg, fuhr er fort: »Ich will gewiß jedem seinen Glauben lassen, ist jemand fromm, so gefällt mir das, ich sehe ein, es ist viel Gutes daran. Aber Maria will mich in lehrhafter Art gewissermaßen dazu zwingen, und dem setze ich meinen ganzen Widerstand entgegen. Der Glaube muß innen sein, tief innen, er ist irgendwie eine Gabe, die nicht jeder besitzt. Ich jedenfalls besitze sie nicht, will sie gar nicht besitzen.«

Wieder blickte er auf die still vor sich Hinschauende. Sie saß jetzt gegen die Sonne, und ihr rotes Haar funkelte wie Gold. Das Gesicht lag im Schatten, doch meinte er die Züge genau zu erkennen, die schmalen Wangen hatten einen Schimmer von Rot, der wunderschöne Mund blieb fest geschlossen. Sie war schön, sie war so gänzlich anders als alle Frauen, die er kannte, so wie ein Bild oder eine Statue. Kühl und fremd und doch die Sinne reizend, kühl und fremd und doch wie in Verlangen.

Der Wind schlief ein, er hatte soeben noch in den hohen Pappeln am Ufer gerauscht, nun standen sie regungslos. Kiefern ragten düster auf, Buchen träumten, Weiden tauchten sacht ihre schwebenden Zweige in die Flut.

Das Segel hing schlaff herab, das Wasser um sie nahm eine schwarzblaue Farbe an, die Sonne sank.

»Das sind alles gewiß schwere Fragen,« sagte Lori, und er sah wieder diesen wundervollen Mund, wie die schmalen Lippen sich herbe trennten, leise formten und bewegten, »aber diese Fragen dürfen eine Ehe nicht stören, Herr Granier. Eine Ehe muß viel zu fest gegründet sein. So viel ich weiß, haben Sie Ihre Gattin aus reiner Liebe geheiratet, lassen Sie sie diese Liebe fühlen, dann wird es besser mit Ihnen beiden werden.«

Granier hatte plötzlich den Blick von ihr gewandt, er machte sich am Takelwerk zu schaffen, ohne daß seine Augen doch bei der Sache waren. Die Augen schweiften weithin über das Wasser. Dann sprach er, er sagte es kurz und seltsam heiser: »Sie will meine Liebe nicht.«

»Ist sie noch so sehr Kind,« warf Lori ein.

»Nicht Kind und auch nicht Frau. Nichts ist sie.«

»Herr Granier, ich fürchte, Sie verbittern sich gegen Maria.«

Jetzt stand er jäh auf, das schlanke Boot schwankte, er stand, und etwas wie Zorn goß Blut in sein Gesicht. »Ja, ich verbittere, ich verbittere.«

Sie hob die dünne weiße Hand, hob sie ganz hoch und ließ sie fallen, aber sie antwortete nicht.

Und auch er sprach nicht mehr.

Der Abend kam sanft und süß vom Osten herauf. Dunkler noch ward die Flut, die schweigenden Ufer schliefen. Im Schilf raschelte es, aber die Bäume regten sich nicht. Und ganz hoch im verblassenden Himmel wandelte ein einsamer Stern.

*

Als sie heimkam, sagte Lori: »Mutter, du mußt dich Marias annehmen, ich fürchte, sie ist nicht glücklich, sie braucht einen Menschen wie dich.«

»Ach Lorichen, mich! Ich bin eine alte Frau, ich werde sie gewiß nicht verstehen. Frauen, die so bald nach der Hochzeit unglücklich sind, die verstehe ich nie. Wenn ich an unser Glück denke! vermessen, ja, geradezu vermessen wäre ich mir vorgekommen, das nicht zu genießen. Nein, nein, solche Frauen sind nichts für mich.«

»Aber sie ist wohl auch in ihrem Glauben erschüttert, Mutter, und ein Mensch wie Maria braucht den Glauben.«

»Was du nicht sagst, Kind! Freilich, das ist etwas anderes. Hat sie Zweifel? weißt du etwas? sprich doch, sprich.«

»Ich weiß nichts, als daß sie unglücklich aussieht, sie will Granier bekehren, und er –«

»Ja, Kind, ja, ich verstehe. Ach, das ist die alte Geschichte, die alte liebe Not. Da muß man zu helfen versuchen. Wenn ich – wenn ich – Magdalene mit ihr zusammen einladen würde, Lori, was meinst du! du magst sie ja nicht, aber sie ist doch ein herrlicher Mensch, ein wahres Kind Gottes. Was meinst du!«

Lori nickte. »Das fände ich vorzüglich.«

Jetzt war die alte Dame ganz in ihrem Element. »Nicht wahr, Kind! aber sag lieber dem Vater nichts, der mag die Magdalene auch nicht. Du sagst ihm nichts, nicht wahr.«

Lori versprach es und mußte ein Lächeln verbeißen. Sie konnte sich die drei Frauen vorstellen, wie sie eifrig miteinander sprechen würden. Und tief in ihr war doch etwas wie Neid. Denn waren sie nicht glücklich! waren sie nicht ausgefüllt von ihrer Religion und glücklich! Und sie – war sie nicht leer. –

*

Der Regierungsrat von Beer liebte es, im Winter von Zeit zu Zeit kleine musikalische Abendgesellschaften zu geben. Es durften nicht allzuviel Gäste anwesend sein, und die Vorträge mußten im Rahmen ernster Kunst gehalten werden, dies war Bedingung. Obgleich er selbst nicht einmal sehr musikalisch war, hatte er ein feines Gefühl für das, was man gute Musik nannte.

Auf einem dieser Abende lernte Lori Sonja Makasoff kennen, und da sie von Freya schon allerhand von ihr gehört hatte, interessierte sie sich für sie.

Die junge Frau von Beer hatte sich mit dieser kleinen Russin befreundet, sie sang, das wußte Lori, sie war klug und sehr bescheiden. Dennoch war das Bild, das Freya von ihr gab, sehr undeutlich gewesen, und das wunderte Lori, denn von diesem Mädchen hätte man mehr sagen können.

Sie war von kleiner, ein wenig üppiger Gestalt, und ihr Gesicht zeigte regelmäßige, doch grobe Züge, einen breiten Mund, zu starke Backenknochen. Doch lag in den braunen Augen eine so stille Sanftmut, so liebliche Mädchenhaftigkeit, daß dies der Eindruck war, der unbedingt vorherrschte. Sie schien Lori ein Mensch, den man niemals übersehen konnte.

»Eure Russin gefällt mir gut,« sagte Lori zu Hasso.

Er schien ablehnend, erwiderte nur ein gleichmütiges »so.«

»Wenn sie so singt, wie sie aussieht, so verspreche ich mir allerhand.«

»Sie singt gut.« Auch dies war gleichsam obenhin gesagt.

Man ging zu Tisch. »Ich habe dir einen Herrn ausgesucht,« flüsterte Freya ihr zu, »der dich vermutlich gut unterhalten wird.«

»Keelmannsegg?«

Freya nickte im Fortgehen.

Es traf sich, daß sie zwischen Granier und dem Grafen Keelmannsegg saß, und nun begann ein Spiel, das ihr nicht ohne Reiz dünkte, denn der Graf war diesen ganzen Winter über, ja, schon im Vorjahre ihr Verehrer. Granier jedoch meinte, von den Segelfahrten her, die nun schon zwei Sommer hindurch dauerten, ein gewisses Recht auf ihre Freundschaft gewonnen zu haben, und mit ihrem scharfen weiblichen Instinkt ahnte sie, wie wertvoll sie ihm war.

So begann eine Unterhaltung zu dreien, die sich so gestaltete, daß sie zumeist schwieg und nur hin und wieder ein Wort einstreute, so ein Wort, auf das sie beide dann herfielen und sich gleichsam darum stritten. Keelmannsegg war ein großer, auffallend schöner Mensch, und sie dachte, während sie dem Spiel zuschaute, wie gut es wäre, wenn sie ihn lieben, mit dieser Liebe die andere auslöschen könnte. Aber sie fühlte zur gleichen Zeit, daß er sie völlig kalt ließ, daß eher sogar der andere Nachbar ihr nahe stand. Nicht ihren Sinnen, die schwiegen seit jener Liebe völlig, aber es war etwas wie ein gutes Vertrauen zwischen ihnen, wie ein Band, das fest und haltbar war.

So tief war sie in ihrem Gedanken, so abgelenkt, daß sie kaum merkte, als die Hausfrau sich erhob, aber dann wurde sie auch gleich wieder wach, sie wollte versuchen, mit der Russin zu reden, die ihr der einzige wertvolle Mensch deuchte, allein die stand neben Hasso, und mit ihm in ein Gespräch vertieft, das scheinbar nicht so leicht zu stören war. Er beugte sich vor und redete leise, und sie hatte den Kopf gesenkt in ihrer mädchenhaften Art und hörte zu. Was sprachen sie?

Lori trat vorsichtig näher.

»Ich verstehe so gut,« sagte die Makasoff, »daß Sie Bach lieben. Er hat einen männlichen Geist.«

»Und Sie singen heut Brahms?«

»Wollen Sie ihn hören?«

»Ich möchte gern.«

»Ich habe auch ein paar Moderne in der Mappe.«

»Nein, nein, damit verschonen Sie mich bitte.«

In diese Unterhaltung, das sah Lori, konnte sie sich beruhigt mischen. Und doch, als sie zu reden begann, hob die Russin den Kopf aus ihrer lieblichen Gebärde, und Hassos Stimme hatte bei der Antwort einen anderen Klang.

Was ging hier vor?

Nichts?

Da trat Granier herzu. »Sie scheinen,« sagte er, und auch in seiner Stimme war ein sonderbarer Klang, so etwas Verhaltnes, Beunruhigtes, »Sie scheinen sehr befreundet mit diesem Grafen Keelmannsegg zu sein.«

»Wir haben viel miteinander getanzt.«

»Er ist ein auffallend schöner Mensch, Fräulein Lori.«

»So sagen die meisten.«

»Und Sie sagen das nicht?«

»Schöne Männer, Herr Granier, sind niemals mein Geschmack gewesen.«

Es war, als glitte ein heller Schein über sein Gesicht. »Sie verlangen mehr, natürlich, ich verstehe, Sie verlangen in erster Linie Geist.«

»Nicht einmal das,« sagte sie, »nur einen Mann, der wirklich Mann ist. Aber was hat Maria? sie sieht auffallend bleich aus.«

»Maria ist durch dieses Fräulein von Orendorf total verrückt geworden. Wissen Sie, daß sie sich weigern wollte, heut hierher zu kommen. Gesellschaften seien Sünde.«

»Arme, kleine Frau.«

»Wieso, arme, kleine Frau! Sie hat es zu gut, das ist es, zu gut.«

»Still,« sagte Lori, »die Russin singt, ich verspreche mir viel.

Die Russin sang. Sie sang ein ganz kurzes trauriges Lied, aber die Stimme, die Art des Vortrages war vollkommen. Die Töne hatten große Macht, obgleich sie nur leise und gleichsam gedämpft klangen. Eine Seele lag darin. Die Seele eines einsamen Volkes und die Seele einer einsamen Frau.

»Schön,« sagte Lori, als der letzte Ton verklungen war. Es fiel ihr jetzt erst ein, auf Hasso zu schauen, aber der stand abgewandt und schien keinen Teil an der Musik zu haben, sein Antlitz war steinern wie nur je zuvor.

Die Makasoff hatte zwischen ihren Noten gesucht. »Ein Brahms,« sagte sie leise. Und wieder klang die Stimme, wieder war sie verhalten, wieder sprach die große Seele aus dem Liede, und wieder war es still, und der letzte Ton lebte noch fort und schien nur ganz langsam zu verbleichen.

»Noch ein Brahms,« sagte sie schüchtern.

Jetzt stand Lori dicht neben dem Flügel. Sie sah, wie die Makasoff die Augen hob, wie sie scheu und hilflos suchte. Wie dann die armen Blicke an dem abgewandten Beer hängen blieben und langsam schwer und traurig sich senkten. Das alles sah sie, und das arme Lied war gleichsam nur eine Begleitung davon.

»Der Gesang ergreift,« sagte Granier, der Lori gefolgt war, »wie sonderbar, er ergreift.«

»Still,« gebot sie.

Von neuem begann das Singen. Wieder war's nur ein kleines russisches Lied mit all seiner Schwermut, mit all seiner Süße, mit all seiner Seele.

Und jetzt drehte sich Hasso plötzlich um. Einen Augenblick lang traf sich sein Blick mit dem der Russin.

Einen Augenblick lang –

»Ich möchte jetzt nicht mehr singen,« sagte die Makasoff leise und trat zurück.

Später am Abend, es war noch viel musiziert worden, aber die Makasoff hatte nicht mehr gesungen, traf es sich, daß Granier einen Augenblick allein mit Lori war.

Sie saßen unter einer verschleierten Lampe in tiefen bequemen Stühlen, allein es war, als gäbe ihm das Trauliche der Stimmung dennoch kein Behagen. Er war unruhig, in seinem Gesicht zuckte allerlei, sodaß er ihr verändert, fast fremd vorkam.

»Der Graf Keelmannsegg,« sagte er, »macht Ihnen den Hof.«

Sie erwiderte gleichmütig. »Das tut er immer.«

»Es sollte aber nicht so auffällig sein.«

»Warum nicht? ihm macht es Spaß und mir auch.«

»Ihnen auch, Fräulein Lori?«

»Gewiß, mir auch. Was soll man in Gesellschaften anderes beginnen! man flirtet, damit geht die Zeit am besten hin.«

»Er wird Sie heiraten wollen.«

»O nein, Herr Granier.«

»Dann ist es Unrecht, daß er sich so benimmt.«

»Unrecht? wieso?«

Sie schaute ihn mit ihren kühlen Augen, die abends fast katzengrün wurden, ruhig an, da sah sie, wie in seinem guten und freundlichen Gesicht eine große Qual stand. »Wieso Unrecht?« wiederholte sie.

»Weil er Ihnen dadurch andere Männer – ich meine – vielleicht andere Männer, die ernsthafte Absichten haben –« Er stockte, und sie lachte hell auf, dies wundervolle, unbekümmerte Lachen, das er so sehr liebte.

»Andere Männer? woher wissen Sie, Herr Granier, ob ich andere Männer will?«

»Sie werden doch heiraten wollen.«

Da packte sie etwas wie Übermut, sie heftete die Augen auf ihn und sagte gleichsam wie im Scherz: »Wenn nun der einzige Mann, der für eine Ehe für mich in Betracht käme, verheiratet ist –«

Es war einen Augenblick still zwischen ihnen, so still, daß sie dies Schweigen deutlich fühlten. Sie schaute fort und sah nicht, wie er jäh erblaßt war, aber er selbst fühlte es, sein Herzschlag setzte aus, es war, als ob etwas Fremdes, Süßes ihn plötzlich packte und umherriß. Wie ein Taumel war das, nicht allein das Verlangen nach ihr in körperlicher Art, viel mehr noch ein heißes seelisches Wollen, jenen kühlen, sonderlichen Menschen, Lori Beer, zu besitzen. Und als er jetzt sprach, klang seine Stimme wie von weit her, tonlos und heiser. »Ein Mann, den Sie, Fräulein Lori, Sie zum Gatten erwählen, solch ein Mann würde doch durch Himmel und Hölle gehen, um zu Ihnen zu kommen. Durch Himmel und Hölle –«

Sie sah, was sie angerichtet hatte, aber sie lächelte nur, und wieder stach sie der Übermut, und sie wußte diesmal dennoch nicht, ob ihr nicht in ihrem tiefsten Inneren ernsthaft zu Mut war. »Würde er das –« sagte sie ganz kühl und ganz langsam.

Dem Mann ihr gegenüber schwindelte, er sah sie jetzt nur noch wie durch Schleier, auch die Stimme gehorchte nicht mehr. Aber er griff nach Loris Hand, beugte sich über sie und drückte sie an seine Lippen.

*

Im Mai darauf traten zwei Ereignisse ein, die Lori tief bewegten.

Das Eine war die bevorstehende Trennung des Ehepaars Granier. Sie waren noch kaum zwei Jahre verheiratet gewesen, aber der Bruch schien so tief und schwer, daß daran nichts mehr zu heilen war. Und man konnte sich nicht verhehlen, daß Magdalene Orendorf Mitschuld hatte.

»Siehst du, Lori,« klagte die alte Frau von Beer, »das ist nun doch gewiß nicht recht von Magdalene. Der liebe Gott verzeihe mir, wenn ich ihr Unrecht tue, aber ich meine, es ist bestimmt falsch. Sie sollte nicht so sehr auf Granier schelten, er ist doch ein guter Mensch. Wenn er nicht fromm ist und auch nicht fromm werden will, so muß sie ihm das überlassen. Und daß er Maria ständig ihre Frömmigkeit zum Vorwurf macht, ja, sogar darüber lacht, das ist gewiß nicht schön von ihm. Aber wir Gotteskinder sollen sanft sein und auch ein Unrecht, das an uns getan wird, gern auf uns nehmen. Was hat unser lieber Heiland nicht alles gelitten! Nein, es ist nicht recht von Magdalene.«

Der alte Major von Beer aber schalt sie ein ganz verdammtes Frauenzimmer, das die Ehe hintertriebe. Er war überhaupt durchaus gegen diese, seiner Meinung nach übertriebene Frömmigkeit. Auch seine Frau lief viel zu viel in Bibelstunden und Versammlungen Gleichgesinnter, er blieb dann allein, und das paßte ihm nicht.

Lori zuckte die Achseln, sie sah klarer. Sie sah, was andere nicht zu sehen vermochten, daß es nämlich Granier selbst war, der sich von Maria trennen wollte. Und sie wunderte sich über die ungeheure Energie des Mannes, der langsam aber sicher seinen Weg bereitete. Er suchte nach Gründen, er bauschte auf, und wenn auch Maria unter dem Einfluß der Orendorf gewiß falsche Wege ging, so wäre da wohl manches zu heilen, wenn er heilen wollte.

Eines Abends war es zwischen dem Ehepaar zu einer bösen Szene gekommen. Maria, die eben von einer Versammlung zurückkehrte und noch ganz voll der heiligen Worte war, die sie vernahm, hatte in ihrem tiefen Sinnen eine von ihm gestellte Frage überhört. Zur Rede gestellt – er hätte das wohl freundlicher tun können – war ihre Antwort allerdings sonderlich gewesen. Sie sagte nämlich: »Ich muß immer über einen Bibelspruch nachdenken, den ich heut hörte und nicht vergessen kann.«

»Was für ein Spruch?« fragte er spöttisch.

Es kam etwas wie Verlegenheit über sie oder Scham. Sie wußte selbst nicht recht, welches Gefühl das war, doch machte es sie unsicher, und aus dieser Unsicherheit heraus klang ihre Stimme hart, ja, fast ein wenig überhebend. Sie empfand es selbst sehr gut, wie aufreizend das für ihn war, und erschrak, aber was nutzte das! er konnte nicht ahnen, was in ihr vorging.

»Der Spruch,« sagte sie eben in diesem Ton, der so durchaus unangebracht war, »steht im Evangelium Lucä im vierzehnten Kapitel und lautet: So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eignes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.«

Granier war dunkelrot geworden, er starrte Maria an. Als er sprach, es dauerte eine ganze Weile, bis er sprach, war seine Stimme klanglos. »Und das wagst du mir zu sagen!«

»Es ist ein Bibelspruch.«

Sie saßen bei Tisch, das Abendessen war erst soeben aufgetragen, allein er sprang empor und schlug mit der Faust auf, daß Teller und Gläser zitterten. »Das wagst du mir zu sagen! Weißt du in deiner verdammten Überhebung denn nicht, was das für mich bedeutet!«

Sie war weiß wie ein Tuch. »Fritz!« sagte sie, allein das Wort hatte keinen Klang, er hörte es nicht, er sah auch nicht die angstvolle Gebärde, mit der sie die Hände vorstreckte. »Also, das beschäftigt dich!« schrie er jetzt heraus, »solche Gedanken werden dort in dir genährt. Deinem Manne sollst du entfremdet werden, deinen Mann sollst du hassen, weil er nur einfachen Gemüts ist und nicht an dem widersinnigen Zeug, das ihr Weiber euch zusammenfaselt, teilnehmen will. Exaltierte Frauenzimmer seid ihr allesamt! Hassen, hassen sollst du mich! ja, du sollst mich noch hassen lernen!«

Sie war auch aufgesprungen, im Innersten, ja, im Heiligsten verletzt, geriet auch sie in Zorn. »Du lästerst,« sagte sie mit bebenden Lippen, »du lästerst, Gott wird dich strafen.«

»Er hat mich genug gestraft, indem er dich mir zur Frau gab! O, ich Tor! ich Tor! wie konnte ich so in mein Unglück laufen! wie konnte ich dich zur Frau nehmen! Wo ist mein Behagen! wo das freundliche Heim, das ich so sehr ersehnte! Wenn ich nach Haus komme, so tritt mir eine kalte Frau entgegen, die nichts als Bibelsprüche auf den Lippen hat. Oder sie ist gar nicht anwesend, sie ist in einer Bibelstunde, einer Versammlung. Ich kann dann allein sein und daran denken, ja, daran denken, wie's wäre, wenn ich eine andere Gattin hätte. Ich –« Er brach kurz ab, etwas wie ein Schluchzen kam in ihm hoch und erstickte die Stimme.

Maria stand immer noch, obgleich ihr die Füße zu brechen schienen, stand sie und blickte ihn mit erschrockenen Augen an. Dann sagte sie mit einer Stimme, die ihr selbst ganz fremd war. »Ich weiß längst, daß wir nicht zusammen passen.«

»Du weißt es längst, ja?« gab er zurück. »Du wußtest es von Anfang an, nicht wahr? Sag, weshalb hast du mich geheiratet, weshalb?« Sie schaute ihn voll Entsetzen an, schwieg aber, da fuhr er fort, und es klang etwas wie Angst durch die Stimme. »War's um Geld, Maria? sag, war's nur um das Geld?«

Jetzt hob sie die Hände wie in Abwehr, die Gebärde war so rührend, so voller Entsetzen, daß er jäh innehielt. Nach kurzem Schweigen aber fragte er noch einmal. »War's um das Geld?«

Sie strengte sich an, um der Stimme einen Ton zu geben. »Sie redeten mir zu.«

»Und du hast gehorcht?«

»Ja.«

»Und du hast mich gehaßt –«

»Nein, Fritz, nein, nur daß du –«

»Daß ich – Maria?«

»Daß du – nein – daß ich all dies, was du Liebe nennst, – nicht verstehen konnte, und du –«

»Und ich keinen Sinn für deine Überspanntheiten besaß, keinen Sinn für all den Unsinn, den du treibst.«

»Fritz!« schrie sie auf und hob wieder die armen blassen Hände. Aber sein Zorn war zu groß geworden, er wußte kaum mehr, was er sprach. Der Zorn wuchs mit den Worten, alles, was sich in ihm gegen sie gesammelt hatte an Empörung, brach los.

»Du läufst von früh bis spät aus dem Haus, streust mein Geld aus, und niemand weiß, wo es bleibt. Du bist hoheitsvoll und überhebend gegen mich, dünkst dich wer weiß was und hast nur Worte, die mich beleidigen müssen. Deine Sippe dort, diese Weiber –«

Sie war schneeweiß zurückgewichen. »Ich verbiete dir, gegen meine Freunde etwas zu sagen.«

»Du verbietest? du wagst auch noch, mir etwas zu verbieten! Was bin ich denn noch in deinen Augen! als was gelte ich denn!« Seine Stimme sprach mit unheimlicher Ruhe, aber in seinen Augen war nichts als Haß. »Als was gelte ich denn! Als was habe ich dir je gegolten.« Und er schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und fiel in seinen Stuhl zurück.

Sie stand immer noch mit schneeweißem Gesicht. »Fritz,« sagte sie leise.

Er schaute nicht auf.

»Fritz,« wiederholte sie. Sie trat einen Schritt vor und streckte die Hand aus, als wollte sie sie ihm reichen, aber sie hielt sich zurück. Und endlich nach einem langen Schweigen kamen ein paar dünne Worte von ihren Lippen. »Fritz, ich werde fortgehen.«

Jetzt hob er den Blick, die Augen trafen sich. In den ihren war Schmerz, in den seinen etwas Sonderbares, etwas wie Hoffnung. »Fortgehen?« wiederholte er.

»Wir quälen uns, Fritz, ich quäle dich, ich weiß es, und das kann Gott nicht wollen. Er, der mein Herz so schuf, wie es ist, kann nicht wollen, daß ich dir eine Last bin. Es ist alles Prüfung, es ist alles geschickt, um uns zu läutern. Ich werde gehen, – dann finden wir beide – du und ich, – beide vielleicht den Frieden.«

Er schwieg immer noch, immer noch saß er gleichsam zusammengefallen in seinem Stuhl. »Du gibst mich frei?« sprach er endlich.

»Ja, Fritz.«

Da stand er auf und ging auf sie zu, und wieder war dies Sonderbare in dem Blick, mit dem er sie anschaute, dies Unverständliche, das aussah wie Hoffnung. Er wollte etwas sagen, aber es kam doch nichts heraus. Nur die Hand reichte er hin, und als sie sie ergriff mit diesen armen, kalten Fingern, da ging es wie ein Zucken durch ihn hin, und heiser wie mit dem letzten Aufwand von Kraft sagte er kurz: »Leb wohl.«

Dann schritt er zur Tür, er zögerte noch einmal und ging plötzlich wie in Hast hinaus.

Am nächsten Morgen in aller Frühe verließ Maria das Haus.

*

Lori stand dieser ganzen Angelegenheit seltsam fremd und kühl gegenüber, und doch empfand sie tief im Innern, wie bedeutungsvoll dies alles für sie war. Sie wußte, wie Granier fühlte, und daß er kein Mittel scheuen würde, um die Scheidung zu erreichen. In ihm war der Haß gegen die sich ihm von Anfang an versagende Frau, die er nicht verstand, deren Scheu und Zagen er nicht begreifen konnte, weil sie ihm wie eine Beleidigung gegen ihn selbst vorkam, schon in der ersten Zeit der Ehe wach geworden. Jetzt loderte er so stark, daß er ihn ganz erfüllte. Und das andere Gefühl, das Neue, Starke Lori gegenüber, gab das seine dazu.

Aber sie selbst, was fühlte sie? vielleicht in Augenblicken den starken sinnlichen Reiz, der von dem Manne ausging, vielleicht ein kurzes, heißes Zucken, aber doch zuallererst das tiefbegründete Gefühl des Vertrauens: dieser Mann liebt mich, er wird für mich sorgen. Ein sonderbar stilles Gefühl, das gut tat und beruhigte.

Das zweite Ereignis, das sie nicht im geringsten selber anging, dem sie ganz fern stand, schien ihr ungleich ergreifender: Sonja Makasoff hatte sich das Leben genommen.

An einem sonnigen Maitage, in der Frühe, war sie von der Fußgängerbrücke, die vom Lützow-Ufer über den Kanal nach der Königin Augusta-Straße führt, hinabgesprungen. Da sich um diese Tageszeit zufällig niemand in der Nähe befand, konnte sie nicht gerettet werden, und erst zwei Tage später landete die Leiche eine ganze Strecke unterhalb im trüben Wasser.

Sie hatte jedoch anscheinend den Schritt sorgsam überlegt, jedenfalls alles in einem Brief an ihre Mutter genau beschrieben: Wie sie gerade von jener Brücke hinab springen wollte, weil sie diesen Teil von Berlin am meisten liebe. Und wie sie gern aus dem Leben schiede. Das Leben, so meinte sie, sei zu stark für eine schwache Frau. Sie habe ihm niemals mit klaren Augen entgegenschauen mögen, schon als Kind nicht, aus unbestimmter Furcht. Und jetzt könnte sie nicht anders als sterben.

All diese Einzelheiten erfuhr Lori durch Freya. Sie war zu ihr gegangen, denn es kam ihr vor, als müßte sie den traurigen Fall besprechen. Als könnte sie dies nicht mit sich allein abmachen.

Doch Freya Beer war nicht der rechte Mensch zu solchen Mitteilungen. Sie erzählte zwar alles eingehend und mit vielen Gesten und Ausrufen, aber unter ihren Worten gestaltete sich die Unterhaltung zu einem Klatsch. Und Lori fühlte sich abgestoßen, stand hastig auf und wollte davongehen.

Gerade in diesem Moment kam Beer herein. Es schien Lori, als sei er, seit sie ihn das letztemal sah, blasser und schmaler geworden, als lägen die Augen tiefer als sonst und blickten härter. Sie brachte dies veränderte Aussehen sogleich durch irgend ein instinktives Fühlen mit dem Tode der Russin zusammen. Und er wiederum empfand ihre Gedanken und suchte sich straffer aufzurichten und runzelte die Stirn.

»Lori kam,« sagte Freya, »um mit mir über Sonja zu sprechen.«

»Und ich kann mir die Vermutungen und den Klatsch denken, den ihr Weiber ausgesponnen habt,« erwiderte er.

Dagegen empörte sich Freya und rief ihr »Gott, Hasso!« in der schärfsten Art aus. Aber Lori schwieg und schaute ihren Bruder traurig an. Er war wund innerlich, deshalb sprach er so bitter.

»Siehst du,« klagte Freya, »so ist dein Bruder stets. Weiber nennt er uns und in dem Ton. Ich kann nicht sagen, wie ich das hasse.«

Und Lori nickte ihr zu und erklärte in merkwürdiger und fast lustiger Art, daß sie von den Männern im allgemeinen durchaus nichts hielte. Die Starken seien brutal oder faul und die Schwachen feige. Es gäbe nur wenig Ausnahmen, und wenn man eine fände, sollte man froh sein und sie fest an sich zu ketten versuchen. Im übrigen wären die Frauen auch nicht besser.

»Woher hast du das?« fragte Hasso.

»Aus meinem Kopf, mein Lieber.«

»Ist es wahr, daß es Frauen gibt, die selbständig denken?« fragte er wieder. Dazu kniff er, wie in Nervosität, die Augen zusammen und bot sich schließlich an, als Lori sich zum Gehen wandte, sie zu begleiten.

Da sagte Hasso: »Ich habe schon manchmal gemeint, in dir sei mehr, als du zeigst, Lori. Ich bin heute wieder auf den Gedanken gekommen. Aber sage mir: denkst du nur, oder kannst du auch fühlen?«

Sie antwortete: »Ich bin leider so stark im Empfinden, daß ich nicht denken kann, ohne zu empfinden.«

»Höre weiter: wenn dir jemand etwas mitteilen würde, was du nicht begreifen kannst, was tätest du dann?«

Sie lächelte. »Alles Menschliche kann ich begreifen, denn es steht mir selbst – ich möchte sagen, mir körperlich – nahe. Nur das Unwahre kann ich nicht verstehen.«

Dann schwiegen sie.

Sie waren die Alsenstraße entlang gegangen und schritten auf die Siegesallee zu. Hier bogen sie in einen der kleinen Wege ein, die durch den Tiergarten führen. Bei einer leeren Bank blieb er stehen. Sie nickte ihm zu, und ohne ein Wort zu sprechen, setzten sie sich.

Das Grün um sie her duftete zart, die Sonne schien, die Vögel sangen. Es waren um diese Zeit nicht viele Menschen im Tiergarten, nur ein paar Kinder, und deren helle Stimmen störten nicht.

Ihr Schweigen dauerte lange, es war das gute Schweigen der Menschen, die sich verstehen. Sie wußten beide, worüber sie sprechen würden, wenn sie erst zu sprechen begonnen hatten. Nur der Anfang war schwer.

Lori Beer hatte in das Grün geschaut, erst als sie merkte, daß er eine Bewegung machte, sah sie ihn an. Sie sah, daß er in die Brusttasche griff und einen gefalteten Brief herauszog. Den gab er ihr und sagte: »Lies.«

Sie las folgendes:

 

Mein Hasso! Einmal in meinem Leben möchte ich Dich so und mit Du anreden. In Gedanken tat ich es immer. In Gedanken gab ich Dir noch viele andere Namen und habe Dich geküßt und an mich gedrückt. Hundertmal, Hasso, viele hundert Mal.

Du hast die Liebe in mir sicherlich nicht mit Willen entzündet. Aber das gerade schmerzt mich. Und wie sehr schmerzt es mich, daß ich sie einsam tragen muß. Alle meine Nächte gehörten Dir, und Du wolltest nicht eine.

Nicht eine, Hasso, warum hast du sie mir nicht gegönnt! Du hättest kein Unrecht getan und mich reich gemacht. So reich, daß ich dem Leben vielleicht mit Stolz ins Gesicht schauen könnte oder dem Tod mit Freude.

Nun aber gehe ich, ohne glücklich gewesen zu sein, zu den dunklen Schatten.

Leb wohl, mein Hasso, Du blasser, grauer Verstand.

Sonja Makasoff.

 

Lori las den Brief, ließ ihn sinken und las ihn wieder, dann gab sie ihn schweigend dem Bruder zurück. Ihre Augen suchten seine Blicke. Ihre Augen waren groß und traurig. Endlich sprach sie: »Es sind nicht die Schlechten, die in der Liebe untergehen, nur die Schwachen. Wenn schwache Frauen zu denken beginnen, Hasso, so fallen sie meist. So oder so, – die Oberflächlichen haben mehr Sprungkraft.«

Er lächelte ein wenig bitter. »Sentimental bist du nicht,« sagte er kurz. »Du gibst eine Analyse, ich glaubte, du könntest anderes geben.«

Da reichte sie ihm die Hand. »Versteh mich nicht falsch, Hasso. Ich ging um das Persönliche herum, weil ich nicht wußte, ob du es mit mir besprechen wolltest. Bedenke, daß wir Geschwister sind, und daß sich gerade Geschwister meist gewöhnen, im allgemeinen zu reden.«

Er hatte ihr, während sie sprach, herzlich die dargereichte Hand gedrückt, antwortete jedoch nicht. Und das alte Schweigen kam wieder über sie.

Schließlich sprach Beer: »Höre, Lori, da du meinst, Menschliches stände dir nahe, so will ich dir sagen, was mir schwer wird, zu gestehen: Ich leide unter dem Tode der Russin.«

Lori schüttelte den Kopf. »Du brauchst nicht zu leiden, gerade weil sie den Brief schrieb, nicht. Dieser Brief zeugt von großer Schwachheit und klagt dich an. Wäre sie gestorben, ohne dir zu schreiben, so hätte sie viel größer und freier gehandelt. Der Brief ist eine Sentimentalität.«

»Sie war nicht sentimental,« unterbrach er sie. »Ich leide unter dem Brief, Lori, unter jedem Wort. Es ist mir zumute, als sei ich in eine große Schuld geraten. – Du mußt wissen, ich kenne die Frauen im Grunde wenig, sie waren mir meistens uninteressant. Als junger Mann hatte ich wohl Liebschaften, aber nicht viele und sehr gewählte. Mein Sinn war immer auf die Arbeit gerichtet, und mein Verstand wog zehnmal schwerer als mein Herz. Wie Freya meine Frau ward, weißt du, ebenso wie du meine Stellung zu ihr kennst. Ich kann mit ihr nicht glücklich sein, aber ich ertrage sie, weil sie die Mutter meiner Söhne ist und ich leider ihr Geld brauche.«

Er hielt inne, da fragte sie: »Warum erzählst du mir das alles? hat es irgend einen besonderen Grund?«

»Den einen nur, dich genau in mein Empfinden schauen zu lassen. Die Hauptsache kommt erst jetzt: die Russin war ein Mädchen, das auf jedes Mannes Sinne wirkte. Sie selbst hatte ein leidenschaftliches Temperament und war üppig und doch scheu dabei. Vielleicht war ich näher daran, sie zu verführen, oder mich von ihr verführen zu lassen – denn immer sind's die Frauen, die verführen –, als ich selbst glaubte. Nur meine Arbeit hielt mich davon ab. Aber verstehst du, Lori, daß sie das empfand? Sie kannte meine Ehe, sie wußte, wie mein Körper ihr entgegenkam, und daß mein Geist nur gegen sie strebte. Erkennst du darin meine Schuld?«

»Sie beklagt sich gerade darüber, daß du deinen Geist gegen deinen Körper streben ließest,« erwiderte Lori.

»Weil sie ein Weib war,« sagte er hart, »und als solches ohne moralisches Empfinden. Sie kannte nur das Verlangen des Augenblicks. Daß sie sich und mir als denkendem und gewissenhaftem Menschen Verpflichtungen auferlegte, ließ sie außer acht. Also in dem Falle liegt keine Schuld auf mir. Es ist etwas anderes.« Wieder stockte er und strich sich mit der Hand über die Stirn, dann fuhr er in sichtlicher Erregung fort zu sprechen: »Unsere Handlungen, Lori, wiegen oft leichter als unsere Gedanken und Gefühle, denn unsere Handlungen sind seelenlos und unser Empfinden hat Seele. Es springt über, es nistet sich im anderen ein, es klingt nach. Es lebt! verstehst du auch dies, Lori.«

Sie sagte: »Ich verstehe.« Dann schwiegen sie wieder.

Gefühle haben Seele. – Das waren anfangs fremde Worte in ihren Gedanken, allein sie wurden ihr sehr bald vertraut. Und dann begriff sie plötzlich nicht mehr, wie sie dies nicht schon vorher hatte denken und fühlen können. Es schien ihr eine helle und klare Wahrheit –, etwas, das unendlich viel erklärte.

Gefühle haben Seele.

Die Neuheit dieses Gedankens beschäftigte sie so stark, daß sie für Augenblicke ihren Bruder vergaß, doch mahnte sie sein Anblick bald wieder an die Wirklichkeit und an das, was er von ihr erwartete. Darum sprach sie nach kurzem Besinnen: »Es ist mit Schuld und Unschuld so wie mit Recht und Unrecht, Hasso, jeder Mensch urteilt individuell. Ich spreche dich in dem Fall mit der Russin frei, denn wenn wir das Schuldgefühl so weit ausdehnen würden, so müßten wir Menschen darin ersticken.«

»Du sprichst, wie du es verstehst,« antwortete er. »Ich aber fühle meine Schuld.«

»Und leidest unter ihr?«

»Ja.«

»Hasso, das geht zu weit, deine Gewissenhaftigkeit ist pedantisch.«

»Darum, Lori,« sagte er, »muß ich auch die nötige Stärke besitzen, um mich zu ertragen.«

Aber Lori schüttelte den Kopf, sie faßte ihn am Arm und rief: »Wenn du auch stark genug bist, so denke daran, daß du noch härter wirst durch jede neue Last. Und du hast Söhne, Hasso, denen deine Härte vielleicht ihr Leben vergiftet.«

Er verzog keine Miene bei ihren Worten, nur seine Augen öffneten sich weiter wie im Schmerz. Dann erhob er sich und reichte ihr abschiednehmend die Hand. Allein sie ließ das außer acht, sie schaute ihm ins Gesicht und sagte: »So darfst du nicht von mir gehen, Hasso, du darfst nicht gehen, ohne mir von Freundschaft zu reden. Daß du mir heut all dies erzähltest, war ein großes Zeichen von Vertrauen, ich danke dir dafür. Mehr noch danke ich dir, daß du mich jetzt nicht in trivialer Art um Stillschweigen batest. Mein alter Hasso, wenn wir auch verschieden denken, so verstehen wir uns doch und brauchen uns auch. Ich zu allermeist brauche einen Freund, denn ich bin unendlich einsam. Und du brauchst einen Freund, der weicher ist, als ihr Männer es gewöhnlich seid, verstehender und fühlender. Wir können uns viel geben, Hasso, willst du mein Freund sein.«

Er nickte und lächelte, und sie reichten sich die Hand zum festen Druck.

Ihre Augen waren traurig, aber sie fühlten doch etwas wie ein zartes und scheues Gluck.

*

Maria Granier war still fortgegangen und still fortgeblieben. Man konnte ihr nicht absprechen, daß Größe in der Art war, wie sie handelte. Sie ging auf alle Vorschläge ihres Gatten, die Scheidung betreffend, ein, ja, sie fügte sich in so rührender Art, daß ihre Trennung keine Entzweiung mehr bedeutete. Nur eine Bedingung stellte sie: nach Berlin zurückkehren zu dürfen, sie wollte bei Magdalene Orendorf bleiben, die ihr Halt und Schutz war.

»Siehst du,« sagte die alte Frau von Beer zu ihrem Gatten, »siehst du, Maria ist doch ein prächtiger Mensch. Wie wäre das auch anders möglich, als Tochter ihrer Mutter.«

Aber der Major war unversöhnlich. »Ich muß gestehen,« gab er zurück, »wenn du mir mit solch einem Bibelspruch gekommen wärst, ich hätte auch auf den Tisch geschlagen, daß die Gläser wackelten.«

»Aber Mann, der Spruch ist ganz anders zu verstehen. Er ist an die Jünger gerichtet, und –«

»An die Jünger oder nicht, er ist sehr gefährlich, kann von euch Weibern zu leicht falsch verstanden werden. Du bist ja eine vernünftige Frau, ich weiß das, Gott sei Dank, aber die Magdalene kriegt noch mal was von mir zu hören, das ihr nicht sehr gut in den Ohren klingt.«

– – Es ging nun schon wieder in den Herbst, Oktobernebel blauten, Sonne schien, und Farben lohten heiß und wild, da bekam Lori eines Morgens einen Brief, den sie niemals erwartet hatte. Der Brief war von Pachoix.

Ich bitte Dich, Lori, – so hieß es – am Dienstag Morgen gegen 11 Uhr wieder an jenem Teehaus zu sein, das unsere erste Begegnung sah. Ich weiß nicht, ob Du mir verzeihen kannst, aber da ich Deine groß angelegte Natur kenne, hoffe ich es. Ich jedenfalls habe Dich niemals vergessen können, selbst nicht während ich drüben war, und wenn ich nicht schrieb, so war das vielleicht nur Scham, so an Dir gehandelt zu haben. Jetzt aber packt mich die Sehnsucht so stark, daß ich trotz allem den Versuch machen will, Dich zu sehen. Lori, kannst Du noch fühlen wie ehemals? ich bitte Dich zu kommen. –

Lori war wie vor den Kopf geschlagen, im Anfang begriff sie nicht, was er wollte, er hatte sie doch verlassen, ohne ein Wort des Abschieds war er fortgegangen, wie war es möglich, daß er nun wieder dort anknüpfen wollte, wo er doch selbst alles zerriß! Sie hatte im ersten Augenblick den Brief voll Zorn und Scham vernichten wollen, er lag schon zerknittert auf dem Boden, aber dann ward sie wieder ruhig.

– Vielleicht – so dachte sie, – ist dies mir auferlegt, ein Prüfstein gewissermaßen für meine Gefühle. Ich weiß selbst nicht mehr, ob ich ihn noch liebe, ich weiß sogar nicht einmal, ob ich mich freue. Vor einem Jahr wäre ich in einen Taumel des Glücks geraten, damals klang doch immer und immer sein Name in meinem Herzen fort, ich sprach ihn unwillkürlich aus, und sein Widerhall war Schmerz und Glück. Jetzt ist alles tot. –

Ich werde nicht in den Schloßpark gehen. –

Allein am Nachmittag und Abend wurde sie in dem Beschluß unsicher, und als der Morgen kam, ging sie doch um die bestimmte Stunde hinaus.

Es war still und feierlich in der großen Natur. Die Wasser, nebelverhangen und voller Geheimnisse hüllten sich in ein stumpfes Grau. Aber die Ferne war wie in Blau getaucht, wie verwunschen in diese lieblich verschwimmende Farbe. Und die Bäume standen in unwahrscheinlicher Pracht, ganz in Rot, ganz in Gold, ganz in leuchtendem Braun. Verträumt blickte das Teehaus, verträumt lauschten die stillen Wege dem Blattfall, und die Tannen schwiegen dunkel und starr.

Lori stand und fühlte die Schönheit, und etwas wie Erwartung fuhr hell durch ihre Gedanken. Und dann sah sie die schmale Gestalt den Weg hinab kommen, denselben Weg wie damals am Morgen im Frühling. War es dieselbe Gestalt? – er deuchte ihr kleiner, sein blasses Gesicht, – war dies dasselbe Gesicht!

Und dann spielte sich die Begegnung ab, kurz und fremd. Fremd, fremd! – Denn wie sollte sie das Empfinden, das jetzt in ihr war, mit jenem anderen, um das sie doch wußte, das sie ausgefüllt hatte bis an den Rand, in Einklang bringen! Der Mann dort vor ihr mit den schlanken Gesten, den eindringlichen Augen war derselbe, den sie so unsagbar liebte, und war es doch nicht. Nein, er war es nicht.

Sie sprachen miteinander, und seine Stimme hatte wieder den werbenden Klang. Und doch mußte sie lächeln, doch war dies alles nichts mehr für sie.

In kühler Art, ein wenig müde gab sie Antwort.

Er versuchte vom Einst zu sprechen.

Sie wehrte ab.

Er sagte, wie schön sie geworden sei, wie verändert.

Wieder wehrte sie ab.

Da fing er an, sie zu beschwören. Und darauf hatte sie nichts als ein kühles Kopfschütteln. Sie hätte ihm vielleicht allerlei vorhalten können, aber wozu –? Man mußte diesen Vormittag ertragen und dann Abschied nehmen, um sich nicht mehr wiederzusehen. Nur als er sie küssen wollte, gab sie mit hartem Lächeln ein hartes, böses Wort.

Dann trennten sie sich, und sie ging langsam und versonnen heim. War sie noch ärmer geworden? sie wußte es nicht.

– An diesem selben Abend schrieb sie den Brief an Granier, der schon lange hätte geschrieben werden müssen, denn er hatte ihr vor Wochen mitgeteilt, daß er frei sei und nichts anderes wünschte, brennend wünschte, als ihr Jawort zu besitzen. Es war ein guter Brief voll Liebe, voll Leidenschaft und doch auch voll Bescheidenheit. Ein wohltuender Brief, der gefallen mußte und gewiß viel Sorgfalt gekostet hatte.

In ihrer Antwort stand folgendes:

 

Wir haben, lieber Fritz Granier, uns wohl vom ersten Augenblick an gut verstanden, und daß wir das taten, das gibt mir gewissermaßen eine Garantie für uns beide. Ich verhehlte Ihnen nie, wie ich bin, und was mir an guten Eigenschaften fehlt, aber eins möchte ich noch betonen, das Wichtigste in meinem Empfinden für Sie: das unbedingte Vertrauen zu Ihrem Wesen und zu Ihrem Charakter. Und wenn ich selbst, Fritz Granier, erst noch ruhiger, gleichmäßiger und abgeklärter werden muß, so bitte ich um Nachsicht und um eine freundlich feste Hand, die mich führt und leitet. Es wird dann alles gut werden.

In dieser Zuversicht gebe ich gern meine Hand zu dem Bund, den wir schließen wollen, und erwarte Sie mit Freude im Herzen als Ihre

Lori Beer.

 

Im Frühjahr darauf fand die Hochzeit statt.


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