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Moosbrugger und Rachel

 

Mit dem Laden und dem anstoßenden Zimmer und den zwei Ausgängen war es nichts geworden; Clarisse war erschienen und hatte erklärt, daß sich der Miete im letzten Augenblick Schwierigkeiten entgegengestellt hätten; man müsse nehmen, was da sei, die Zeit dränge, und das Schicksal hänge vielleicht von Viertelstunden ab. Sie habe einen anderen Raum gefunden. Ob Rachel ihre Sachen schon eingepackt und beisammen habe: Das Auto warte unten. Es sei leider kein schöner Raum. Und vor allem sei er noch nicht möbliert. Clarisse habe aber schnell das Nötigste hineinstellen lassen. Jetzt handle es sich aber nur darum, rasch Moosbrugger unterzubringen. Alles andere lasse sich morgen ordnen. Und das Heutige sei nur vorläufig. – Den größeren Teil dieses Berichts stattete Clarisse schon im Auto ab. Die Worte wirbelten. Rachel fand keine Zeit sich zu besinnen. Der Fahrpreisanzeiger, von einem kleinen Lämpchen halb beleuchtet, rückte ohne Aufhören vor; Rachel hörte bei jeder Umdrehung der Räder das Knacksen des Kilometerzählers, so wie wenn ein Gefäß einen Sprung hat und unaufhörlich tropft; Clarisse drückte ihr im Dunkel der alten Droschke einen Haufen Geld in die Hände, und Rachel hatte zu tun, um ihn in ihre Taschen zu stopfen; das Papier quoll dabei auf, einzelne Blätter segelten davon und mußten wieder eingefangen werden; und Clarisse half ihr lachend suchen, und der Rest des langen Wegs war ganz davon ausgefüllt.

Der Wagen hielt in einer abseitigen Gasse vor der baufälligen Front eines alten »Hofs«; das sind tiefe Grundstücke, wo von einem schmalen Gassenteil niedere Flügel nach hinten laufen, mit Werkstätten, Ställen, Hühnern, Kindern, und den kleinen Wohnungen großer Familien, die sich unmittelbar auf den Hof öffnen oder, einen Stock höher, auf einen ins Freie hinaushängenden, von außen alles verbindenden Gang. Clarisse half Rachel schleppen und schien den Hausmeister vermeiden zu wollen; sie stießen an Wagen, die im Dunkel standen, an Werkzeuge, die überall herumlagen, und an den Brunnen, aber sie kamen unbehelligt bis zu Rachels neuer Wohnung. Clarisse hatte eine Kerze in der Tasche und fand mit ihrer Hilfe eine große Petroleumlampe, an die sie sich erinnert hatte, um sie vom Dachboden ihrer Eltern zu entführen. Es war ein hohes, in Metall getriebenes Stück, das alle letzten Fortschritte, welche die Petroleumzeit gemacht hatte, kurz ehe sie von der elektrischen Hausbeleuchtung endgültig verdrängt wurde, in sich faßte und das ganze Zimmer, weil der Schirm fehlte, mit massigem Licht füllte. Clarisse war sehr stolz darauf, aber sie mußte eilen, da sie den Wagen an der nächsten Ecke warten ließ, um Moosbrugger zu holen.

Rachel traten die Tränen in die Augen, sowie sie allein war und sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut machte. Der dicke weiße Lichtschein war fast das einzige, was es in dem Zimmer gab, außer den schmutzigen Wänden. Aber der Schreck hatte Rachel ungerecht gemacht; bei genauerem Hinsehen fand sich an einer Wand ein schmales Eisenbett, auf dem so etwas wie Bettzeug lag, in einer Ecke war ohne Ordnung eine Anzahl Decken aufgehäuft, die wohl das zweite Lager darstellen sollten, Decken hingen auch vor den Fenstern und der Türe, die ins Freie führte, und bildeten vor einem kleinen, sehr einfachen Tisch eine Art Teppich, auf dem auch noch ein gehobelter Stuhl stand. Rachel setzte sich seufzend darauf und zog ihr Geld hervor, um es in Ordnung zu bringen. Nun erschrak sie wieder, diesmal aber über die Größe, ja den Überfluß des Betrags, den ihr Clarisse im Dunkel des Wagens ohne alle Vorsicht zugesteckt hatte. Sie glättete die Scheine und barg sie in einem Täschchen, das sie am Busen trug. Wenn sie gewußt hätte, daß sie vor dem Tische saß, an dem Meingast sein großes Werk geschaffen hatte, und daß auch das schmale Eisenbett seines gewesen war, hätte sie vielleicht einiges mehr verstanden. So seufzte sie bloß noch einmal, aber doch schon beruhigter über die Zukunft, und entdeckte auch noch einen alten Herd, einen Spirituskocher und etwas Geschirr, ehe Clarisse mit Moosbrugger zurückkam.

Dieser Augenblick war wie der schreckliche Augenblick beim Zahnarzt, wenn man ins Zimmer gerufen wird, was Rachel bisher nur ein einzigesmal kennengelernt hatte, und sie stand gehorsam auf, als die beiden eintraten.

Moosbrugger ließ sich von Clarisse ins Zimmer führen, wie ein großer Künstler in einen Kreis von Menschen eingeführt wird, die auf ihn warten. Er wollte Rachel nicht bemerken und musterte zuerst den neuen Raum, dann erst, nachdem er nichts auszusetzen hatte, richtete er seinen Blick auf das Mädchen und nickte einen Gruß. Clarisse schien ihm nichts mehr zu sagen zu haben; sie schob ihn, ihre winzige Hand an seinem riesigen Arm, gegen den Tisch zu und lächelte bloß. Sie lächelte so, wie es jemand tut, der alle Muskeln bei einem gewagten Unternehmen anspannen muß und dazu lächeln will, so daß sich die zarten Gesichtsmuskeln scharf zusammenziehen müssen, um sich zwischen der Pressung aller anderen durchzuzwängen. Diesen Ausdruck behielt sie auch bei, als sie ein Pack Eßwaren auf den Tisch stellte und den beiden anderen erklärte, daß sie keine Minute mehr bleiben könne und eilig nach Hause müsse. Sie versprach, am nächsten Morgen gegen zehn Uhr wiederzukehren, und dann solle alles in Ordnung gebracht werden, was im Augenblick noch fehle.

So war nun Rachel mit dem bewunderten Mann allein. Sie deckte den Tisch mit einem Kissenüberzug, da sich kein Tischtuch vorfand, und breitete den Aufschnitt, den Clarisse mitgebracht hatte, auf einem großen Teller aus. Diese Pflichten kamen ihrer Verlegenheit sehr zu Hilfe. Dann sagte sie, das Essen auf den Tisch stellend, in gewähltem Deutsch: »Sie werden Hunger haben«; diesen Satz hatte sie sich inzwischen ausgedacht. Moosbrugger war aufgestanden und bot ihr mit einer galanten Bewegung seiner großen Pratze seinen Platz an, denn es zeigte sich, daß nur dieser eine Stuhl vorhanden war. »Oh danke,« sagte Rachel »ich esse nicht viel, ich werde mich dorthin setzen!« Sie nahm zwei Scheibchen von dem Teller, den ihr Moosbrugger reichte, und setzte sich damit aufs Bett.

Moosbrugger hatte ein grauenerregend langes Schnappmesser aus der Tasche gezogen und bediente sich damit beim Essen. Er hatte in den Tagen seiner Flucht unregelmäßig und schlecht gegessen und entwickelte großen Hunger. Rachel benützte die Gelegenheit, um ihn zu betrachten; richtiger gesagt, sie mußte das tun, denn sobald sie nur in der Richtung des Tisches sah, wurde ihr ganzes Auge von der Erscheinung dieses Mannes ausgefüllt, ja mehr, seine Erscheinung überfüllte ihr Auge, ging auf allen Seiten über den Rand hinaus, und Rachel konnte ihren Blick richtig spazierenführen; über die ganze Breite der Brust oder von der Tischkante zu dem dichten Schnauzbart, auch von dem Kinn bis zum Dach des mächtigen Schädels war das zum Beispiel ein weiter Weg, und in den rotblonden Haaren der gewaltigen Fäuste konnte man verweilen wie in einem Gebüsch. In Rachel waren einstweilen alle Gedanken und ein Teil der Träumereien wieder zurückgekommen, deren Gegenstand einstens Moosbrugger gewesen war. Vor allem suchte sie sich zu vergegenwärtigen, wie viele Frauen sie jetzt um die Lage beneiden möchten, in der sie sich befand. Für sie war Moosbrugger ein großer und berühmter Mann, ganz der Wahrheit entsprechend, wenn man die Unterschiede des öffentlichen Ruhms beiseite läßt, die zwar gemacht werden, aber keineswegs genau und deutlich sind. Sie übersah nicht das Fürchterliche an diesem Ruhm, der durch blutige, grausame, ja sogar heimtückische Taten erworben war, denn sie zitterte vor Angst, obgleich sie auch vor Aufregung glühte. Aber wie alle Menschen bewunderte sie an dieser Grausamkeit die Kraft, und wie alle ursprünglichen Menschen setzte sie voraus, daß diese herkulische Kraft in Berührung mit ihr nicht gefährlich sein, sondern sich zum Guten umlenken werde, so daß ihre Furcht ihr nur als kleinmütige äußere Gewohnheit vorkam, während ihre Seele immer tapferer wurde, je länger sie mit Moosbrugger beisammen war. Und in der Tat, wer in der richtigen Beziehung zu Verbrechern lebt, lebt zwischen ihnen so sicher wie zwischen anderen Menschen.

Moosbrugger hatte nicht richtig gefunden, sich bei einem so wichtigen Geschäft, wie es das Essen ist, durch die Blicke des Mädchens stören zu lassen. Nun aber lehnte er sich nach getaner Arbeit zurück, klappte sein Messer zu, strich die Reste von seinem Schnurrbart und sagte: »Na, kleines Fräulein, jetzt wäre wohl ein Glas Schnaps nicht ohne –«

Rachel beeilte sich, ihm zu versichern, daß keine alkoholischen Getränke im Hause seien, und sie fügte die Lüge hinzu, daß Clarisse ihr auch aufgetragen habe, keine anzuschaffen.

Moosbrugger hatte es gar nicht so ernst gemeint. Er war kein Trinker, ja er hütete sich selbst vor dem Alkohol, dessen unberechenbare Wirkung er fürchtete. Aber er hatte monatelang keinen Tropfen gesehn und hatte sich nach der reichlichen Mahlzeit gedacht, es wäre nicht übel, an diesem langweiligen Abend einen zu versuchen. Er ärgerte sich über die Abweisung. Diese Weiber setzten ihn ja ordentlich gefangen. Aber er ließ es sich nicht merken und nahm sich vor, die Unterhaltung in bester Form fortzusetzen.

»Da wären wir also sozusagen wie Mann und Frau bis auf weiteres, kleines Fräulein,« begann er »wie soll ich dich denn nennen?« Er gebrauchte das natürliche Du der einfachen Leute; es war Rachel nicht unangenehm, aber ebenso natürlich blieb sie beim Sie. »Ich heiße Rachel oder Rachèle, wie Sie wollen.«

»Oh, lala, Rachèle, alle Achtung!« Er sprach den französischen Namen zweimal mit Genuß aus. – »Und Rachel war die schönste Tochter Labans« – er lachte galant.

»Erzählen Sie mir, wie Sie die Maurer besiegt haben!« bat Rachel. Um etwas noch Aufregenderes traute sie sich nicht zu bitten.

Moosbrugger wandte sich ab und drehte eine Zigarette. Er war beleidigt. In seinen Kreisen galt so eine Frage für eine unerlaubte Vertraulichkeit bei flüchtiger Bekanntschaft. Er rauchte mehrere Zigaretten hintereinander. Er langweilte sich. Unbedeutende, zudringliche Frauenzimmer waren nichts für ihn. Er wurde schläfrig. Er war es jetzt aus dem Gefängnis und der Anstalt gewohnt, sehr früh zur Ruhe zu gehn.

Rachel ärgerte sich darüber, daß er so rücksichtslos rauchte. Sie hatte wohl auch das Gefühl, etwas schlecht gemacht zu haben, aber sie wußte nicht was.

Moosbrugger stand auf, vertrat sich die Beine und gähnte.

»Wollen Sie zur Ruhe gehn?« fragte Rachel.

»Was soll man sonst anfangen!« meinte Moosbrugger. Er besah das Bett; dann, in Erinnerung an die Gebote der Ritterlichkeit, wandte er sich in die Ecke, wo die Decken lagen.

»Schlafen Sie doch im Bett. Sie brauchen Erholung« sagte Rachel.

»Nein, im Bett kannst du schlafen.« Er legte seinen Rock ab. Rachel geriet in Verlegenheit, als Moosbrugger aus den Hosen fuhr. Aber so, wie er dann war, legte er sich auf die Decken und zog eine davon über sich. Rachel wartete eine Weile, dann blies sie das Licht aus und entkleidete sich im Dunkel.

In der Nacht fürchtete sie sich wieder; sie bildete sich ein, wenn sie einschlafe, könnte es so kommen, daß sie überhaupt nie mehr erwache. Aber dann schlief sie doch bald ein und erwachte, wie der Morgen ins Zimmer schien. In der Ecke lag Moosbrugger, zugedeckt, wie ein großer Berg. Im Haus war noch alles still. Rachel benutzte das, um vom Brunnen Wasser zu holen. Sie reinigte auch ihre und Moosbruggers Schuhe draußen im Hof. Als sie leise wieder zur Türe hereinschlüpfte, sagte ihr Moosbrugger guten Morgen.

»Wollen Sie Kaffee, Tee oder Schokolade?« fragte sie ihn. Moosbrugger war ganz erstaunt darüber. Er sagte Kaffee, aber die Entscheidung fiel ihm wirklich nicht leicht. Auch gefiel ihm Rachel jetzt bei Tag besser als gestern abend; sie hatte etwas Feines und Gebildetes in ihrer Erscheinung. Er gab sich Mühe beim Ankleiden und drehte sich erst wieder von der Wand fort, als er ganz fertig war.

»Waren Sie mir gestern abend böse?« fragte Rachel, die seine Aufgeräumtheit bemerkte.

»Ach, Weiber wollen immer alles wissen, aber wenn du willst, kann ich dir ja die Geschichte von den Maurern erzählen. Du wirst daraus sehen, wie die Leute sind; alle sind sie gleich. Und was hast du bis jetzt gemacht?«

»Ich war in einem sehr vornehmen Haus, man hat mich dort wie eine Tochter gehalten.«

»Na, und warum bist du dann hinausgeflogen?«

»Oh!« sagte Rachel und war keineswegs entschlossen die Wahrheit zu sagen. »Wissen Sie, der Herr in diesem Haus ist ein sehr hoher Diplomat, und da war eine Geschichte mit einem Mohrenprinzen –«

»Du bist wohl schwanger?« fragte Moosbrugger mißtrauisch.

»Pfui!« rief Rachel empört. »Sie erlauben sich zu viel, wenn Sie so zu mir sprechen! Hätte die Dame Sie mir anvertraut?!«

Sie gefiel Moosbrugger ganz entschieden. Sie war etwas Besseres, das konnte man hören und sehn. Wenn er die Weiber überlegte, die er kannte: etwas so Feines hatte er noch nie gehabt. »Na, schon gut« meinte er. »Ich habe dich nicht beleidigen wollen. Und die Geschichte mit den Maurern, die war so: –«

Er erzählte sie ihr umständlich und würdevoll, samt allen Ränken und Bestechungen, denen ein Mann wie er bei Gericht begegnet, und weil sie eine Bekanntschaft mit einem Mohrenfürsten erwähnt hatte, so wollte er nicht zurückstehn und erzählte auch noch seinen Marsch nach Konstantinopel.

»Da haben die Türken mehrere Frauen?« fragte Rachel.

»Nur die reichen. Aber darum taugen die Türken auch nichts« gab Moosbrugger mit galantem Lächeln zur Antwort. »Schon von einer Frau wird ja der Mann ruiniert!«

»Haben Sie schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht?« fragte Rachel, während ihr Blut Kreise schlug wie der Schweif einer lauernden Katze.

Moosbrugger sah sie prüfend an und wurde ernst. »Ich habe in meinem ganzen Leben nur schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich mein Leben schreiben wollte, würden manchem die Augen aufgehn!«

»Das sollten Sie tun!« schlug Rachel begeistert vor.

»Mir ist das Schreiben viel zu unbequem!« sagte Moosbrugger stolz und dehnte seine Schultern aus. »Aber du bist ja ein gebildetes Fräulein. Vielleicht erzähl ich dir noch was. Dann kannst du's schreiben.«

»Ich habe noch nie ein Buch geschrieben!« erwiderte Rachel bescheiden; aber zumute war ihr, wie wenn man ihr angeboten hätte, Sektionschef Tuzzis Stelle zu übernehmen. Und dieser Mann vor ihr war kein Schwätzer; der hatte bewiesen, daß er für seine Worte einstehen konnte.

So verging die Zeit in angeregtem Gespräch, und es wurde zehn Uhr, ohne daß Clarisse kam.

Moosbrugger zog seine große dicke Nickeluhr aus der Weste und stellte fest, daß es fünf Minuten nach halb elf sei.

Als sie das nächste Mal nachsahen, war es sieben Minuten vor elf.

»Sie wird nicht mehr kommen, ich hab mir das gleich gedacht« sagte Moosbrugger.

»Aber sie muß doch kommen« sagte Rachel.

Das Gespräch wurde wortkarg. Sie waren früh erwacht und hatten das Zimmer nicht verlassen, das Eingesperrtsein machte sie müde. Moosbrugger stand auf und dehnte sich. Rachel erklärte sich endlich bereit, etwas zum Essen zu besorgen, ohne länger zu warten. Aber vorher mußte Moosbrugger den grünen Augenschirm aufsetzen und das Holzbein umschnallen, falls in Rachels Abwesenheit ein Fremder in die Wohnung käme; Holzbein und Augenblende waren ein Vermächtnis Clarisses. Es war gar nicht einfach, mit dem an den Schenkel zurückgeklappten und angebundenen Bein, an dessen Knie die Holzstelze saß, durch die Hose zu fahren; Moosbrugger mußte den Arm um Rachels Nacken legen und zog sie bei dieser Gelegenheit ein bißchen an sich.

Er humpelte über eine Viertelstunde allein in der Wohnung auf und ab, es war ekelhaft langweilig; dann kochte Rachel, aber sie konnte nicht viel kochen, und das Essen war auch nicht gerade lustig. Moosbrugger bekam diese Zurückgezogenheit allmählich satt, aber er sah ein, daß er sie noch lange nicht aufgeben dürfe. Er wollte ein wenig schlafen, damit die Zeit vergehe, gähnte wie ein Löwe und setzte sich auf das Bett, um das verdammte Bein abzuschnallen, das ihm das Blut in den Kopf trieb. Rachel mußte ihm helfen. Und wie er wieder den Arm um ihre Schulter legte, dachte er, daß sie doch eigentlich seine Frau sei für diese Zeit. Sicherlich hatte sie nie etwas anderes von ihm erwartet und sich lustig über ihn gemacht, gestern, als er so ohne weiteres zur Ruhe ging. Als das Holzbein zur Erde fiel, legte er Rachel mit dem Arm, den er um ihre Schulter hatte, zurück aufs Bett und zog sie ein wenig daran hoch, bis ihr Kopf auf ein Kissen zu liegen kam. Rachel wehrte sich nicht. Sein großer Bart senkte sich auf ihren Mund. Aber ihr kleiner Mund kam ihm entgegen. Ging gleichsam in diesen Bart hinein wie in einen Wald und suchte darin den Mund. Als der Mann sich an ihr hinaufschob, kam Rachel beinahe mit dem Gesicht unter seine Brust zu liegen und mußte mit dem Kopf seitwärts ausweichen, um atmen zu können; ihr war, wie wenn sie von Erde verschüttet wäre, die vulkanisch zuckte. Die wirklich großen körperlichen Erregungen entstehen durch die Einbildungskraft; Rachel erblickte in Moosbrugger nicht einen Helden, wie die Erde keinen zweiten trug, – denn das Vergleichen und Überlegen hätte dann die Einbildungskraft schon getötet, – sondern den Held, und das ist ein Begriff, der weniger bestimmt ist, aber mit dem Ort und dem Augenblick, wo er auftritt, verschmilzt und mit dem Menschen, der ihn bewundert. Wo Helden sind, dort ist auch noch die Welt weich und glühend und der Zusammenhang der Schöpfung nicht zerrissen. Das abenteuerliche Zimmer mit verhängten Fenstern sah mit einemmal wie die Höhle eines großen Räubers aus, der sich dahin vor der Welt zurückzieht. Rachel fühlte ihre Brust unter einem gewaltigen Druck liegen; das Huschende, das zu ihrem Wesen gehörte, wurde in diesem Augenblick von einer übermächtigen Kraft festgehalten und zum Dulden gezwungen; ihr Oberleib konnte sich dabei so wenig rühren, wie wenn er unter die Eisenräder eines Lastwagens geraten wäre, und diese Lage würde quälend geworden sein, hätte nicht alle Freiwilligkeit und Selbständigkeit, deren ihr Körper fähig war, sich in den Hüften versammelt, wo ein Riese mit Wolken kämpfte, die ihn unerachtet ihrer Ohnmacht immer wieder umschlangen und in ihrer Weise ebenso stark waren wie er in der seinen. Ein Wunsch, den Rachel noch nie in ihrem Leben empfunden, ja noch nie geahnt hatte, drückte in ihrem Kopf und öffnete von da die ganze Person: sie wollte einen Helden empfangen und gebären. Ihre Lippen blieben staunend geöffnet, ihre Glieder blieben liegen, wo sie lagen, als sich Moosbrugger erhob, und ihre Augen blieben von einem bläulich gelben Hauch, wie ihn Waldschwämme annehmen, wenn man sie bricht, noch lange überzogen. Sie stand erst auf, als es Zeit wurde, Licht zu machen und an das Abendbrot zu denken; bis dahin hatte sie in einer Art Gedankenlosigkeit auf eine Fortsetzung gewartet, die sie sich nicht vorzustellen vermochte und keineswegs bloß als eine Wiederholung dachte.

Für Moosbrugger war die Angelegenheit übrigens bis auf weiteres erledigt. Menschen, die bei Gelegenheit Sexualverbrechen begehn, sind, wie man weiß, in gewöhnlichen Zeiten nichts weniger als üppige Liebhaber, da ihre Verbrechen, soweit sie nicht äußeren Einflüssen entspringen, ja nichts anderes ausdrücken als die Unregelmäßigkeit ihrer Begierde. Moosbrugger empfand nichts als Langweile, während Rachel vernichtet auf dem Bett lag. Nun war also nach seiner Ansicht auch noch das vorbei, das dem Beisammensein eine gewisse Spannung verliehen hatte, ehe man daran dachte.

Clarisse kam nicht, sie kam auch am nächsten Tag nicht; sie kam überhaupt nicht mehr.

Moosbrugger rauchte Zigaretten und gähnte. Rachel legte ihm ein paarmal den Arm um den Hals und die Hand ins Haar, er schüttelte sie ab. Er zog sie auf seinen Schoß und stellte sie gleich danach wieder auf die Beine, weil er es sich anders überlegt hatte. Was er außer Langeweile fühlte, war, daß man ihn beleidigt hatte. Diese Frauen hatten ihn wie einen Jungen aus der Schule geholt und nach Hause begleitet; er hatte dieses Bild manchesmal beobachtet und sich dabei gedacht, daß aus solchen Söhnchen nie etwas Tüchtiges werden könne. Aber er sah ein, daß er vorläufig nachgeben müsse; er durfte sich nicht auf die Straße traun, solange der Eifer der Polizei noch frisch war, und Freunde aufzusuchen, war schon gar nicht ratsam. Er ließ sich von Rachel Zeitungen bringen und suchte, was man über ihn sage; er war jedoch mit seiner Presse diesmal nicht zufrieden, die Blätter taten seine Flucht mit drei bis fünf Zeilen ab. Er wußte, daß Rachel ebenso niedergeschlagen davon war, daß Clarisse sich nicht zeigte, wie er selbst; aber der Unwille, der sich in ihm anhäufte, wenn er Rachel auch nicht als seine Ursache ansah, so lagerte er sich doch um sie, als die gegenwärtige Stellvertreterin Clarissens. Rachel begriff den Fehler, daß sie sich auch weiterhin weigerte, Alkohol zu bringen; hätte sie es, übrigens, getan, so wäre auch das ein Fehler gewesen. Moosbrugger schwieg nach solcher Weigerung, aber die Beleidigungen, denen er ausgesetzt war, bildeten mit der Sehnsucht nach einem Wirtshaus und der faden Langeweile zusammen einen Knäuel von Widerwärtigkeit, als dessen Spindel ihm das dünne Mädchen vorkam, das sich den ganzen Tag um ihn bewegte. Er sprach nur das Nötigste und ließ alle Versuche Rachels, das Gespräch wieder auf die Höhe des ersten Morgens zu bringen, unberücksichtigt. Dazu noch von ihren eigenen Sorgen gepeinigt, war Rachel sehr unglücklich.

Nach wenigen Tagen kam es zu dem ersten Auftritt zwischen ihr und ihm. Als das Abendbrot und auch eine Weile des Gähnens vorbei waren, zog Moosbrugger das kleine Geldtäschchen, aus dem Rachel den täglichen Bedarf beglich, an sich, und suchte mit seinen dicken Fingern ein Geldstück herauszufischen. Rachel, die sofort begriff, was er wolle, aber ihm ihre Börse nicht rechtzeitig hatte entziehen können, lief um den Tisch und fiel ihm in den Arm. »Nein,« rief sie aus, »Sie dürfen nicht ins Wirtshaus gehn! Man wird –« Aber sie kam nicht dazu, diesen Satz zu vollenden, denn Moosbruggers Arm schob sie so streng zur Seite, daß sie das Gleichgewicht verlor und alle Mühe aufwenden mußte, um nicht zu fallen. Moosbrugger setzte seinen Hut auf und verließ das Zimmer, so unnahbar wie eine große Steinfigur.

Rachel überlegte verzweifelt, was sie zu tun habe. Sie beschloß, den Kampf gegen Moosbruggers Unklugheit aufzunehmen. Sie warf sich vor, daß sie sich durch sein verändertes Benehmen habe erschrecken lassen, und in der Einsamkeit des Nachdenkens kam ihr dieses Benehmen begreiflich vor. Als die Schwächere hatte sie es leicht, die Klügere zu sein, aber sie mußte alles daransetzen, ihm begreiflich zu machen, daß sie es in diesem Falle auch wirklich sei, und wenn er das einsähe, würde er sich wohl auch mit seiner Lage ein wenig befreunden, denn Rachel begriff ganz gut, daß das keine Lage für einen Helden war. Aber Moosbrugger war, als er nachhause kam, betrunken. Die Stube füllte sich mit üblem Geruch, sein Schatten tanzte an den Wänden; Rachel war entgeistert, und ihre Worte liefen in spitzen Vorwürfen diesem Schatten nach, ohne daß sie es selbst wollte. Moosbrugger war auf ihrem Bett gelandet und winkte ihr mit dem Finger. »Nein, niemals wieder!« schrie Rachel. Moosbrugger zog eine Flasche aus der Brust, die er mitgebracht hatte. Er war schon vor elf Uhr aus der Wirtschaft aufgebrochen und war bloß zu einem Drittel von Schnaps gefüllt, zum zweiten von schlechtem Gewissen und zum dritten von Ärger über seinen Aufbruch. Rachel ließ sich verleiten, sich auf ihn zu stürzen, um ihm die Flasche zu entreißen. In diesem Augenblick glaubte sie, daß ihr Kopf zerberste, die Lampe drehte sich, und ihr Körper verlor allen Zusammenhang mit der Welt; Moosbrugger hatte ihr Zustürzen mit einem gewaltigen Tatzenschlag in ihr Gesicht abgewehrt, und als Rachel zu sich kam, lag sie weit von ihm entfernt auf der Erde, zwischen den Zähnen sickerte etwas hervor, und Oberlippe und Nase schienen schmerzhaft zusammengewachsen zu sein. Sie sah, wie Moosbrugger immer noch die Flasche betrachtete, dann schmetterte er diese unwirsch zur Erde, stand auf und blies das Licht aus.

Ob mit Willen oder bloß in seiner Trunkenheit, Moosbrugger hatte das Bett besetzt, und Rachel kroch weinend auf den Deckenhaufen, in dessen Nähe sie hingestürzt war. Die Schmerzen in ihrem Gesicht und Körper ließen sie nicht schlafen, sie getraute sich aber nicht, Licht zu machen und sich Umschläge zu bereiten. Es war ihr kalt, die Schande erfüllte ihren Kopf mit einem Zustand, der ganz der gehaltlosen Unruhe von Fieberphantasien glich, und der ausgeronnene Schnaps überzog den Boden mit einem lähmenden, ekligen Dunst. So gut sie es vermochte, überlegte sie während der ganzen Nacht, was zu geschehen habe. Sie mußte Clarisse finden, aber sie hatte keine Kenntnis, wo Clarisse wohne. Sie wollte fortlaufen, aber dann sagte sie sich wieder, daß sie Clarissens Vertrauen täuschen würde, wenn sie Moosbrugger im Stich ließe, ehe diese wiedergekommen sei, sie hatte doch Geld dafür bekommen. Es fiel ihr auch ein, daß sie Ulrich aufsuchen könnte, aber sie schämte sich und verschob das auf später. Sie war noch nie geschlagen worden, aber wenn man von dem Schmerz absah, so war es nicht so schlimm; es drückte einfach die Tatsache aus, daß sie schwächer war als dieser Riese, den sie liebte, daß ihre Beschwörungen nicht bis zu seinem Ohr drangen und daß sie vorsichtig sein mußte; er wollte ihr nichts Ernstes tun, das sah sie wohl, und das Unangenehmste blieb die Angst, die sie vor einer Wiederholung ihrer Züchtigung hatte, denn diese Vorstellung nahm ihr allen Mut aus der Brust und machte sie ganz elend.

So kam der Tag, ehe sie mit sich fertig war. Moosbrugger erhob sich, und schlotternd vor innerer Leere, mußte sie seinem Beispiel folgen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, daß Mund und Nase stark angeschwollen waren, inmitten eines grüngelb entfärbten, halb ausgelöschten Gesichts; der Zauber dieser Nacht hatte Rachel häßlich und anspruchslos gemacht. Weder sie noch Moosbrugger sagten etwas. Moosbrugger hatte einen wirren Kopf, er hatte im Schlaf den Schnaps gerochen und war mit dem Gefühl aufgewacht, nicht genug getrunken zu haben. Als er Rachels angelaufenes Gesicht sah, ahnte er etwas von dem, was gestern vor sich gegangen war; eine dunkle Erinnerung, daß sie sich herausfordernd betragen habe, hielt ihn davon ab, sie zu fragen. Er hätte sie aber gerne gefragt; eigentlich wußte er bloß nicht, wie er es anstellen solle. Und Rachel wartete auf ein gutes Wort von ihm, wie nur irgendein verliebtes Mädchen wartet; als er sich schweigend bedienen ließ, wurde sie immer trotziger. Moosbrugger wäre am liebsten gleich wieder in die Kneipe gegangen, aber er hatte vor diesem Mädchen Angst, das ihm wieder einen Auftritt machen möchte, und er konnte sie doch nicht immerzu schlagen. Ihre vom Heulen verschwollenen Augen widerten ihn noch mehr an als der aufgequollene Mund, der sichtbar wurde, wenn sie das Tuch, das sie daran hielt, von neuem näßte. Er sei ja wohl schuld, sagte er sich, alles was richtig ist, aber gleich am Morgen das wieder um sich zu haben, sei ihm zu viel. Der zarte Rücken Rachels und ihre schlanken Arme, die sie beim Waschen jetzt zeigte, der Teufel sollte sie holen, ihm gefielen sie nicht und kamen ihm wie Hühnerknochen vor.

Er faßte alles in allem so zusammen, daß er sich in einer sehr dummen Lage befinde, aber möglichst in Ehren ausharren müsse. Er ging abends ins Wirtshaus, das hatte er beschlossen, in dieser Gegend, wo man ihn nicht kannte, zu wagen, und Rachel traute sich nicht mehr, das Geld zu verweigern, oder bei diesem Anlaß Vorwürfe zu machen. Auch dann nicht, als er Karten zu spielen begann und dazu mehr Geld brauchte. In der Kneipe fand man leidlich gute Gesellschaft, in dieser Weise, dachte Moosbrugger, könne man ausharren, wenn man bei Tag recht viel schlafe. Aber Rachel schlief bei Tag nicht und störte ihn wie eine Fledermaus. Einigemal fing er sie. Einigemal machte er auch den Versuch, ein besseres Leben zu beginnen und mit ihr als mit einem kleinen Fräulein zu sprechen, das sie ja auch war. Aber da zeigte sich, daß Rachel nicht mehr konnte. Sie antwortete ausweichend und einsilbig. Wenn Moosbrugger den Mund öffnete, erstarrte sie, ohne es zu wollen; denn sie hätte gern mit ihm gesprochen, aber er hatte etwas Fremdes in sie geschüttet, Gewalt, und der Brunnen, aus dem alles Sagenswerte kommt, war zugefroren. So blieb Moosbrugger nichts übrig, als sich zur Wand zu drehen.

Aber es gab einen Augenblick, wo sie jedesmal sprach, und das war, wenn Moosbrugger vom Wirtshaus zurückkehrte. Wenn er nicht betrunken war, schwieg er dazu oder brummte bloß unverständliche Antworten, und Rachel verfolgte ihn bis in den Schlaf mit Vorwürfen seines Leichtsinns. Er hatte sie in der Spannung geschlagen, der sehr unangenehmen, die in ihm herrschte, solange er sich verlockt fühlte, das Haus zu verlassen, und sich noch nicht dazu entschließen konnte; jetzt, wo er einstweilen damit im Gleichgewicht war, zeigte er sich fein und artig; und Rachel, die herausfühlte, daß sie keine Gefahr laufe, wagte sich immer weiter vor. Er blieb bloß von einem Tag zum anderen länger aus, in dem Wunsch, erst zurückzukehren, wenn sie eingeschlafen sei. Aber Rachel hatte eine merkwürdige Art Schlaf angenommen. Wenn er mit der Dunkelheit das Haus verließ, schlief sie augenblicklich ein, und wenn er zurückkehrte, wachte sie auf und mit einer Sicherheit, als sei das nur die Fortsetzung ihres Schlafs, begann sie mit ihm zu zanken. Ihre arme Seele, dazu verurteilt, mit Überlegung und Gedanken ihre Lage nicht auflösen zu können, ließ sich dann von den trunkenen Kräften des Schlafs emporheben.

»So ein Hendl!« dachte Moosbrugger von ihr, und die Beleidigung, daß solch ein mageres Huhn tagaus, tagein um ihn herumscharren dürfe, wurmte ihn. Aber Rachel, als wüßte sie, wie er von ihr denke, und ohne daß er es je ausgesprochen hätte, fast wie in einer somnambulen Übereinstimmung mit dem schweigsamen Mann, der nachts durch das Zimmer tappte, fühlte eine unbezwingbare Lust zu gackern und zu zanken. Und wenn Moosbrugger betrunken heimkam, was ja auch nicht gerade selten geschah, so war sein Schwanken und Stolpern wie ein großes Schiff, das auf den gleichen Wellen tanzte wie die kleinen, aufgeregten Sätze des Mädchens. Und wenn dem gewaltig betrunkenen Christian Moosbrugger ein Satz zu nahe ging, so schnappte er. Wie gesagt, es war nie wieder der unbedachte Zorn wie beim erstenmal, wo eine Bewegung seiner Hand Rachel beinahe zerschmettert hätte, aber er wollte dieses schreiende, sich gegen ihn auflehnende Kind zur Ruhe bringen, und mit vorsichtig bemessener Gewalt, so wie ein Betrunkener den Schritt über den Rinnstein ausmißt, ließ er seine Hand auf sie fallen. Wenn Rachel geschlagen wurde, war sie augenblicklich still. Ein maßloses Staunen befiel sie wie bei einer ganz unerwarteten abschließenden Antwort. Sie war, seit sie das Elternhaus hinter sich gelassen hatte, nicht religiös; nach ihrem Werdegang erschien ihr Religion als eine Sache für unfeine Leute: aber wenn ein Elohim oder besser ein böser Geist plötzlich auf einer Bank im Stadtpark zwischen den geputzten Menschen gesessen wäre, gerade so kam es ihr vor, wenn sie geschlagen wurde. Es zog sie in die Nähe, diesen bösen Geist noch einmal zu betrachten, und sie suchte ihn in Bewegung zu bringen. Dann öffnete sie eben wieder den Mund und sagte etwas, wovon sie ebenso sicher wußte, daß es Moosbrugger reizen könnte, wie daß es, wenn er es befolgen wollte, das richtige zu seinem Heil wäre. Dann schlug sie Moosbrugger mit dem Rücken der Hand auf die Wange oder stieß sie an die Wand. Und Rachel, obgleich schon wieder staunend, fand noch ein Wort, spitz und eindringlich wie eine Stricknadel. Und Moosbrugger mußte natürlich darauf die Gabe größer machen. Und dieser Riese, der nicht erschlagen will, schlägt sie wild über den Rücken, aufs Gesäß, zerreißt ihr das Hemd, wirft sie an den Haaren zu Boden oder schleudert sie mit einem Fußtritt in die Ecke, aber tut alles dies doch mit so viel Behutsamkeit in der Wildheit, wie es sein Rausch nur erlaubt, damit ihr nicht die Knochen brechen. Und Rachel staunt den bösen Geist der Kraft und Roheit an, der alle Worte nichtig macht. Sie wird völlig leicht, wenn Moosbrugger sie stößt. Gegen seine Kraft gibt es keinen Willen. Der Wille kommt erst wieder, wenn der Schmerz aufhört. Und solange der Schmerz da ist, heult sie und ist selbst darüber erstaunt, wie sie gegen die Wände zetert. Und Moosbrugger möchte sich an den Kopf greifen und seinen eigenen Kopf aus den gehobenen Fäusten auf die Erde schmettern, wenn er dieses verwünschte Nichts von einem Menschen damit nur zum Schweigen bringen könnte!

Am Tage nach solchen Abenden kommt es Rachel vor, als ob sie selbst betrunken gewesen wäre. Ihre Vernunft sagte ihr, daß sie ein Ende machen müsse. Sie suchte Ulrich auf. Aber man gab ihr die Antwort, daß er verreist sei, und niemand wisse, wo er sich aufhielte, noch wann er zurückkehre. Am Rückweg glaubte sie zu bemerken, daß alles in der Welt heimlich auf Schlagen eingerichtet sei. Es fuhr ihr nur so durch den Kopf. Die Eltern das Kind. Der Staat die Sträflinge. Das Militär die Soldaten. Der Reiche die Armen. Der Kutscher die Pferde. Die Leute gingen mit großen Hunden an der Leine spazieren. Jeder schüchtert den anderen lieber ein, als sich mit ihm zu verständigen. Was ihr widerfahren war, war nicht anders, wie wenn sie mit den Händen in reine Lauge gegriffen hätte, statt in die verdünnte, die allerorts zum Waschen benützt wird. Sie mußte heraus! Ihr Sinn war wirr. Sie nahm sich vor, abends, wenn Moosbrugger aus dem Haus sei, mit allem, was sie noch besaß, zu entfliehn. Es mußte für sie allein noch ein paar Wochen reichen. Sie setzte ein argloses Gesicht auf, als sie die Wohnung betrat, um Moosbrugger nicht mißtrauisch zu machen. Aber obgleich es erst sechs Uhr und noch heller Tag war, fand sie ihn dort nicht vor. Ein augenblicklicher Argwohn ließ sie Umschau halten. Von ihren Kleidern fehlte fast alles. Die Lampe und ein Teil der Decken war fort. Wenn nicht in seiner Abwesenheit Diebe eingedrungen waren, so hatte Moosbrugger selbst alles zusammengerafft und versilbert.

Rachel packte den Rest zusammen. Aber dann wußte sie nicht, wo sie um diese Stunde, bei beginnendem Abend hinsolle. Sie beschloß, noch eine Nacht auszuharren und den Mund zu halten, wenn Moosbrugger so schwer betrunken zurückkehren werde, wie es nach diesen Vorbereitungen zu erwarten war. Am Morgen wollte sie dann spurlos verschwinden. Sie legte sich aufs Bett, und obgleich Moosbrugger auch den Kopfpolster mitgenommen hatte, schlief sie zum ersten Male ruhig die ganze Nacht.

Trotz dieses tiefen Schlafs wußte sie am Morgen sofort, noch ehe sie die Augen öffnete, daß Moosbrugger nicht nach Hause gekommen sei. Sie sah sich um und wollte es benutzen, um sich rasch fertig zu machen. Aber sie war traurig; sie fürchtete, daß Moosbrugger in seinem Leichtsinn der Polizei in die Hände gefallen sei, und das tat ihr leid. Unwillkürlich zögerte sie, während sie ihr Bündel schnürte. In Wahrheit hatte Moosbrugger schon längere Zeit etwas vorgehabt. Er hatte sehr gut bemerkt, daß Rachel das Geld an ihrem Busen verwahre, und er wollte es ihr wegnehmen. Aber er scheute sich hinzugreifen. Er fürchtete sich vor diesen zwei mädchenhaften Dingen, zwischen denen es lag; warum, wußte er nicht. Vielleicht, weil sie so unmännlich waren. So kam es zu dem anderen Plan. Der war der natürlichere. Er hob Moosbrugger und setzte ihn wieder ab. Wenn es Moosbrugger aber einmal ganz belieben sollte, so würde er sich auf diese Weise Reisegeld verschaffen und sich ganz forttragen lassen. Eigentlich gefiel es ihm bei Rachel recht gut. Sie hatte ihre Eigenheiten, die ihn dumpf verfolgten; aber wenn er in Wut geriet oder wenn er sie zur Liebe einfing, so entlud er jedesmal wieder einen Teil seines Unbehagens, und der Spiegel seines Plans stieg darum ziemlich langsam. Er fühlte sich bei Rachel einigermaßen gesichert; ja, das war es, ein sehr geordnetes Leben, wenn er abends ausging, sich etwas betrank, und dann seinen Streit mit ihr hatte. Es nahm ihm gleichsam jeden Abend die Patrone aus der Waffe. Die beiden hatten Glück damit, daß er Rachel sozusagen in kleinen Teilen schlug. Aber eben, weil das Leben mit ihr so gesund war, erregte sie auch nicht im großen seine Phantasie, und er hätschelte seinen heimlichen Plan, in die Welt zu verschwinden; er wollte ihn mit einem großen Rausch beginnen. Als es neun Uhr vormittags war, holte sich Rachel eine Zeitung, um nachzusehen, ob nichts Böses darinstehe. Sie sah es gleich. Eine Frauensperson war nachts von einem Betrunkenen oder Irrsinnigen zerfleischt worden, und man hatte den Mörder gefaßt, und die Feststellung seiner Persönlichkeit stand bevor. Rachel wußte, daß es niemand anderer als Moosbrugger war. Die Tränen traten ihr in die Augen. Sie wußte nicht warum, denn sie fühlte sich froh und erleichtert. Und wenn Clarisse sich wieder einfallen lassen sollte, Moosbrugger zu befrein, so würde Rachel die Polizei auf sie aufmerksam machen. Aber weinen mußte sie doch den ganzen Tag, als ob nun ein Stück von ihr selbst an den Galgen kommen sollte.


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