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93

Clarisse und Friedenthal

 

»Was haben Sie denn eigentlich damit gemeint, daß Sie sagten, er habe stets nur ›Ersatzweiber‹ gehabt!« fragte Friedenthal, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten.

»Nichts!« erwiderte Clarisse, die von dem Erlebten noch verstört war, mit einer abweisenden Gebärde.

Friedenthal wurde schwermütig und meinte, daß er die verwunderliche Darbietung rechtfertigen müsse. »Im Grunde sind wir natürlich alle unzurechnungsfähig« seufzte er. Clarisse antwortete: »Er am wenigsten!«

Friedenthal lächelte über den »Scherz«. »Haben Sie sich sehr gewundert?« fuhr er scheinbar erstaunt fort. »Es sind immerhin einzelne Züge an Moosbrugger recht schön zutage getreten.«

Clarisse blieb stehn. »Sie dürfen das nicht gewähren lassen!« forderte sie entschieden.

Ihr Begleiter lachte und befleißigte sich, seinen Geist in Szene zu setzen. »Was wollen Sie!« rief er aus. »Dem Mediziner ist eben alles Medizin, und dem Juristen alles Jus! Das Gerichtswesen geht letzten Endes von dem Begriff ›Zwang‹ aus, der dem gesunden Leben angehört, aber ohne Bedenken meist auch auf Kranke anzuwenden ist. Ebenso ist aber der Begriff ›Krankheit‹ mit seinen Konsequenzen, von dem wir Ärzte ausgehn, auf das gesunde Leben anwendbar. Das wird niemals unter einen Hut gebracht werden!«

»Das gibt es doch nicht!« rief Clarisse aus.

»Doch, das gibt es!« beschwerte sich sanft der Arzt. »Die menschlichen Wissenschaften haben sich zu verschiedenen Zeiten und zu Zwecken entwickelt, die miteinander nichts zu tun haben. So haben wir von der gleichen Sache die verschiedensten Begriffe. Zusammengefaßt ist das höchstens im Konversationslexikon. Und ich wette, daß nicht nur ich und der Pfarrer, sondern auch Sie und beispielsweise Ihr Herr Bruder oder Ihr Gatte und ich von jedem Wort, das wir dort aufschlügen, jeder nur eine Ecke des Inhalts und natürlich jeder eine andere kennten. Besser hat die Welt das nicht zustande gebracht!« – Friedenthal hatte sich über Clarisse gelehnt, die in einer Fensternische stand, und stützte seinen Arm gegen das Fensterkreuz. Etwas echtes Empfinden klang aus seinen Worten. Er war ein Zweifler. Die Unsicherheit seiner Wissenschaft hatte ihm die Augen geöffnet für die Unsicherheit alles Wissens. Er wäre gern eine Persönlichkeit gewesen und ahnte in seinen besten Stunden, daß ihm das lähmende Durcheinander dessen, worüber es Wahrheit gebe, noch nicht gebe, oder niemals geben werde, nicht mehr gestatte als eine unfruchtbare und eitle Subjektivität. Er seufzte und fügte hinzu: »Manchmal ist mir zumute, die Fenster dieses Hauses seien nichts als Vergrößerungsgläser...!«

Clarisse fragte ernst: »Können wir noch ein wenig zu Ihnen gehn? Hier vermag ich nicht zu sprechen.« Unter dem Schild ihrer Wimpern schossen zwei Pfeile hervor. Friedenthal löste langsam die Hand vom Fenster und den Blick von ihrem Auge. Dann löste er auch seine Gedanken aus ihrer geoffenbarten Versunkenheit und sagte, während sie den Fliesengang entlang weiterschritten: »Dieser Pfeiffer ist eine sehr merkwürdige Figur. Er führt ein Leben ohne Freuden und Geliebte, aber er hat die größte Sammlung von Bildern, Andenken, Prozeßberichten und allem, was mit den Todesurteilen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre zusammenhängt. Ich habe sie einmal gesehn. Merkwürdig. Laden voll seiner ›Opfer‹: geputzte und rohe, vom Verbrechen gezeichnete und ganz alltägliche Gesichter von Männern und Frauen lächeln einem aus vergilbtem Zeitungspapier und verblaßten Lichtbildern entgegen oder blicken in ihre unbekannte Zukunft. Dazu Kleiderreste, Strick-Enden – richtige ›Galgenstricke‹, Spazierstöcke, Giftflaschen: kennen Sie das Museum in Zermatt, wo das aufbewahrt wird, was von denen, die ringsum von den Bergen abstürzen, übrigbleibt? Einen ähnlichen Eindruck macht es. Er hat offenbar ein zärtliches Verhältnis dazu. Man kann es auch merken, wenn er von den ›Opfern‹ erzählt, zu deren gesetzlicher Ermordung, oder wie Sie es nennen wollen, er selbst beigetragen hat. Ein guter Beobachter gewahrt da vielleicht etwas wie eine Rivalität, Gehirntriumph, Geschlechtslust... Alles natürlich gänzlich innerhalb der Grenzen des Erlaubten und wissenschaftlich Zulässigen. Aber man kann wohl sagen, daß die Beschäftigung mit der Gefahr gefährlich macht –«

»Er jagt sie?« fragte Clarisse gepreßt.

»Ja, man kann fast sagen, er ist ein Jäger, der sein Wild liebt.«

Clarisse erstarrte: sie wußte nicht, wie ihr geschah. Friedenthal hatte sie auf einem teilweise anderen Weg zurückgeführt und öffnete bei seinen Worten die Türe eines Saals, den sie durchschreiten mußten und der das Herrlichste zu enthalten schien, was sie je gesehen hatte. Es war ein großer Saal, und sie glaubte in ein lebendes Blumenbeet zu blicken. Es war der Saal der hysterischen Frauen, den sie durchschritten. Sie standen einzeln und in kleinen Gruppen umher und lagen ringsum in den Betten. Sie schienen alle blütenweiße Kleider zu tragen und aufgelöstes nachtschwarzes Haar zu haben. Clarisse konnte keine Einzelheiten erfassen, das Ganze glich etwas unsagbar Schönem und dramatisch Bewegtem. »Schwestern!« fühlte Clarisse gewaltig und reich in dem Augenblick, wo ihr und Friedenthal Aufmerksamkeit in unregelmäßigen Zügen zuströmte; sie hatte das Empfinden, mit einem Schwarm wundervoller Liebesvögel höher auffliegen zu können, als es alle Erregungen des Lebens und der Kunst gewähren. Ihr Begleiter kam mit ihr nur langsam vorwärts, denn allerhand demütig Verliebte näherten sich ihm oder strichen ihm in den Weg mit einer Stärke der erotischen Sanftheit, wie sie Clarisse noch nie erlebt hatte. Friedenthal richtete begütigende oder strenge Worte an diese und schob sie mit weichen Bewegungen von sich, und in den Betten lagen währenddessen andere Frauen in ihren weißen Jacken und hatten das Haar dunkel über die Polster gebreitet, Frauen, die mit Bauch und Beinen unter ihrer dünnen Decke das Drama der Liebe aufführten. Sündengestalten. Mit einem Mitspieler gepaart, der unsichtbar blieb, aber fühlbar da war, gegen den sie in übertriebener Abwehr die Arme stemmten, der übertrieben die Wogen ihres Busens aufwühlte, dem sich der Mund mit übermenschlicher Anstrengung entzog und der Bauch mit übermenschlichem Verlangen entgegen wölbte, während die Augen inmitten dieses obszönen Schauspiels unschuldig mit der bezaubernden leblosen Schönheit großer dunkler Blumen leuchteten.

Clarisse war noch tief verwirrt von diesem Blumenbeet der Liebe und der Leiden, von seinem krankhaften und doch berauschenden Duft, seinem Schimmer, dem Hindurchgleiten und Nicht-Stehenbleiben-dürfen, als sie schon in Friedenthals Zimmer saß und von ihm mit einem unermüdlichen Lächeln betrachtet wurde. Aus ihrer fast räumlich tiefen Abwesenheit zurückkehrend und sich sammelnd, klammerte sie sich an etwas, das sie mit rauher, fast mechanischer Stimme vorbrachte: »Erklären Sie ihn für unzurechnungsfähig!«

Friedenthal sah sie erstaunt an. »Meine Gnädige,« fragte er scherzhaft betont »welches Interesse haben Sie daran?«

Clarisse erschrak, weil ihr keine Antwort einfiel. Aber da ihr nichts einfiel, hatte sie plötzlich schlicht gesagt: »Weil er nichts dafür kann!«

Dr. Friedenthal musterte sie jetzt schärfer: »Woher wissen Sie das so sicher?«

Clarisse hielt seinem Blick kraftvoll stand und antwortete hochmütig, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihn einer solchen Mitteilung würdigen dürfe: »Er ist ja doch nur hier, weil er einen anderen vertritt!« Sie zuckte belästigt die Schultern, sprang auf und sah zum Fenster hinaus. Als sie aber nach einer kleinen Weile keine Wirkung davon verspürte, drehte sie sich wieder um und gab klein bei. »Sie können mich nicht verstehn: er erinnert mich an jemand!« bemerkte sie, die Wahrheit halb abschwächend. Sie wollte nicht zu viel sagen und hielt sich zurück.

»Aber das ist doch kein Grund für die Wissenschaft!?« erwiderte Friedenthal gedehnt.

»Ich habe gedacht, Sie werden es tun, wenn ich Sie darum bitte!« sagte sie jetzt einfach.

»Sie nehmen das zu leicht« entgegnete der Arzt vorwurfsvoll. Er lehnte sich faustisch in seinen Sessel zurück und fuhr mit einem Blick auf sein Studio fort: »Haben Sie sich überhaupt überlegt, ob Sie dem Mann etwas Gutes erweisen, wenn Sie ihm statt einer Bestrafung die Internierung wünschen?! Der Aufenthalt in diesen Mauern ist kein Vergnügen...!« Er schüttelte schwermütig das Haupt.

Seine Besucherin erwiderte klar: »Zuerst muß der Henker weg von ihm!«

»Sehen Sie,« meinte Friedenthal »meiner Ansicht nach ist Moosbrugger ja wohl Epileptiker. Er weist aber auch Züge von Paraphrenia systematica und vielleicht von Dementia paranoides auf. Er ist eben in jeder Hinsicht ein Grenzfall. Seine Anfälle, bei denen qualvoll beängstigende Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gewiß eine Rolle spielen, können Minuten bis Wochen dauern, aber sie übergehen oft unmerklich in volle Geistesklarheit, wie sie auch ohne feste Grenze aus ihr zu entstehen vermögen, und außerdem ist selbst im paroxysmalen Stadium das Bewußtsein nie ganz aufgehoben, sondern nur in verschiedenen Graden vermindert. Man könnte also wohl etwas für ihn tun, aber der Fall ist durchaus nicht so, daß man als Arzt seine Verantwortlichkeit ausschließen müßte!«

»Also werden Sie etwas für ihn tun?!« drängte Clarisse.

Friedenthal lächelte. »Ich weiß es noch nicht.«

»Sie müssen!«

»Sie sind sonderbar« erwiderte Friedenthal gedehnt. »Aber – man könnte schwach werden.«

»Sie sind ja keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß der Mann krank ist!« versicherte die junge Frau mit Nachdruck.

»Das natürlich nicht. Aber ich habe doch gar nicht darüber zu urteilen« verteidigte sich der Arzt. »Sie haben es doch schon gehört: Ich soll beurteilen, ob sein freier Wille bei der Tat ausgeschlossen war, ob sein Bewußtsein während der Tat abwesend war, ob er Einsicht in sein Unrecht besaß: lauter metaphysische Fragen, die für mich als Arzt gar nicht so zu stellen sind, bei denen ich aber doch auch auf den Richter Rücksicht nehmen muß!«

Clarisse ging in ihrer Aufregung wie ein Mann im Zimmer auf und ab. »Dann dürfen Sie sich nicht dazu hergeben!« rief sie hart aus. »Dann muß es eben anders versucht werden, wenn Sie gegen den Richter nicht aufkommen können!«

Friedenthal versuchte es auf neue Weise, seine Besucherin von ihren lästigen Ideen abzubringen. »Haben Sie sich eigentlich schon einmal vorgestellt, welche grausame Bestie dieser augenblicklich ruhige Halbkranke sein kann?« fragte er.

»Das kümmert uns jetzt nicht!« gab Clarisse zur Antwort, diesen Versuch kurz abschneidend. »Sie fragen auch bei einer Lungenentzündung nicht, ob Sie einem guten Menschen zum Weiterleben verhelfen! Jetzt haben Sie nur zu verhindern, daß Sie nicht selbst Gehilfe eines Mordes werden!«

Friedenthal hob wehmütig die Hände. »Sie sind ja verrückt!« sagte er betrübt und unhöflich.

»Man muß den Mut dazu haben, wenn die Welt wieder recht werden soll! Es muß von Zeit zu Zeit Menschen geben, die nicht mitlügen!« versicherte Clarisse lebhaft.

Er hielt es für einen geistvollen Scherz, den er in der Eile nicht ganz verstanden habe. Diese kleine Person hatte von Anfang an Eindruck auf ihn gemacht, zumal da er, geblendet durch General von Stumm, ihre gesellschaftliche Stellung überschätzte; und einen etwas verwirrten Eindruck machen ja heutzutage viele junge Menschen. Er fand, daß sie etwas Besonderes sei, und fühlte sich von ihrem unbefangenen Eifer unruhig berührt als von etwas rücksichtslos, ja vornehm Strahlendem. Allerdings hätte er diese Ausstrahlung vielleicht nicht nur als die eines Diamanten ansehn sollen, denn sie hatte auch etwas von einem überheizten Ofen: etwas durchaus Ungemütliches, das heiß und frostig machte. Er prüfte unauffällig seine Besucherin: Stigmata erhöhter Nervosität ließen sich zweifellos an ihr wahrnehmen. Aber wer hätte heutzutage solche Stigmata nicht! Friedenthal erging es nicht anders, als es üblich ist – denn bei unsicheren Vorstellungen von dem, was wirklich bedeutend sei, hat das Verwirrte immer die gleiche Chance, es zu übertreffen, die der Hochstapler in einer unsicheren Gesellschaft hat –, und obwohl er ein recht guter Beobachter war, hatte er sich stets wieder beruhigt, was immer auch Clarisse mit Reden anstellte. Schließlich kann man doch einen jeden Menschen als das verkleinerte Probestück eines Geisteskranken auffassen; das ist geradeso Sache der Theorie, wie man ihn einmal psychologisch betrachtet und ein andermal chemisch: und da seit Clarissens letzten Worten ein Schweigen klaffte, suchte er wieder »Kontakt« und trachtete zur gleichen Zeit abermals, sie von ihren unbequemen Forderungen abzulenken. »Haben Ihnen eigentlich die Frauen, bei denen wir gewesen sind, gefallen?« fragte er.

»Oh, wunderbar!« rief Clarisse aus. Sie stand vor ihm still, und die Härte war plötzlich aus ihrem Gesicht gewichen. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll« fügte sie sanft hinzu. »Dieser Saal ist wie ein ungeheures Vergrößerungsglas, über Triumph und Leiden einer Frau gehalten!«

Friedenthal lächelte befriedigt. »Nun sehen Sie es« sagte er. »Nun werden Sie es mir wohl auch zubilligen, daß mir die Anziehung, die das Kranke ausübt, nicht fremd ist. Aber ich muß Grenzen einhalten, muß trennen. Dagegen wollte ich Sie fragen, gnädige Frau, ob Sie schon einmal bedacht haben, daß auch die Liebe eine Störung des Geistes ist. Es gibt doch kaum einen Menschen, der nicht in seinem geheimsten und aufrichtigsten Liebesleben etwas verbürge, das er nur dem Mitschuldigen zeigt, Tollheiten, Schwächen: sagen wir ruhig Perversität und Wahn. In der Öffentlichkeit muß man dagegen einschreiten, im inneren Leben kann man sich aber nicht immer mit der gleichen Strenge gegen etwas Derartiges wappnen. Und Nervenärzte – schließlich ist die Heilkunde doch auch eine Kunst – werden ihren größten Erfolg dann haben, wenn sie zu dem Material, in dem sie arbeiten, in einem gewissen Sympathieverhältnis und Rapport stehen.« Er hatte die Hand seiner Besucherin ergriffen, und Clarisse überließ ihm deren äußerste Fingerglieder, die sie zwischen seinen Fingern so weich und ohnmächtig liegen fühlte, als wären sie von ihr gefallen wie die Blätter, die eine Blüte verliert. Sie war plötzlich völlig Frau, voll dieser zarten Willkür gegenüber den Bitten eines Mannes, und was sie am Morgen erlebt hatte, war vergessen. Ein lautloser Seufzer öffnete ihre Lippen. Es kam ihr vor, daß sie noch nie oder zuletzt vor ungeheuer langer Zeit so empfunden hätte, und offenbar kam Friedenthal, der ihr selbst keineswegs ungewöhnlich gefiel, in diesem Augenblick etwas von dem Zauber seines Reichs zugute. Aber sie nahm sich zusammen und fragte hart: »Wozu haben Sie sich also entschlossen?«

»Ich muß jetzt meinen Rundgang antreten« antwortete der Arzt »und möchte Sie gerne wiedersehn; aber nicht hier: können wir uns nicht irgendwo treffen?«

»Vielleicht!« entgegnete Clarisse. »Wenn Sie meine Bitte erfüllt haben!«

Ihre Lippen verschmälerten sich, aus ihrer Haut wich das Blut, und die Wangen sahen dadurch rund wie zwei kleine Lederbälle aus, in ihren Augen war zu viel Druck. Friedenthal fühlte sich plötzlich ausgenützt. Es ist merkwürdig, aber wenn ein Mensch in einem andern bloß ein Mittel zu einem Zweck sieht, gewinnt er desto leichter das zugangslose Aussehen eines Geisteskranken, je natürlicher es ihm erscheint, daß man ihn berücksichtigen müsse. »Wir sehen hier stündlich Seelenleiden, aber wir müssen uns innerhalb unserer Grenzen halten!« wehrte Friedenthal ab. Er wurde behutsam.

Clarisse sagte: »Gut, Sie wollen nicht. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag.« Sie stand klein vor ihm, die Beine gespreizt, die Hände hinter sich, und sah ihn mit einem verlegen-spöttischen, drängenden Lächeln an: »Ich werde als Schwester in die Klinik eintreten!«

Der Arzt erhob sich und bat sie, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen, der ihr erklären werde, wieviel dazu nötige Bedingungen sie nicht erfülle. Bei seinen Worten wich der hineingepreßte Spott aus ihren Augen, und sie füllten sich mit Tränen. »Dann wünsche ich,« sagte sie, beinahe tonlos vor Aufregung »daß ich als Kranke aufgenommen werde! Ich habe eine Aufgabe!« Weil sie sich fürchtete, ihre Sache zu verderben, wenn sie den Arzt ansehe, blickte sie zur Seite, und ein wenig zur Höhe, und vielleicht irrten ihre Augen auch etwas umher. Ein Schauer erhitzte ihre Haut, die jetzt rot aufblühte. Sie sah nun schön und zärtlichkeitsbedürftig aus, aber es war zu spät; der Ärger über ihre Zudringlichkeit hatte den Arzt ernüchtert und zur Zurückhaltung bestimmt. Er fragte sie nicht einmal mehr aus, denn es erschien ihm ebenso mit Rücksicht auf den General und Ulrich, die sie hergebracht hatten, wie darauf, daß er selbst ihr seither nahezu unzulässige Begünstigungen eingeräumt habe, als das klügste, nicht zuviel von ihr zu wissen. Und nur aus alter ärztlicher Gewohnheit wurde seine Sprache von diesem Augenblick an noch sanfter und nachdrücklicher, während er Clarisse sein Bedauern darüber ausdrückte, ihren zweiten Wunsch erst recht nicht erfüllen zu können, und ihr riet, sich auch mit diesem Wunsch ihrem Bruder anzuvertraun. Er teilte ihr sogar mit, daß er, ehe das geschehen sei, eine Fortsetzung ihrer Besuche der Klinik nicht zulassen könne, so sehr er sich damit selbst beraube.

Clarisse setzte seinen Reden eigentlich gar keinen Widerstand entgegen. Sie hatte Friedenthal ja schon Schlimmeres zugetraut. »Er ist ein tadelloser medizinischer Bürokrat« sagte sie sich, das erleichterte den Abschied; sie reichte dem Arzt unbefangen die Hand, und ihre Augen lachten verschmitzt. Sie war ganz und gar nicht niedergeschlagen und überlegte sich, die Treppe hinabsteigend, schon andere Möglichkeiten.

 

Aus Urheberrechtsgründen gelöscht: 94 - 98

 


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