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Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung

 

Kaum war das vollbracht, faßte sie aber den Beschluß, daß sie den sonderbaren Mann aufsuchen werde, der ihr seine Hilfe angeboten hatte, und schritt sogleich an die Ausführung. Sie wollte ihm gestehen, daß sie nicht mehr wisse, was sie mit sich beginnen solle. Sie hatte keine deutliche Vorstellung von ihm; ein Mensch, den man unter Tränen gesehen hat, die in seiner Gesellschaft auftrockneten, wird nicht leicht jemand so erscheinen, wie er wirklich ist. Darum dachte sie unterwegs über ihn nach. Sie glaubte nüchtern nachzudenken; aber in Wahrheit geschah es noch ganz phantastisch. Sie eilte durch die Straßen und trug vor ihren Augen das Licht aus ihres Bruders Zimmer. Rechtes Licht sei es aber gar nicht gewesen, überlegte sie; eher mochte sie sagen, daß alle Dinge in dem Zimmer plötzlich die Fassung verloren hätten, oder eine Art von Verstand, der sonst wohl an ihnen sein mußte. Sollte es aber so sein, daß bloß sie selbst die Fassung verloren hätte, oder ihren Verstand, so wäre das auch nicht nur auf sie beschränkt gewesen, denn es hatte doch auch in den Dingen eine Befreiung erweckt, worin es sich von Wundern regte. »Im nächsten Augenblick hätte es uns aus den Kleidern geschält wie ein silbernes Messer, ohne daß wir auch nur einen Finger wirklich gerührt hätten!« dachte sie.

Allmählich beruhigte sie sich aber jetzt an dem Regen, der ihr harmloses, graues Wasser prasselnd auf Hut und Mantel schüttete, und ihre Gedanken nahmen eine gemäßigtere Art an. Vielleicht half auch die einfache, in Eile übergeworfene Kleidung dabei mit, denn sie lenkte ihre Erinnerung auf schirmlose Schulmädelwege und unschuldige Zustände zurück. Die Wandernde entsann sich sogar unerwartet einer arglosen Sommerszeit, die sie mit einer Freundin und deren Eltern auf einer kleinen Insel im Norden verbracht hatte: dort hatten sie zwischen der harten Herrlichkeit von Himmel und Meer einen Nistplatz der Seevögel entdeckt, eine Mulde voll von weißen, weichen Vogelfedern. Und nun wußte sie es: der Mann, zu dem es sie hinzog, erinnerte sie an diesen Nistplatz. Die Vorstellung freute sie. Allerdings hätte sie es sich zu jener Zeit, angesichts der strengen Aufrichtigkeit, die zum Bedürfnis der Jugend nach Erfahrung gehört, wohl kaum durchgehen lassen, daß sie sich dermaßen unlogisch, ja eben jugendlich-unreif, wie sie es jetzt mit Fleiß geschehen ließ, bei der Vorstellung des Weichen und Weißen einem überirdischen Grausen überlasse. Dieses Grausen galt Professor Lindner; aber auch das Überirdische galt ihm.

Die Ahnung voll Gewißheit, es stehe alles, was ihr begegne, in märchenhafter Verbindung mit etwas Verborgenem, war ihr aus allen erregten Zeiten ihres Lebens bekannt; sie spürte es als eine Nähe, fühlte es hinter sich und hatte die Neigung, auf die Stunde des Wunders zu warten, wo sie nichts zu tun hätte, als die Augen zu schließen und sich zurückzulehnen. Ulrich aber sah in überirdischen Träumereien keine Hilfe, und seine Aufmerksamkeit schien meistens davon in Anspruch genommen zu sein, den überirdischen Inhalt unendlich langsam in einen irdischen zu verwandeln. Agathe erkannte darin den Grund, warum sie ihn binnen vierundzwanzig Stunden jetzt schon zum drittenmal verlassen hatte, fliehend in der wirren Erwartung von etwas, das sie in Obhut nehmen und von den Mühsalen, oder auch nur von der Ungeduld ihrer Leidenschaften ausruhen lassen sollte. Sobald sie sich dann beruhigte, war sie wieder selbst an seiner Seite und sah alle Heilsmöglichkeit in dem, was er sie lehrte; und auch jetzt hielt dies eine Weile an. Als sich ihr aber die Erinnerung an das, was zu Hause »beinahe« geschehen wäre – und eben doch nicht geschah! – wieder lebhafter aufdrängte, war sie auch wieder bis ins Innerste ratlos. Bald wollte sie sich nun einreden, daß ihnen der unendliche Bereich des Unvorstellbaren zu Hilfe gekommen wäre, wenn sie noch einen Augenblick ausgeharrt hätten, bald warf sie sich vor, daß sie nicht abgewartet habe, was Ulrich tun werde; schließlich aber träumte sie davon, daß es das richtigste gewesen wäre, einfach der Liebe nachzugeben und auf der schwindlichten Himmelsleiter, die sie hinanstiegen, der überforderten Natur eine Ruhestufe einzuräumen. Doch da kam sie sich, kaum war dieses Zugeständnis gemacht, wie eines der unfähigen Märchengeschöpfe vor, die nicht an sich halten können und in ihrer weibischen Schwäche vor der Zeit das Schweigen oder ein anderes Gelübde brechen, worauf alles unter Donner zusammenfällt.

Richtete sich jetzt ihre Erwartung wieder auf den Mann, der sie Rat finden lassen sollte, so hatte er nicht nur die großen Vorteile für sich, die der Ordnung, der Gewißheit, der gütigen Strenge und einem zusammengenommenen Betragen von einer unartig verzweifelten Aufführung verliehen sind; sondern es war diesem Unbekannten auch die besondere Auszeichnung zu eigen, daß er gefühllos und gewiß von Gott sprach, als verkehre er täglich in dessen Hause und könne zu verstehen geben, daß man dort alles verachte, was bloß Leidenschaft und Einbildung sei. Was mochte ihr also bei ihm bevorstehen? Als sie sich diese Frage stellte, drückte sie den Fuß heftiger im Lauf an den Boden und atmete die Kälte des Regens ein, damit sie ganz nüchtern werde; und da wurde ihr denn recht wahrscheinlich, daß Ulrich, wenn er auch einseitig über Lindner urteile, es doch richtiger tue als sie, denn vor den Gesprächen mit ihm, als ihr Eindruck von jenem noch ursprünglich war, hatte sie selbst auch recht spöttisch von dem Guten gedacht. Sie wunderte sich über ihre Füße, die sie dennoch zu ihm trugen, und nahm sogar einen in der gleichen Richtung fahrenden Stellwagen, damit es schneller vonstatten gehe.

Zwischen Menschen geschüttelt, die wie grobe nasse Wäschestücke waren, hatte sie es schwer, ihr inneres Gespinst ganz zu erhalten, aber sie stand mit erbittertem Gesicht und schützte es vor dem Zerreißen. Sie wollte es heil zu Lindner bringen. Sie verkleinerte es sogar. Ihr ganzes Verhältnis zu Gott, wenn dieser Name denn schon auf eine solche Abenteuerlichkeit angewandt werden sollte, beschränkte sich darauf, daß ein Zwielicht jedesmal vor ihr aufging, wenn das Leben zu bedrückend und widerwärtig oder, was das neue war, zu schön wurde. Da hinein rannte sie dann suchend. Das war alles, was sie ehrlich davon zu sagen wußte. Und ein Ergebnis hätte es nie gehabt. So sagte sie sich unter Stößen. Und dabei bemerkte sie, daß sie jetzt eigentlich auch recht neugierig darauf war, wie sich ihr Unbekannter aus diesem Geschäft ziehen werde, das ihm gleichsam in Stellvertretung Gottes anvertraut wurde; mußte er doch zu solchem Behuf von dem großen Unzugänglichen auch etwas Allwissenheit abbekommen haben, weil sie sich unterdes, eingeklemmt zwischen allerhand Menschen, fest vorgenommen hatte, ihm um keinen Preis gleich ein volles Geständnis abzulegen. Als sie ausstieg, entdeckte sie aber merkwürdigerweise die tief versteckte Überzeugung in sich, daß es diesmal anders kommen werde als sonst und daß sie entschlossen sei, auch auf eigene Faust das ganz Unfaßbare aus dem Zwielicht ans Licht zu holen. Vielleicht hätte sie dieses übertreibende Wort rasch wieder ausgelöscht, wenn es ihr überhaupt zu Bewußtsein gekommen wäre; aber dort war an der Stelle kein Wort, sondern bloß ein überraschtes Gefühl, das ihr Blut emporwirbelte, als wäre es Feuer.

Der Mann, auf den so leidenschaftliche Gefühle und Einbildungen unterwegs waren, saß indessen in Gesellschaft seines Sohnes Peter bei der Mittagsmahlzeit, die von ihm, einer guten Regel älterer Zeiten folgend, noch zur wirklichen Mittagsstunde eingenommen wurde. In seiner Umgebung gab es keinen Luxus, oder wie man in deutscher Sprache besser sagt, keinen Überfluß; denn das deutsche Wort eröffnet uns den Sinn, den das fremdländische verschließt. So hat auch Luxus die Bedeutung des Überflüssigen und Entbehrlichen, das müßiger Reichtum ansammeln mag; Überfluß dagegen ist nicht sowohl überflüssig, und insofern gleichbedeutend mit Luxus, als vielmehr auch überfließend und bedeutet dann eine leicht über den Rahmen schwellende Polsterung des Daseins oder jene überschüssige Bequemlichkeit und Weitherzigkeit des europäischen Lebens, die nur den ganz Armen fehlt. Lindner unterschied diese zwei Begriffe des Luxus, und ebensosehr Luxus im ersten seiner Wohnung fehlte, war er im zweiten Begriff darin vorhanden. Schon wenn sich die Eingangstür öffnete und den mäßig großen Vorraum darbot, empfing man diesen eigentümlichen Eindruck, von dem nicht zu sagen war, wovon er kam. Sah man sich dann um, so fehlte keine der Einrichtungen, die dazu geschaffen sind, dem Menschen durch eine nützliche Erfindung zu dienen: Ein Schirmständer, aus Blech gelötet und mit Email bemalt, sorgte für den Regenschirm. Ein Laufteppich mit derben Fasern nahm den Schuhen den Schmutz ab, den die Abstreifbürste noch daran gelassen haben mochte. In einer Tasche an der Wand staken zwei Kleiderbürsten, und auch der Rechen zum Aufhängen der Überkleidung fehlte nicht. Eine Glühbirne erhellte den Raum, sogar ein Spiegel war vorhanden, und alle diese Geräte waren aufs beste gewartet und wurden rechtzeitig erneuert, wenn sie Schaden nahmen. Aber die Glühbirne hatte die geringste Lichtstärke, bei der man gerade noch etwas wahrnehmen kann; der Kleiderrechen hatte bloß drei Haken; der Spiegel faßte bloß vier Fünftel eines Erwachsenengesichts; und die Dicke wie die Güte des Teppichs waren gerade so groß, daß man noch den Fußboden hindurchspürte und nicht in Weichheit versank: Mag es übrigens vergeblich sein, durch solche Einzelheiten den Geist der Örtlichkeit zu beschreiben, so brauchte man doch bloß einzutreten und empfand ihn im ganzen als etwas eigentümlich Anwehendes, das nicht streng und nicht lässig, nicht wohlhabend und nicht arm, nicht würzig und nicht geschmacklos, sondern eben etwas so bejahend aus zwei Verneinungen Hervorgehendes war, wie es sich am besten durch das Wort: Mangel an Verschwendung ausdrücken läßt. Das schloß aber, wenn man die inneren Räume betrat, ein Gefühl für Schönheit, ja sogar das des Behagens keineswegs aus, die sich allenthalben bemerken ließen. An den Wänden hingen gerahmte Prachtstiche, das Fenster neben Lindners Schreibtisch war durch ein buntes Schaustück aus Glas geziert, das einen Ritter darstellte, der mit spröder Bewegung eine Jungfrau von einem Drachen befreite, und in der Wahl einiger bemalter Vasen, die schöne Papierblumen enthielten, in der Anschaffung eines Aschenbechers durch den Nichtraucher, sowie in den vielen Kleinigkeiten, durch die gleichsam ein Sonnenstrahl in den ernsten Pflichtkreis fällt, den die Erhaltung und Betreuung eines Hauswesens darstellt, hatte Lindner gerne einen freien Geschmack walten lassen. Immerhin drang überall die zwölfkantige Strenge der Zimmerform gerade noch durch alles hindurch wie eine Erinnerung an die Härte des Lebens, deren man auch in der Annehmlichkeit nicht vergessen soll; und selbst dort, wo, aus vergangenen Zeiten herrührend, noch etwas weiblich Undiszipliniertes, ein Kreuzstichdeckchen, ein Polster mit Rosen oder ein Unterröckchen von Lampenschirm, diese Einheitlichkeit durchbrach, war sie stark genug, das schwelgerische Element daran zu hindern, daß es ganz aus ihrem Rahmen falle.

Trotzdem war Lindner an diesem Tag, und nicht zum erstenmal seit dem gestrigen Tage, beinahe um eine Viertelstunde zu spät zur Mahlzeit erschienen. Der Tisch war gedeckt; die Teller, je drei vor jedem der beiden Plätze aufeinandergestellt, sahen ihn mit dem runden Blick des Vorwurfs an; die Messerbänkchen aus Glas, auf denen Messer, Löffel und Gabel wie Kanonenrohre von der Lafette starrten, und die eingerollten Servietten in ihren Ringen waren aufmarschiert wie eine Armee, die ihr General im Stich gelassen hat. Lindner hatte flüchtig die Post zu sich gesteckt, die er sonst vor dem Essen zu öffnen pflegte, war schlechten Gewissens ins Speisezimmer geeilt und wußte nun in seiner Befangenheit nicht, was ihm dort eigentlich zustieß – es mochte wohl etwas Ähnliches wie Mißtrauen sein, da im gleichen Augenblick von der anderen Seite, und ebenso eilig wie er, sein Sohn Peter eintrat, als hätte er bloß auf den Vater gewartet.


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