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General von Stumm läßt eine Bombe fallen Weltfriedenskongreß

 

Ein Soldat darf sich durch nichts abschrecken lassen, und so gelang es General Stumm von Bordwehr als dem einzigen, zu Ulrich und Agathe vorzudringen; vielleicht war er aber auch der einzige, dem sie es nicht ganz unmöglich gemacht hatten, da denn auch Weltflüchtlinge vorsehen können, daß ihnen aller vierzehn Tage die Post nachkommt. Und als er sie jetzt durch seinen Eintritt in der Fortsetzung ihres Gesprächs störte, rief er befriedigt aus: »Leicht ist es nicht gewesen, alle Hindernisse des Vorfelds zu überwinden und in die Hauptstellung einzudringen!« küßte Agathe ritterlich die Hand und wandte sich besonders an sie mit den Worten: »Ich werde ein berühmter Mann sein, bloß weil ich Sie gesehen habe! Alle Welt fragt, welches Ereignis die Unzertrennlichen verschlungen habe, verlangt nach Ihnen, und ich bin gewissermaßen der Beauftragte der Gesellschaft, ja des Vaterlands, die Ursache Ihres Verschwindens zu entdecken! Ich bitte, mich damit zu entschuldigen, falls ich zudringlich erscheinen sollte!«

Agathe hieß ihn willkommen, wie es sich gehört; aber weder sie noch ihr Bruder vermochten sogleich, ihre Geistesabwesenheit vor ihrem Besucher zu verbergen, der als die verkörperte Schwäche und Unvollständigkeit ihrer Träume vor ihnen stand; und als General Stumm wieder von Agathe zurückgetreten war, setzte eine merkwürdige Stille ein. Agathe stand an der einen Langseite des Tisches, Ulrich an der anderen, und der General, wie ein von plötzlicher Windstille befallenes Segelschiff, ungefähr in der Mitte des Wegs zwischen ihnen beiden. Ulrich war im Begriff, seinem Besucher entgegen zu gehn, kam aber nicht von der Stelle. Stumm bemerkte jetzt, daß er wirklich gestört habe, und überlegte, wie er die Lage retten könnte. Auf allen drei Gesichtern lag der verzerrte Ansatz eines freundlichen Lächelns. Diese steife Stille dauerte kaum den Teil eines Augenblicks; doch gerade da fiel Stumms Blick auf das kleine Pferdchen aus Papiermasse, das vereinsamt wie ein Monument zwischen ihnen allen in der Mitte des leeren Tisches stand.

Die Hacken zusammenziehend, wies er mit der flachen Hand feierlich darauf und rief erleichtert aus: »Aber was ist denn das?! Ich gewahre in diesem Hause den großen Tiergötzen, das heilige Tier, das angebetete Idol der Reiterei?!«

Bei dieser Bemerkung Stumms löste sich auch Ulrichs Befangenheit, und nun auf ihn zueilend, sich aber doch auch an seine Schwester wendend, versicherte er lebhaft: »Es ist zwar ein Wagenpferd, aber im übrigen hast du es wunderbar erraten! Wir sprechen nämlich wirklich gerade von Idolen und ihrer Entstehung. Und nun sage einmal: Was liebt man, welchen Teil, welche Umformung und Verklärung liebt man, wenn man seinen Nächsten liebt, ohne ihn zu kennen? Inwiefern ist die Liebe also abhängig von der Welt und Wirklichkeit, und inwiefern verhält es sich umgekehrt?«

Stumm von Bordwehr hatte seinen Blick fragend auf Agathe gerichtet.

»Ulrich spricht von diesem kleinen Ding hier« versicherte sie etwas betreten und wies auf das Konditorpferdchen. »Er hat früher einmal eine Leidenschaft dafür gehabt.«

»Das ist aber hoffentlich schon recht lange her« äußerte sich Stumm verwundert. »Denn wenn ich nicht irre, ist es doch eine Bonbonniere!?«

»Das ist keine Bonbonniere!« beschwor ihn Ulrich, der von der lästerlichen Lust gepackt wurde, sich mit ihm darüber zu unterhalten. »Freund Stumm! Wenn du dich in ein Sattelzeug verliebst, das dir zu teuer ist, oder in eine Uniform oder in ein Paar Reitstiefel, die du in einer Auslage siehst: was liebst du da?«

»Du redest schamlos! So etwas liebe ich nicht!« verwahrte sich der General.

»Leugne nicht!« versetzte Ulrich. »Es gibt Leute, die Tag und Nacht von einem Kleiderstoff oder einem Reisekoffer träumen können, den sie in einer Auslage gesehen haben; und ein wenig davon hat jeder schon kennen gelernt; und auch dir ist es zumindest mit deiner ersten Leutnantsuniform so ergangen! Und da wirst du wohl zugeben, daß dieser Stoff oder Koffer unbrauchbar sein kann und daß man auch gar nicht in der Lage zu sein braucht, ihn wirklich begehren zu können: also ist keine Erfahrung leichter zu machen als die, daß man etwas liebt, ehe man es kennt und ohne es zu kennen. Darf ich dich übrigens daran erinnern, daß du Diotima gleich auf den ersten Blick geliebt hast?!«

Diesmal blickte der General pfiffig auf. Agathe hatte ihm mittlerweile Platz angeboten und hatte ihn auch mit einer Zigarre versorgt, weil ihr Bruder seiner Pflicht vergaß; er war von blauen Wölkchen umsäumt und sagte unschuldig: »Sie ist seither ein Lehrbuch der Liebe geworden, und Lehrbücher habe ich schon auf der Schule nicht so recht geliebt. Aber ich bewundere und achte diese Frau noch immer« fügte er mit einer würdigen Gelassenheit hinzu, die neu an ihm war.

Ulrich beachtete sie leider nicht gleich. »Alles das sind Idole« fuhr er fort, seine an Stumm gerichteten Fragen zu entwickeln. »Und nun siehst du deren Entstehung. Die in unsere Natur gelegten Triebe brauchen nur ein Mindestmaß an äußerer Begründung und Rechtfertigung; sie sind ungeheure Maschinen, die sich durch einen kleinen Schalter in Bewegung setzen lassen. Sie statten dafür den Gegenstand, dem sie gelten, aber auch nur so weit mit Vorstellungen aus, die einer Prüfung standhalten könnten, als es etwa dem Flackern von Licht und Schatten im Schein einer Notbeleuchtung entspricht –«

»Halt!« bat Stumm aus der Dampfwolke. »Was ist ›Gegenstand‹? Sprichst du jetzt wieder von den Stiefeln und dem Koffer?«

»Ich spreche von der Leidenschaft. Von der Sehnsucht nach Diotima gerade so wie von der nach der verbotenen Zigarette. Ich möchte dir deutlich machen, daß jedes affektive Verhältnis zuerst durch vorläufige Wahrnehmungen und Vorstellungen angebahnt wird, die der Wirklichkeit angehören; daß es sogleich aber auch selbst Wahrnehmungen und Vorstellungen hervorruft, die es in seiner Weise ausstattet. Kurz, der Affekt rückt sich den Gegenstand zurecht, wie er ihn braucht, ja erschafft ihn, so daß er schließlich einem Gegenstand gilt, der, auf solche Art zustandegekommen, nicht mehr zu erkennen wäre. Aber er ist ja auch nicht für die Erkenntnis bestimmt, sondern eben für eine Leidenschaft! Dieser aus der Leidenschaft entstehende und in ihr schwebende Gegenstand« schloß Ulrich nun, zum Anfang zurückkehrend »ist natürlich etwas anderes als der Gegenstand, an den sie sich äußerlich heftet und nach dem sie greifen kann, und das gilt also auch von der Liebe. Ich liebe ›dich‹, ist eine Verwechslung; denn ›dich‹, diese Person, von der die Leidenschaft hervorgerufen wird und die man mit Armen greifen kann, glaubt man zu lieben, und die von der Leidenschaft hervorgerufene Person, dieses wildreligiöse Gebilde, liebt man wirklich, aber sie ist eine andere.«

»Wenn man dich hört,« unterbrach Agathe ihren Bruder mit einem Vorwurf, der ihre innere Teilnahme verriet »so sollte man meinen, daß man die wirkliche Person nicht wirklich liebt und eine unwirkliche wirklich –!«

»Genau das habe ich sagen wollen, und ähnliches habe ich auch schon von dir gehört.«

»Aber in Wirklichkeit sind die beiden schließlich doch eins!«

»Das ist ja gerade die Hauptverwicklung, daß die der Liebe vorschwebende Person in jeder äußeren Beziehung von der wirklichen Person vertreten werden muß, ja mit ihr eins ist. Dadurch kommt es zu allen den Verwechslungen, die dem einfachen Geschäft der Liebe etwas so anregend Gespenstisches verleihen!«

»Vielleicht wird aber auch die wirkliche Person erst in der Liebe ganz wirklich? Vielleicht ist sie vorher nicht vollständig?!«

»Aber der Stiefel oder Reisekoffer, von dem man träumt, ist in Wirklichkeit doch kein anderer als der, den man auch kaufen könnte!«

»Vielleicht entsteht auch der Reisekoffer erst zu Ende, wenn man ihn liebt!«

»Mit einem Wort, man kommt zu der Frage, was wirklich sei. Die alte Frage der Liebe!« rief Ulrich ungeduldig und doch befriedigt aus.

»Ach, lassen wir den Reisekoffer!« Es war zum Erstaunen der beiden die Stimme des Generals, die ihr Scheingefecht unterbrach. Stumm hatte behaglich ein Bein über das andere gezwängt, was ihm, wenn es einmal gelungen war, große Sicherheit verlieh. »Bleiben wir bei der Person« fuhr er fort und lobte Ulrich: »Du hast bis jetzt manches wieder hervorragend schön gesagt! Die Menschen glauben ja immer, daß nichts einfacher ist, als einander zu lieben, und dann muß man ihnen jeden Tag vorhalten: ›Verehrteste, das ist nicht so einfach, wie bei der Äpfelfrau!‹« Höflich wandte er sich zur Erklärung dieses mehr militärischen als zivilen Ausdrucks an Agathe: »Die Äpfelfrau, Gnädigste, zitiert man bei uns, wenn einer sich etwas leichter vorstellt, als es ist. In der Höheren Mathematik, zum Beispiel, wenn beim abgekürzten Dividieren einer gleich so stark abkürzt, daß er, mir nichts, dir nichts, bei einem falschen Resultat ist! Dann hält man ihm die Äpfelfrau vor, und das wird dann halt auch sonst angewendet, wo ein gewöhnlicher Mensch bloß sagen möchte: das ist nicht so einfach!« Nun wandte er sich wieder an Ulrich und fuhr fort: »Deine Wissenschaft von den zwei Personen interessiert mich deshalb so sehr, weil auch ich den Leuten allemal sage, daß man den Menschen nur in zwei Teilen lieben kann: in der Theorie, oder wie du sagst, als vorschwebende Person, soll man ihn meinetwegen lieben; aber in der Praxis muß man streng, und schließlich auch hart, mit ihm verfahren! So ist es zwischen Mann und Frau, und so ist es überhaupt im Leben! Die Pazifisten zum Beispiel, mit ihrer Liebe ohne Schuhsohlen, ahnen davon nicht das mindeste, und ein Leutnant versteht zehnmal mehr von der Liebe als diese Dilettanten!«

Stumm von Bordwehr machte durch seinen Ernst, durch die Abgewogenheit seiner Rede, nicht zuletzt sogar durch die Kühnheit, mit der er, trotz Agathes Gegenwart, die Frau zum Gehorchen verurteilt hatte, den Eindruck eines Mannes, mit dem sich Wichtiges ereignet hat und der sich nicht ohne Erfolg bemüht hat, es zu bemeistern. Aber Ulrich hatte das noch immer nicht erfaßt und schlug vor: »Entscheide also du, welcher Person eine Liebe in Wahrheit gilt und welche Person bloß der Figurant ist!«

»Das war mir zu hoch« versicherte Stumm ruhig, zog Atem aus der Zigarre und fügte gelassen hinzu: »Ich habe mich gefreut, wieder zu hören, wie schön du sprichst; aber im ganzen sprichst du doch so, daß man sich fragen möchte, ob es denn wirklich deine einzige Beschäftigung ist. Ich muß gestehn, daß ich erwartet habe, dich nach deinem Verschwinden bei, weiß Gott, wichtigeren Geschäften anzutreffen!«

»Stumm, das ist wichtig!« rief Ulrich aus. »Denn die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte! Natürlich mußt du alle Arten der Liebe zusammennehmen!«

Der General nickte widerstrebend. »Das mag schon so sein.« Er verschanzte sich hinter das Geschäft, eine neue Zigarre zu beschneiden und anzuzünden, und knurrte: »Aber dann ist die andere Hälfte eine Geschichte des Zorns. Und man soll den Zorn nicht geringschätzen! Ich bin seit einiger Zeit ein Spezialist der Liebe und weiß das!«

Jetzt verstand Ulrich endlich, daß sein Freund sich verändert habe, und bat ihn neugierig, zu erzählen, was ihm widerfahren sei.

Stumm von Bordwehr sah ihn eine Weile an, ohne zu antworten, dann sah er Agathe an, und endlich erwiderte er, so daß nicht recht zu unterscheiden war, ob es gereizt oder genußvoll verzögert geschehe: »Oh, es wird dir vielleicht kaum der Rede wert erscheinen im Vergleich mit deinen Beschäftigungen. Bloß das eine ist geschehen: Die Parallelaktion hat ein Ziel gefunden!«

Diese Nachricht von etwas, dem so viel Anteilnahme geschenkt worden war, wenn auch keine echte, hätte selbst einen unaufgelockerten Zustand der Abgeschlossenheit durchschlagen müssen, und als Stumm seine Wirkung sah, war er mit dem Geschick versöhnt und fand seine alte, arglose Mitteilungsfreude für längere Zeit wieder. »Wenn du es vorziehst, kann ich ebenso gut auch sagen: Die Parallelaktion hat ein Ende gefunden!« bot er entgegenkommend an.

Ganz nebenbei war das geschehen: »Wir haben uns alle schon so daran gewöhnt gehabt, daß nichts geschieht, aber immer etwas geschehen soll« erzählte Stumm. »Und da hat auf einmal jemand anstatt eines neuen Vorschlags die Nachricht gebracht, daß heuer im Herbst ein Welt-Friedens-Kongreß tagen wird, und noch dazu hier bei uns!«

»Das ist sonderbar!« meinte Ulrich.

»Wieso sonderbar? Wir haben doch nicht das geringste davon gewußt!«

»Das meine ich ja gerade.«

»Also da hast du ja auch nicht ganz unrecht« pflichtete ihm Stumm von Bordwehr bei. »Es wird jetzt sogar behauptet, daß es eine vom Ausland lancierte Nachricht gewesen sein soll. Der Leinsdorf und Tuzzi haben geradezu vermutet, daß es sich um eine russische Intrige gegen unsere vaterländische Aktion handeln könnte, wenn nicht am Ende gar um eine reichsdeutsche. Denn du mußt bedenken, daß wir doch erst in vier Jahren fertig zu sein brauchen, so daß es ganz gut möglich wäre, daß man uns in etwas hineinhetzen will, das wir gar nicht beabsichtigen. Die Versionen gehen darüber auseinander; aber die Wahrheit hat sich nicht mehr feststellen lassen, obwohl wir natürlich sofort überall hingeschrieben haben, um etwas Näheres zu erfahren. Merkwürdigerweise hat man auch schon überall von diesem pazifistischen Kongreß – gewußt ich versichere dir: in der ganzen Welt! Und bei Privaten gerade so wie in Redaktionen und Staatskanzleien! – doch hat man angenommen, oder es ist eben ausgesprengt worden, daß er von uns ausgeht und zu unserer großen Weltaktion gehört, und ist bloß verwundert gewesen, weil von uns auf keinerlei Anfragen und Rückfragen eine vernünftige Antwort gekommen ist. Vielleicht hat sich jemand einen Jux mit uns gemacht; der Tuzzi hat uns ein paar von diesen Einladungen zum Friedenskongreß unauffällig verschaffen können: die Unterschriften waren zwar recht naiv nachgemacht, aber das Briefpapier und der Stil sind wirklich wie echt gewesen! Natürlich haben wir uns dann auch an die Polizei gewandt, und die hat rasch herausgefunden, daß die ganze Ausführung auf einen Ursprung hierzulande zurückweist, und dabei ist auch herausgekommen, daß es wirklich solche Leute hier gibt, die einen Weltfriedenskongreß im Herbst einberufen möchten – weil da nämlich eine Frau, die einen pazifistischen Roman geschrieben hat, ich weiß nicht wie viel Jahre alt wird oder, falls sie schon gestorben sein sollte, alt geworden wäre: Aber diese Leute haben mit der Ausstreuung, die uns betroffen hat, wie sich bald herausgestellt hat, nachweisbar nicht das geringste zu tun; und auf diese Weise ist der Ursprung also im Dunkel geblieben« meinte Stumm verzichtend, aber mit der Befriedigung, die jede gut zu Ende gebrachte Erzählung gewährt. Die anstrengende Darlegung der Schwierigkeiten hatte sein Gesicht mit Schatten überzogen, doch jetzt brach die Sonne seines Lächelns durch diese Ratlosigkeit hindurch, und mit einem so unbefangenen wie treuherzigen Zug von Verachtung fügte er noch hinzu: »Das Merkwürdigste ist ja, daß alle Welt einverstanden gewesen ist mit so einem Kongreß oder daß wenigstens keiner hat nein sagen wollen! Und jetzt frage ich dich: was bleibt einem da übrig; besonders wenn man schon vorausgesagt hat, daß man etwas unternehmen wird, was der ganzen Welt ein Vorbild sein soll, und immer die Parole der Tat ausgegeben hat?! Wir haben einfach vierzehn Tage wie die Wilden arbeiten müssen, damit das wenigstens hinterdrein so ausschaut, wie es sozusagen unter anderen Umständen im vorhinein ausgeschaut hätte. Und so haben wir uns der organisatorischen Überlegenheit der Preußen – vorausgesetzt, daß es überhaupt die Preußen gewesen sind! – eben gewachsen gezeigt. Wir nennen es jetzt eine Vorfeier. Den politischen Teil behält dabei die Regierung im Auge, und wir von der Aktion bearbeiten mehr das Festliche und Kulturmenschliche, weil das für ein Ministerium einfach zu belastend ist –«

»Aber eine sonderbare Geschichte bleibt es immerhin!« versicherte jetzt Ulrich ernst, obwohl er über diesen Ausgang lachen mußte.

»Halt ein historischer Zufall« sagte der General zufrieden. »Solche Mystifikationen sind schon oft von Wichtigkeit gewesen.«

»Und Diotima?« erkundigte sich Ulrich vorsichtig.

»Ja, die hat freilich Amor und Psyche schleunigst beiseite stellen müssen und entwirft jetzt zusammen mit einem Maler den Trachtenfestzug. ›Die Stämme Österreichs und Ungarns huldigen dem inneren und äußeren Frieden‹ wird er heißen« berichtete Stumm und wandte sich nun flehend an Agathe, als er bemerkte, daß auch sie die Lippen zum Lächeln verzog. »Ich beschwöre Sie, Gnädigste, wenden Sie nichts dagegen ein und gestatten Sie auch ihm keinen Einwand!« bat er. »Denn der Trachtenfestzug und wahrscheinlich eine Militärparade sind das einzige, was bis jetzt von den Feierlichkeiten feststeht. Es werden die Tiroler Standschützen über die Ringstraße marschieren, denn die geben mit ihren grünen Hosenträgern, den Hahnenfedern und den langen Bärten immer ein malerisches Bild ab; und dann sollen auch noch die Biere und Weine der Monarchie den Bieren und Weinen der übrigen Welt huldigen. Aber schon da besteht zum Beispiel noch keine Einigung darüber, ob nur die österreichisch-ungarischen Biere und Weine denen der übrigen Welt huldigen sollen, damit der liebenswürdige österreichische Charakter umso gastlicher hervorkommt, als man auf eine Gegenhuldigung verzichtet; oder ob auch die ausländischen Biere und Weine mitmarschieren dürfen, damit sie den unsrigen huldigen, und ob sie dafür Zoll zahlen müssen oder nicht. Jedenfalls ist das eine sicher, daß es bei uns einen Festzug ohne Menschen, die in altdeutschen Kostümen auf Faßwagen und Bierpferden sitzen, nicht geben kann und noch nie gegeben hat; und ich kann mir bloß nicht vorstellen, wie das im Mittelalter selbst gewesen ist, als die altdeutschen Kostüme noch nicht alt gewesen sind, und nicht einmal älter ausgeschaut haben als heutzutage ein Smoking!?«

Nachdem diese Frage zur Genüge gewürdigt worden war, stellte Ulrich aber eine bedenklichere: »Ich möchte wissen, was unsere nichtdeutschen Nationen zu dem Ganzen sagen werden!«

»Das ist einfach: sie werden mitmarschieren!« versicherte Stumm vergnügt. »Denn wenn sie es nicht tun, so kommandieren wir ein böhmisches Dragonerregiment in den Festzug und machen Hussitenkrieger aus ihm, und ein Ulanenregiment ziehen wir als die polnischen Türkenbefreier Wiens an.«

»Und was sagt Leinsdorf zu diesen Plänen?« fragte Ulrich zögernd.

Stumm stellte das übergelegte Bein neben das andere und wurde ernst. »Der ist allerdings nicht gerade entzückt« gab er zu und erzählte, daß Graf Leinsdorf niemals das Wort »Festzug« in Gebrauch nehme, sondern auf das halsstarrigste daran festhalte, »die Demonstration« zu sagen. »Wahrscheinlich liegen ihm noch die Demonstrationen im Sinn, die er erlebt hat« meinte Ulrich, und Stumm pflichtete ihm bei: »Er hat schon des öfteren zu mir gesagt,« berichtete er »wer das Volk auf die Straße führt, lädt damit eine große Verantwortung auf sich, Herr General! Genau so, als ob ich etwas dafür oder dagegen tun könnte! Dazu müßtest du aber freilich auch wissen, daß wir seit einiger Zeit ziemlich oft beisammen sind, er und ich –«

Stumm setzte aus, als wolle er Zeit für eine Frage lassen, als aber weder Agathe noch Ulrich diese stellten, fuhr er vorsichtig fort: »Es ist Seiner Erlaucht nämlich noch eine Demonstration widerfahren. Auf einer Reise, in B..., ist er in jüngster Zeit sowohl von den Tschechen als auch von den Deutschen beinahe verprügelt worden.«

»Aber warum denn?« rief Agathe teilnehmend aus, und auch Ulrich zeigte seine Neugierde.

»Weil er als Friedensstifter bekannt ist!« verkündete Stumm. »Die Friedens- und Menschenliebe ist nämlich in Wirklichkeit nicht so einfach –«

»Wie bei der Äpfelfrau!« fiel Agathe lachend ein.

»Eigentlich habe ich sagen wollen, wie bei einer Bonbonniere« verbesserte sie Stumm und fügte diesem bedächtigen Tadel für Ulrich noch die Anerkennung für Leinsdorf hinzu: »Trotzdem wird ein Mann wie er, wenn es einmal beschlossen ist, das Amt, das ihm zufällt, voll und ganz ausfüllen!«

»Welches Amt denn?« fragte nun Ulrich.

»Jedes!« versicherte der General. »Er wird auf der Festtribüne neben dem Kaiser sitzen, natürlich nur in dem Fall, daß sich Seine Majestät auf eine Festtribüne setzt; und außerdem entwirft er die Huldigungsadresse unserer Völker, die er dem Allerhöchsten Herrn überreichen wird. Wenn das aber vorläufig selbst alles sein sollte, so bin ich überzeugt, daß es das nicht bleiben wird; denn wenn er keine andern Sorgen hat, so macht er sich sofort welche: eine so tatkräftige Natur ist er! Jetzt möchte er übrigens dich sprechen« ließ Stumm versuchsweise einfließen.

Ulrich schien es zu überhören, war aber aufmerksam geworden. »Leinsdorf ›fällt‹ doch kein Amt ›zu‹?!« fragte er mißtrauisch. »Seit er lebt, ist er immer der Knopf auf der Fahnenstange gewesen!«

»Ja –« meinte General Stumm mit Vorbehalt. »Ich will eigentlich auch nichts gesagt haben; er bleibt natürlich immer ein hoher Herr. Aber schau, da hat mich zum Beispiel der Tuzzi unlängst beiseite genommen und hat vertraulich zu mir gesagt: ›Herr General! Wenn mich in einer finsteren Gasse ein Mann anstreift, so trete ich zur Seite; wenn er mich aber in der gleichen Lage freundlich fragt, wieviel Uhr es ist, dann greife ich nicht nur nach der Uhr, sondern taste auch nach der Pistole!‹ Was sagst du dazu?«

»Was sollte ich dazu sagen? Ich verstehe den Zusammenhang nicht!«

»Das ist eben jetzt die Vorsicht der Regierung« erklärte Stumm. »Sie denkt bei einem Weltfriedenskongreß an alle Möglichkeiten, während der Leinsdorf schließlich doch immer seine eigenen Ideen hat.«

Ulrich begriff plötzlich. »Also mit einem Wort: Leinsdorf soll jetzt von der Spitze verdrängt werden, weil man Angst vor ihm hat?!«

Darauf erwiderte der General nicht unmittelbar. »Er läßt dich durch mich bitten, daß du die guten Beziehungen zu deiner Kusine Tuzzi wieder aufnehmen sollst, damit man erfährt, was vorgeht: Ich sage es gerade heraus, er hat es natürlich zurückhaltender ausgedrückt« berichtete Stumm. Und nach kurzem Zaudern fügte er entschuldigend hinzu: »Sie sagen ihm halt nicht alles! Aber schließlich ist das eben die Gewohnheit der Ministerien: wir sagen uns doch untereinander auch nicht alles!«

»In welchen Beziehungen ist denn mein Bruder eigentlich zu unserer Kusine gestanden?« fragte jetzt Agathe.

Ahnungslos versicherte Stumm, in der freundlichen Täuschung befangen, daß er gefällig scherze: »Er ist eine geheime Liebe von ihr!« und fügte nun gleich auch ermunternd für Ulrich hinzu: »Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber sie bedauert es sicher! Sie sagt, du bist ein so unentbehrlich schlechter Patriot, daß du allen Feinden des Vaterlands großartig gefallen müßtest, die sich schließlich bei uns ja wohlfühlen sollen. Das ist doch eigentlich nett von ihr? Nur den ersten Schritt kann sie natürlich nicht tun, nachdem du dich so eigensinnig zurückgezogen hast!«

Der Abschied wurde von da an etwas einsilbig, und es bedrückte Stumm sehr, nachdem er im Zenit gestanden, glanzlos untergehen zu sollen.

So erfuhren Ulrich und Agathe schließlich etwas, das ihre Züge wieder erheiterte und auch das Antlitz des Generals freundlich rötete. »Den Feuermaul sind wir los!« berichtete er, zufrieden damit, daß es ihm noch rechtzeitig eingefallen sei, und er fügte voll Verachtung für die Menschenliebe des Dichters hinzu: »Das hat jetzt ohnehin keinen Sinn mehr!« Auch der »ekelerregende« Beschluß aus der letzten Sitzung, daß man niemand zwingen dürfe, für fremde Ideen zu sterben, wogegen es jeder für seine eigenen tun solle, auch dieser von Grund aus friedenstiftende Beschluß war, wie sich nun zeigte, gemeinsam mit allem, was der Vergangenheit angehörte, gefallen und auf des Generals Einspruch nicht einmal mehr zu Protokoll genommen worden. »Eine Zeitschrift, die ihn abgedruckt hat, haben wir unterdrückt; solches übertriebene Gerede glaubt ja doch kein Mensch mehr!« ergänzte Stumm diese Mitteilung, was angesichts der Vorbereitungen zu einem pazifistischen Kongreß nicht ganz klar anmutete. Agathe nahm denn auch die jungen Leute ein wenig in Schutz, und selbst Ulrich erinnerte schließlich seinen Freund daran, daß Feuermaul doch nicht an dem Zwischenfall schuld gewesen sei. Da machte Stumm aber keine Schwierigkeiten und gab zu, daß Feuermaul, den er im Haus seiner Schutzherrin kennengelernt habe, ein reizender Mensch sei. »So voll Anteilnahme für alles! Und wirklich geradezu aus freien Stücken gut!« rief er anerkennend aus.

»Aber dann wäre er doch durchaus eine schätzenswerte Bereicherung für diesen Kongreß!« warf Ulrich abermals ein.

Aber Stumm, der sich inzwischen ernstlich zum Gehen angeschickt hatte, schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein! Ich kann es nicht so kurz ausdrücken, worauf es ankommt« sagte er entschlossen. »Aber der Kongreß soll nicht übertrieben sein!«

 

Aus Urheberrechtsgründen gelöscht: 68

 


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