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Ulrich und die zwei Welten des Gefühls

 

»Womit beginne ich am günstigsten?« fragte sich Ulrich hin und her wandernd im Garten, während ihn bald die Sonne an Gesicht und Händen brannte, bald der Schatten kühlende Blätter darauf legte. »Soll ich gleich damit anfangen, daß jedes Gefühl auf zweierlei Weise in der Welt ist und den Ursprung von zwei Welten in sich trägt, die so verschieden sind wie Tag und Nacht? Oder tue ich besser daran, daß ich an die Bedeutung anknüpfe, die das ernüchterte Gefühl für unser Weltbild hat, und dann auf umgekehrtem Wege zu dem Einfluß komme, den unser aus Handeln und Wissen geborenes Weltbild auf das Bild ausübt, das wir uns von unseren Gefühlen machen? Oder soll ich sagen, daß es schon Ekstasen gewesen sind, was ich andeutend als Welten beschrieben habe, in denen sich die Gefühle nicht gegenseitig aufheben?« Aber während er sich noch diese Fragen stellte, entschied es sich schon, daß er mit allem gleichzeitig begann; denn der Gedanke, um den ihm so bangte, daß er das Schreiben unterbrochen hatte, war so beziehungsreich wie eine alte Freundschaft, und es ließ sich gar nicht mehr sagen, wie oder wann er entstanden sei. Während seiner ordnenden Beschäftigung war Ulrich diesem Gedanken immer näher gerückt – und er hatte sie auch nur seinetwegen aufgenommen gehabt – aber nun, wo er ans Ende gekommen war, mußte sich hinter zerteilten Nebeln Klarheit oder Leere zeigen. Es war kein angenehmer Augenblick, als er die ersten Worte fand, bei denen es verbleiben sollte: »Es stecken in jedem Gefühl zwei grundverschiedene Entfaltungsmöglichkeiten, die gewöhnlich zu einer verschmelzen; sie können aber auch einzeln zur Geltung kommen, und vornehmlich geschieht das in der Ekstase!«

Er nahm sich vor, sie fürs erste die äußere und die innere Entfaltung zu nennen, und sie von der harmlosesten Seite zu betrachten – es standen ihm eine Menge Beispiele dafür zur Verfügung: Gefallen, Liebe, Zorn, Mißtrauen, Großmut, Ekel, Neid, Verzagtheit, Angst, Begehren..., und er ordnete sie in Gedanken zu einer Reihe. Dann bildete er eine zweite Reihe: Wohlgesinntheit, Zärtlichkeit, Gereiztheit, Argwohn, Gehobenheit, Ängstlichkeit, Sehnsucht, der nur die Glieder fehlten, für die er keinen Namen fand, und verglich die beiden Reihen. Die eine enthielt bestimmte Gefühle, wie sie zumal durch ein bestimmtes Zusammentreffen in uns erregt werden, die andere enthielt unbestimmte Gefühle, die am stärksten sind, wenn man nicht weiß, was sie erregt hat; und doch waren es beidemal die gleichen Gefühle, hier in einem allgemeinen, dort in einem besonderen Zustand. »Ich werde also sagen, daß an jedem Gefühl eine Entwicklung zur Bestimmtheit und eine zur Unbestimmtheit zu unterscheiden ist« dachte Ulrich. »Besser ist aber, wenn ich zuvor gleich alle Unterschiede aufzeichne, die damit verbunden sind.«

Er hätte die meisten von ihnen im Schlaf aufsagen können, aber sie werden jedem geläufig erscheinen, wenn er für die »unbestimmten Gefühle«, aus denen Ulrich die zweite Reihe gebildet hatte, das Wort Stimmungen gebraucht, obwohl es Ulrich nicht ohne Absicht mied. Denn unterscheidet man zwischen Gefühl und Stimmung, so ist leicht zu bemerken, daß das »bestimmte Gefühl« allemal einem Etwas gilt, einer Lebenslage entspringt, ein Ziel hat und sich in einem mehr oder minder eindeutigen Verhalten ausdrückt, wogegen eine Stimmung von alledem ungefähr das Gegenteil zeigt: sie ist umfassend, ziellos, ausgebreitet, untätig, enthält bei aller Deutlichkeit etwas Unbestimmtes und ist bereit, sich auf jeden Gegenstand zu ergießen, ohne daß etwas geschieht und ohne daß sie sich dabei ändert. So entspricht dem bestimmten Gefühl ein bestimmtes Verhalten zu etwas und dem unbestimmten ein allgemeines, ein Verhalten zu allem, und das eine zieht uns in Geschehen, während uns das andere bloß hinter einem farbigen Fenster daran teilnehmen läßt.

Bei diesem Unterschied, wie sich bestimmte und unbestimmte Gefühle zur Welt verhalten, verweilte Ulrich jetzt einen Augenblick. Er sagte sich: »Ich werde dies anfügen: Wenn sich ein Gefühl zur Bestimmtheit entwickelt, spitzt es sich gewissermaßen zu, es verengt seine Bestimmung und endet schließlich außen und innen wie in einer Sackgasse; es führt zu einer Handlung oder zu einem Beschluß, und wenn es darin auch nicht aufhört zu sein, so geht es doch später so verändert weiter wie Wasser hinter der Mühle. Entwickelt es sich hingegen zur Unbestimmtheit, so hat es anscheinend gar keine Tatkraft. Aber während das bestimmt entwickelte Gefühl an ein Wesen mit greifenden Armen erinnert, verändert das unbestimmte die Welt auf die gleiche wunschlose und selbstlose Weise, wie der Himmel seine Farben, und es verändern sich in ihm die Dinge und Geschehnisse wie die Wolken am Himmel; das Verhalten des unbestimmten Gefühls zur Welt hat etwas Magisches an sich und – Gott helfe mir! – im Vergleich mit dem bestimmten etwas Weibliches!« So sagte sich Ulrich, und dann fiel ihm etwas ein, das weit verführte: denn natürlich ist es vornehmlich die Entwicklung zum bestimmten Gefühl, was die Unbeständigkeit und Hinfälligkeit des seelischen Lebens nach sich zieht. Daß man niemals den Augenblick des Fühlens festhalten kann, daß die Gefühle rascher verwelken als Blumen oder daß sie sich in Papierblumen verwandeln, wenn sie erhalten bleiben wollen, daß das Glück und der Wille, die Kunst und Gesinnung vorbeigehn, alles dies hängt von der Bestimmtheit des Gefühls ab, die ihm auch eine Bestimmung unterschiebt und es in den Gang des Lebens zwingt, von dem es aufgelöst oder verändert wird. Dagegen ist das in seiner Unbestimmtheit und Unbegrenztheit verharrende Gefühl verhältnismäßig unveränderlich. Ein Vergleich fiel ihm ein: »Das eine stirbt wie ein Einzelwesen, das andere dauert an wie eine Art oder Gattung.« Vielleicht wiederholt sich dabei in der Einrichtung des Gefühls sogar wirklich, wenn auch sehr mittelbar, eine allgemeine Lebenseinrichtung; er vermochte es nicht abzuschätzen, hielt sich aber auch nicht damit auf, denn in der Hauptsache meinte er nun so deutlich wie noch nie zuvor zu sehen.

Er wäre jetzt bereit gewesen, auf sein Zimmer zurück zu eilen, verweilte aber doch noch ein wenig, denn er wollte zuvor den ganzen Plan im Kopf überschlagen, ehe er ihn schriftlich ausführe. »Ich habe von zwei Entwicklungsmöglichkeiten und Zuständen ein und desselben Gefühls gesprochen,« überlegte er »aber dann muß natürlich auch schon am Ursprung des Gefühls etwas sein, womit das anheben kann. Und wirklich zeigen ja auch die Triebe, die unsere Seele mit einem Leben speisen, das fast noch wie Tierblut ist, schon diese zweiteilige Anlage. Ein Trieb treibt zum Handeln, und das ist anscheinend seine Hauptaufgabe; aber er stimmt auch die Seele. Hat er noch kein Ziel gefunden, so ist sogar das unbestimmte Sichweiten und -dehnen an ihm sehr deutlich, ja, es werden sich viele Leute finden, die gerade darin das Anzeichen eines erwachenden Triebes sehen; zum Beispiel des Geschlechtstriebs, aber natürlich gibt es auch eine Sehnsucht des Hungers und anderer Triebe. So ist im Trieb also das Bestimmte und das Unbestimmte. Ich werde hinzufügen,« dachte Ulrich »daß die leiblichen Organe, die daran beteiligt sind, daß die Außenwelt einen Affekt in uns weckt, diesen bei anderer Gelegenheit auch selbst hervorbringen können, wenn sie von innen gereizt werden; mehr braucht es gar nicht, um bis zur Ekstase zu gelangen!«

Dann besann er sich darauf, daß nach den Ergebnissen der Forschung und erst recht nach der Auslegung, die er ihnen in seinen Aufzeichnungen gab, auch anzunehmen sei, daß der Ansatz zu einem Gefühl immer auch zu einem anderen Gefühl dienen könne und daß kein solches in dem Vorgang seiner Ausgestaltung und Verfestigung jemals zu einem ganz bestimmten Ende komme. War das aber richtig, so erreichte nicht nur kein Gefühl seine volle Bestimmtheit, sondern höchst wahrscheinlich auch keines eine vollkommene Unbestimmtheit, und es gab weder ein ganz bestimmtes noch ein ganz unbestimmtes Gefühl. Und wirklich geschieht es auch fast immer, daß sich die beiden Möglichkeiten des Gefühls zu einer gemeinsamen Wirklichkeit verbinden, worin die Eigenart des einen oder des anderen bloß vorherrscht. Es gibt keine »Stimmung«, die nicht auch bestimmte Gefühle enthielte, die sich in ihr bilden und wieder auflösen; und es gibt kein bestimmtes Gefühl, das nicht wenigstens dort, wo sich von ihm sagen läßt, daß es »ausstrahle«, »erfasse«, »aus sich selbst wirke«, sich »ausdehne« oder »unmittelbar«, ohne eine äußere Bewegung auf die Welt einwirke, die Eigenart des unbestimmten durchblicken ließe. Wohl aber gibt es Gefühle, die mit großer Annäherung dem einen oder dem anderen entsprechen.

Natürlich haftet an den Worten »bestimmt« und »unbestimmt« der Nachteil, daß auch ein bestimmtes Gefühl immer ungenügend bestimmt bleibt, und in diesem Sinne unbestimmt ist, aber das war wohl von der wesentlichen Unbestimmtheit leicht zu unterscheiden. »Es wird also nur noch auszumachen sein, warum die Eigenart des unbestimmten Gefühls, und die ganze Entwicklung zu ihr, für weniger wirklich gilt als ihr Gegenspiel« dachte Ulrich. »In der Natur liegt beides. Also mag die verschiedene Bewertung wohl damit zusammenhängen, daß uns die äußere Entfaltung des Gefühls wichtiger ist als die innere oder daß uns die Richtung zur Bestimmtheit wichtiger ist als die zur Unbestimmtheit. Und unser Leben müßte wahrhaftig auch ein anderes sein, als es ist, wenn dem nicht so wäre! Es ist eine nicht zu übersehende Eigentümlichkeit der europäischen Kultur, daß in ihr alle naslang die ›Welt des Innern‹ für das Schönste und Tiefste erklärt wird, was das Leben birgt, desungeachtet diese innere Welt aber doch bloß als ein Anbau der äußeren behandelt wird. Und es ist geradezu das Bilanzgeheimnis dieser Kultur, wie das gemacht wird, wenn es ein öffentliches Geheimnis ist: Man stellt die äußere Welt und die ›Persönlichkeit‹ einander gegenüber; man nimmt an, daß die äußere Welt in einer Person innere Vorgänge erregt, die sie befähigen müssen, zweckentsprechend zu erwidern; und indem man in Gedanken diese Bahn herstellt, die von einer Veränderung der Welt durch die Veränderung einer Person wieder auf eine Veränderung der Welt führt, gewinnt man die eigentümliche Zweideutigkeit, die es uns gestattet, die Welt des Innern als den eigentlichen menschlichen Hoheitsbereich zu ehren, und doch von ihr vorauszusetzen, daß alles, was in ihr vorgeht, zuletzt die Aufgabe habe, wieder in eine ordentliche Wirkung nach außen zu münden.«

Es fuhr Ulrich durch den Kopf, daß es lohnend sein müßte, das Verhalten der Zivilisation zur Religion und zur Kunst in diesem Sinne zu betrachten; aber es war ihm wichtiger, die Richtung, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, beizubehalten. An die Stelle von »Welt des Innern« ließ sich auch einfach »Gefühl« setzen, denn vornehmlich hat dieses die zweideutige Stellung, daß es recht eigentlich das Innere ist, und doch zumeist wie ein Schatten des Äußeren behandelt wird; und besonders haftet das natürlich an allem, was Ulrich als die innere und unbestimmte Entfaltung des Gefühls unterscheiden zu können glaubte. Es zeigt sich schon darin, daß die Ausdrücke, in denen wir das innere Walten beschreiben, fast alle dem äußeren entnommen sind; denn offenbar übertragen wir die tätige Art des äußeren Geschehens selbst dann schon auf das anders geartete innere, wenn wir dieses als eine Tätigkeit darstellen, mag es ein Ausstrahlen oder ein Schalten, ein Ergreifen oder ähnliches sein; denn diese Bilder, der Außenwelt entnommen, sind für die Innenwelt nur darum bezeichnend und geläufig geworden, weil wir dort besserer ermangeln. Sogar die wissenschaftlichen Lehren, die das Gefühl als ein Ineinander oder als ein auf gleichem Fuße stehendes Nebeneinander von äußeren und inneren Handlungen beschreiben, machen – eben dadurch, daß sie durchwegs von einem Handeln sprechen und die Handelnsfernheit des rein Innerlichen übergehen – ein Zugeständnis an diese Gewohnheit. Und schon aus diesen Gründen ist es schier unvermeidlich, daß uns die innere Gefühlsentfaltung gewöhnlich bloß als ein Anbau der äußeren erscheint, ja als deren Wiederholung und Trübung, die sich von ihr durch weniger scharfe Formen und verwischtere Zusammenhänge unterscheidet und so eben den ein wenig vernachlässigten Eindruck eines Nebengeschehens hervorruft.

Nun steht da aber natürlich nicht bloß eine Ausdrucksweise auf dem Spiel oder ein gedanklicher Vorgang, sondern es ist das, was wir »in Wirklichkeit« fühlen, selbst hundertfältig von der Wirklichkeit abhängig, und also auch von der bestimmten und äußeren Entfaltung des Gefühls, der sich die innere und unbestimmte unterordnet, ja, von der sie gleichsam aufgesogen wird. »Auf die Einzelheiten soll es nicht ankommen,« nahm sich Ulrich vor »aber es ließe sich wohl auch an jeder von ihnen zeigen, daß nicht nur der Begriff, den wir uns von unseren Gefühlen machen, die Aufgabe hat, deren subjektives Teil dienlich den Vorstellungen einzugliedern, die wir von der Wirklichkeit haben, sondern daß auch im Fühlen selbst die beiden Anlagen zu einem Gesamtvorgang verschmolzen sind, der auf sehr ungleiche Weise die Entfaltung nach außen und die nach innen verbindet. Mit einfachen Worten: wir sind handelnde Wesen; wir bedürfen der Sicherheit des Denkens für unser Handeln; wir bedürfen also auch eines der Neutralisation fähigen Gefühls – und unser Fühlen hat seine besondere Gestalt dadurch angenommen, daß wir es in das Bild der Wirklichkeit einordnen, und nicht das Umgekehrte, das Ekstatische tun. Eben deshalb muß in uns aber auch die Möglichkeit liegen, unser Fühlen umzukehren und unsere Welt anders zu erleben!«

Er war jetzt ungeduldig zu schreiben, und fühlte sich sicher, daß diese Gedanken auch einer ausführlichen Prüfung standhalten müßten. Auf seinem Zimmer angelangt, machte er Licht, weil die Wände schon im Schatten lagen. Von Agathe war nichts zu hören. Einen Augenblick zauderte er, ehe er begann.

Es hemmte ihn, daß er sich entsann, in der abkürzenden Ungeduld des Planes und Entwerfens die Begriffe »Innen« und »Außen«, und wohl auch die Begriffe »Person« und »Welt«, zuletzt so gebraucht zu haben, als ob die Unterscheidung zwischen den beiden Wirksamkeiten des Gefühls mit diesen Vorstellungen übereinfiele. Dem war natürlich nicht so. Die eigenartige Unterscheidung zwischen der Anlage und Ausgestaltungsmöglichkeit zum bestimmten oder unbestimmten Gefühl, die von Ulrich gemacht wurde, durchschneidet, wenn man sie gelten läßt, die anderen Unterschiede. Sowohl nach außen und in die Welt als auch nach innen und in die Person entfaltet sich das Gefühl auf die eine und andere Art. Er sann über ein rechtes Wort dafür nach, denn die Worte »bestimmt« und »unbestimmt« gefielen ihm nicht sehr, obwohl sie bezeichnend waren. »Der ursprüngliche Erfahrungsunterschied liegt am nacktesten und doch am ausdrucksvollsten darin, daß es sowohl eine Äußerung des Gefühls als auch eine Innerlichkeit nach außen und innen gibt!« überlegte er und war im Augenblick zufrieden, ehe er auch diese Worte ebenso ungenügend fand wie alle anderen, von denen er noch ein Dutzend ausprobte. An seiner Überzeugung änderte das aber nichts mehr, es erschien ihm nur noch als eine Mühe bei der ihm bevorstehenden Ausführung, davon hervorgerufen, daß die Sprache nicht für diese Seite des Daseins geschaffen ist. »Wenn ich alles noch einmal prüfe und richtig finde, soll es mir nichts ausmachen, am Ende bloß immer von unserem gewöhnlichen Gefühl und unserem ›anderen‹ zu reden!« beschloß er.

Er holte lächelnd ein Buch von der Wand, worin sich ein Lesezeichen befand, und setzte vor seine eignen Worte die folgenden fremden: »Wenn auch der Himmel, ebenso wie die Welt, einer Folge wechselnder Ereignisse unterworfen ist, so fehlt doch den Engeln jeder Begriff und jede Vorstellung von Raum und Zeit. Obwohl sich auch bei ihnen alle Vorgänge nacheinander abspielen, in völliger Übereinstimmung mit der Welt, wissen sie nicht, was Zeit bedeutet, weil im Himmel weder Jahre noch Tage, sondern Zustandsänderungen herrschen. Wo Jahre und Tage sind, herrschen Zeiten, wo Zustandsänderungen sind, Zustände. Da die Engel keine Vorstellung von der Zeit haben, wie die Menschen, so fehlt ihnen auch die Bestimmung der Zeit; sie kennen nicht einmal ihre Einteilung in Jahre, Monate, Wochen, Stunden, in morgen, gestern und heute. Hören sie einen Menschen davon reden – und Gott hat ständig den Menschen Engel zugesellt –, dann verstehen sie darunter Zustände und Zustandsbestimmungen. Der Mensch denkt aus der Zeit, der Engel aus dem Zustand; so wird die natürliche Vorstellung der Menschen bei den Engeln zu einer geistigen. Alle Bewegungsvorgänge in der geistigen Welt geschehen durch innere Zustandsänderungen. Als ich darüber in Besorgnis geriet, wurde ich in die Sphäre des Himmels zum Bewußtsein der Engel erhoben und von Gott durch die Reiche des Himmels geführt und zu den großen Gestirnen des Weltalls geleitet, und zwar im Geiste, während mein Körper an derselben Stelle blieb. Alle Engel bewegen sich so von Ort zu Ort, deshalb gibt es für sie keine Abstände, folglich auch keine Entfernungen, sondern nur Zustände und Zustandsänderungen. Jede Annäherung ist eine Ähnlichkeit innerer Zustände, jede Entfernung eine Verschiedenheit; Räume im Himmel sind nichts als äußere Zustände, die den inneren entsprechen. Jeder wird in der geistigen Welt dem anderen sichtbar erscheinen, sobald er ein dringendes Verlangen nach dessen Gegenwart hat, denn dann versetzt er sich in seinen Zustand; umgekehrt wird er sich bei vorhandener Abneigung von ihm entfernen. Ebenso kommt jemand, der in seiner Gemeinschaft, in Hallen oder Gärten, seinen Aufenthalt wechselt, schneller dorthin, wenn er sich danach sehnt, und langsamer, wenn seine Sehnsucht geringer ist; das habe ich oft staunend gesehen. Und da die Engel sich keinen Begriff von der Zeit machen können, so haben sie auch eine andere Vorstellung von der Ewigkeit als die irdischen Menschen; sie verstehen darunter einen unendlichen Zustand, nicht eine unendliche Zeit.«

Ulrich hatte das einige Tage zuvor durch Zufall beim Blättern in einer Auswahlausgabe von Swedenborg aufgefunden, die er besaß, aber noch nie recht gelesen hatte; und hatte es ein wenig zusammengedrängt und so viel davon abgeschrieben, weil es ihm sehr angenehm war, diesen alten Metaphysikus und gelehrten Ingenieur – von dem übrigens Goethe, ja sogar Kant keinen geringen Eindruck empfangen hatte – so sicher vom Himmel und den Engeln reden zu hören, als wären es Stockholm und seine Bewohner. Es paßte so gut zu seiner eigenen Beschäftigung, daß sich die verbleibende, und ja auch nicht geringe, Verschiedenheit unheimlich deutlich davon abhob. Es machte ihm große Lust, an ihr festzuhalten und die in ihrer verfrühten Selbstgewißheit zwar trocken-unträumerisch, doch aber schrullig wirkenden Behauptungen eines Geistersehers aus den vorsichtiger gefaßten Begriffen eines späteren Jahrhunderts auf neue Art hervorzuzaubern.

Und so schrieb er nieder, was er gedacht hatte.

 

Aus Urheberrechtsgründen gelöscht: 78 - 91

 


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