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Clarisse bei Rachel

 

Die Wochen, seit Rachel Diotimas Haus verlassen hatte, verliefen in einer Unwahrscheinlichkeit, die ein anderer Mensch als sie kaum ruhig hingenommen hätte. Aber Rachel war als Sündige aus dem Elternhaus gewiesen worden und war schnurstracks am Ende dieses Falles in einem Paradies bei Diotima gelandet; nun hatte sie Diotima hinausgestürzt, aber ein so bezaubernd vornehmer Mann wie Ulrich war schon dagestanden und hatte sie aufgefangen: konnte sie nicht glauben, daß das Leben so ist, wie es in den Romanen beschrieben wurde, die sie mit Vorliebe gelesen hatte? Wer zum Helden bestimmt ist, den wirft das Schicksal immer wieder halsbrecherisch in die Luft, aber es fängt ihn auch immer wieder mit starken Armen auf. Rachel setzte blindes Vertrauen in dieses Schicksal und hatte eigentlich während der ganzen Zeit nichts anderes getan, als darauf zu warten, daß es ihr bei der nächsten Begebenheit vielleicht seine Absichten entschleiere. Sie war nicht schwanger geworden; das Erlebnis mit Soliman schien also nur eine Zwischenhandlung gewesen zu sein. Sie aß in einer kleinen Speisewirtschaft, gemeinsam mit Kutschern, postenlosen Dienstmädchen, Arbeitern, die in der Nähe zu tun hatten, und jenen wechselnden unbestimmbaren Menschen, die durch eine Großstadt fluten. Der Platz, den sie gewählt hatte, an einem bestimmten Tisch, wurde täglich für sie bereit gehalten: sie war besser gekleidet als die anderen Frauen, die in dieser Kneipe verkehrten; die Art, wie sie Messer und Gabel führte, war anders, als man es hier sah; Rachel genoß an diesem Ort ein heimliches Ansehen, das sie sehr wohl bemerkte, wenn es ihr auch viele nicht zeigen wollten, und sie nahm an, daß man sie für eine Gräfin halte oder für die Geliebte eines Fürsten, die aus irgendwelchen Gründen vorübergehend gezwungen sei, ihren Stand zu verhüllen. Es kam vor, daß Männer mit zweifelhaften Brillanten am Finger und eingefetteten Haaren, wenn sie einmal unter den ehrbaren Gästen auftauchten, es so einzurichten wußten, daß sie an Rachels Tisch zu sitzen kamen, und dann richteten sie verführerisch gezwirbelte Artigkeiten an sie; aber Rachel wußte das mit Würde und ohne Unfreundlichkeit abzulehnen, denn obgleich es ihr so gut gefiel wie das Schwirren und Kriechen der Käfer an einem üppigen Sommertag, und der Raupen und Schlangen, ahnte ihr doch, daß sie sich nach dieser Seite nicht einlassen dürfe, ohne in ihrer Freiheit Gefahr zu laufen. Sie unterhielt sich überhaupt am liebsten mit älteren Leuten, die vom Leben schon etwas wußten, und von seinen Gefahren, Enttäuschungen und Vorgängen berichteten. Auf diese Weise bekam sie eine Kenntnis, die in Krümel aufgelöst bei ihr ankam, wie die Nahrung zu einem Fisch herabsinkt, der sich am Boden seines Glases ruhig aufhält. In der Welt gingen abenteuerliche Dinge vor sich. Man sollte jetzt schon schneller fliegen als die Vögel. Häuser ganz ohne Ziegel baun. Die Anarchisten wollten die Kaiser werden. Eine große Revolution stand nahe bevor, und dann würden die Kutscher in den Wagen sitzen, die reichen Leute aber anstelle der Pferde eingespannt werden. In einem in der Nähe gelegenen Häuserblock hatte eine Frau nachts ihren Mann mit Petroleum übergossen und dann angezündet; es war nicht zu denken! In Amerika setzte man Leuten, die das Augenlicht verloren hatten, schon Glasaugen ein, mit denen sie wirklich sehen konnten, aber es kostete noch sehr viel Geld und war nur etwas für Milliardäre. Solche fesselnden Nachrichten hörte Rachel, freilich nicht alle auf einmal, schon wenn sie bloß beim Speisen saß. Trat sie danach auf die Straße, so war von derartigen Ungeheuerlichkeiten wohl nichts zu bemerken, alles floß in Ordnung hin und stand genau so da wie am Tag vorher; aber kochte nicht die Luft in diesen Sommertagen, gab der Asphalt nicht heimlich unter dem Fuß nach, ohne daß Rachel sich klar machen mußte, daß ihn die Sonne erweicht habe? Die Heiligen reckten die Arme auf den Kirchendächern und hoben die Augen empor, daß man annehmen mußte, es gebe überall etwas Besonderes zu sehn. Die Schutzleute trockneten sich den Schweiß vor Anstrengung, inmitten der Bewegung, die um sie tobte, Fuhrwerke hielten im schärfsten Lauf jäh an, weil eine alte Frau über die Straße ging und beinahe überfahren worden wäre, weil sie auf nichts achtete. Wenn Rachel zu Hause in ihrem kleinen Zimmer ankam, fühlte sie ihre Neugierde von dieser leichten Nahrung gesättigt, sie nahm ihre Wäsche vor, um sie auszubessern, oder änderte ein Kleid oder las einen Roman – denn sie hatte mit Staunen vor der Weltleitung die Einrichtung der Volksbüchereien kennengelernt –, ihre Wirtin trat ein und plauderte ehrerbietig mit ihr, denn Rachel hatte Geld, ohne zu arbeiten und ohne daß man irgendetwas von schlechtem Lebenswandel merkte, und so ein Tag war um, ehe sich Zeit fand, das geringste zu vermissen, und goß seinen Inhalt, voll bis zum Rand von Spannendem, in die Träume der Nacht aus.

Freilich hatte Ulrich vergessen, Rachel rechtzeitig Geld zu schicken oder sie zu sich zu bestellen, und sie hatte schon anfangen müssen, die kleinen Ersparnisse aus ihrem Dienst zu verbrauchen. Aber sie machte sich keine Sorge, denn Ulrich hatte ja versprochen, sie einstweilen zu schützen, und zu ihm hinzugehen, um ihn zu erinnern, kam ihr ganz und gar unpassend vor. In allen Märchen, die sie kannte, gab es etwas, das man nicht sagen oder nicht tun durfte; und gerade das wäre es gewesen, wenn sie zu Ulrich gegangen wäre und ihm gesagt hätte, daß sie kein Geld mehr habe. Damit soll keineswegs behauptet sein, daß sie das ausdrücklich dachte, daß ihre Lebensführung ihr märchenhaft vorkam oder daß sie überhaupt an Märchen glaubte. Im Gegenteil, so war die Wirklichkeit beschaffen, die sie nie anders kennengelernt hatte, wenn es auch noch niemals derart schön gewesen war wie jetzt. Nun gibt es Menschen, denen das erlaubt ist, und solche, denen es verboten ist; die einen sinken von Stufe zu Stufe und enden im äußersten Elend, die anderen werden reich und glücklich und hinterlassen viele Kinder. Zu welcher von beiden Gruppen Rachel gehörte, war ihr niemals gesagt worden; den beiden Menschen, die ihr den Unterschied hätten erklären können, hatte sie nie gezeigt, daß sie träume, sondern hatte fleißig gearbeitet, bis auf die zwei unbeabsichtigten Fehltritte, die so große Folgen gehabt hatten. Und eines Tages meldete ihr wirklich ihre Wirtin, daß, während sie zum Essen gegangen war, eine feine Dame nach ihr gefragt habe und angekündigt habe, daß sie nach einer Stunde wiederkehre. Rachel gab angstvoll die Beschreibung Diotimas; aber die Dame, die sie gesucht habe, sei ganz entschieden nicht groß gewesen, behauptete die Wirtin, und auch nicht stark, auch dann nicht, wenn man unter stark nicht dick meine. Die Dame, die Rachel suchte, war ganz entschieden eher klein und mager zu nennen.

Und wirklich, die Dame war schlank, klein und kehrte schon nach einer halben Stunde wieder. Sie sagte »Liebes Fräulein« zu Rachel, nannte Ulrichs Namen und zog einen größeren, eng zusammengefalteten Betrag Geldes aus ihrem Täschchen, den sie Rachel im Auftrage ihres Freundes übergab. Dann begann sie ihr eine schwierige und aufregende Geschichte zu erzählen, und Rachel war noch nie in ihrem Leben von einer Unterhaltung so gefesselt worden. Es gebe einen Mann, erzählte die Dame, der von seinen Feinden verfolgt werde, weil er sich edelmütig für sie geopfert habe. Eigentlich nicht edelmütig; denn er mußte es tun, es war sein inneres Gesetz, jeder Mensch hat ein Tier, dem er innen ähnlich sieht, – »Sie, zum Beispiel, Fräulein« – sagte die Dame – »haben entweder eine Gazelle oder eine Schlangenkönigin, das läßt sich nicht immer auf den ersten Blick sagen.«

Wenn das nun etwa die Köchin in der Küche bei Diotima behauptet hätte, so möchte es auf Rachel keinen oder einen ungünstigen Eindruck gemacht haben; aber es wurde von einer Frau gesagt, die in jedem Wort die Sicherheit einer gnädigen Frau ausströmte, diese Gabe des Herrschens, die jeden Zweifel als eine Achtungsverletzung erscheinen ließe; also war für Rachel das Ereignis gegeben, daß eine Gazelle oder eine Schlangenkönigin zu ihr in Beziehungen stand, die vorläufig noch zu hoch für sie waren, aber wohl in irgendeiner Weise erklärt werden konnten, denn ähnliches hört man ja manchesmal. Rachel fühlte sich von dieser Neuigkeit geladen wie eine Bonbonniere, die man im Augenblick noch nicht öffnen kann.

Der Mann, der sich geopfert habe, fuhr die Dame fort, trage einen Bären in sich, das heißt, die Seele eines Mörders, und bedeute, daß er den Mord auf sich genommen habe, allen Mord, den an den ungeborenen und verhinderten Kindern, den feigen Mord, den die Menschen an ihren Talenten begehen, und den Mord auf der Straße durch die Fuhrwerke, Radfahrer und Bahnen. Clarisse fragte Rachel – denn natürlich war es Clarisse, die da sprach, – ob sie den Namen Moosbrugger schon gehört habe. Nun, Rachel hatte, obgleich sie ihn später wieder vergaß, Moosbrugger geliebt und gefürchtet wie einen Räuberhauptmann, damals, als er alle Zeitungen in Schrecken setzte und bei Diotima öfters von ihm gesprochen wurde; also fragte sie gleich, ob es sich um ihn handle.

Clarisse nickte. »Er ist unschuldig!«

Zum erstenmal hörte das Rachel nun von einer Autorität, was sie sich selbst früher oft gedacht hatte.

»Wir haben ihn befreit« fuhr Clarisse fort. »Wir, die Verantwortlichen, die mehr erkennen als die übrigen. Aber wir müssen ihn nun verbergen.« Clarisse lächelte, und so eigentümlich und doch beseligend freundschaftlich, daß das Herz Rachel in die Höschen fallen wollte, aber unterwegs stecken blieb, ungefähr in der Gegend des Magens. »Wo verbergen?« stammelte sie blaß.

»Die Polizei wird ihn suchen,« erklärte Clarisse »er muß also irgendwohin, wo ihn kein Mensch vermuten kann. Das beste wäre, Sie würden ihn als Ihren Mann ausgeben. Er müßte ein Stockbein tragen, das läßt sich leicht vortäuschen, oder irgendetwas, und Sie würden einen kleinen Laden mit anschließendem Wohnraum aufnehmen, damit es so aussieht, wie wenn Sie damit Ihren invaliden Ehemann ernährten, der das Haus nicht verlassen kann. Das Ganze dauert nur ein paar Wochen, und ich könnte Ihnen mehr Geld dafür geben, als Sie brauchen.«

»Aber warum nehmen Sie ihn denn nicht zu sich, gnädige Frau!?« wagte Rachel dem entgegenzuhalten.

»Mein Mann ist nicht eingeweiht und würde mir das nie erlauben« antwortete Clarisse und fügte die Lüge hinzu, daß der Vorschlag, den sie gemacht habe, von Ulrich ausgehe.

»Aber ich fürchte mich vor ihm!« rief Rachel aus.

»Das ist schon richtig« meinte Clarisse. »Aber, liebes Fräulein, alles Große ist furchtbar. Viele große Männer sind im Irrenhaus gewesen. Es ist unheimlich, sich mit jemand auf gleich zu stellen, der ein Mörder ist; aber sich mit dem Unheimlichen gleichzustellen, ist der Beschluß zur Größe!«

»Aber will denn er überhaupt?« fragte Rachel. »Kennt er mich? Will er mir nichts tun?«

»Er weiß doch, daß Sie ihn retten wollen. Denken Sie, er hat in seinem Leben nur Ersatzweiber gekannt? Sie verstehen, was ich meine. Er wird glücklich darüber sein, daß eine wirkliche Frau ihn schützt und aufnimmt; und er wird Sie mit keinem Finger berühren, wenn Sie es ihm nicht erlauben. Dafür stehe ich Ihnen gut! Er weiß, daß ich die Kraft habe, ihn zu bezwingen, wenn ich will!«

»Nein, nein!« Rachel stieß nur dies hervor; sie hörte auch von allem, was Clarisse sagte, nur noch die Gestalt der Stimme und Sprache, eine Freundlichkeit und schwesterliche Gleichheit, der sie nicht widerstehen konnte. So hatte noch nie eine Dame zu ihr gesprochen, und doch war gar nichts Gekünsteltes und Falsches daran; Clarissens Gesicht befand sich in einer Ebene mit dem ihren und nicht in der Höhe wie das Diotimas; sie sah die Züge arbeiten, namentlich zwei Längsfalten bildeten sich immer wieder von der Nase ausgehend und am Mund hinablaufend; Clarisse kämpfte sichtlich gemeinsam mit ihr um die Lösung.

»Bedenken Sie, Fräulein« sagte Clarisse jetzt. »Der, welcher erkennt, muß sich opfern. Sie haben gleich erkannt, daß Moosbrugger nur zum Schein ein Mörder ist. Also müssen Sie sich opfern. Sie müssen das Mörderische aus ihm herausziehen, und dann kommt das, was Ihrem eigenen Wesen entspricht, dahinter zum Vorschein. Denn Gleiches wird nur von Gleichem angezogen: das ist das unerbittliche Gesetz des Großen!«

»Aber wann sollte das denn sein:«

»Morgen. Ich komme gegen Abend zu Ihnen und hole Sie ab. Bis dahin ist alles geordnet!«

»Wenn noch ein Dritter bei uns wohnen könnte, würde ich es tun« sagte Rachel.

»Ich werde Sie täglich besuchen« sagte Clarisse »und achtgeben; es ist ja das Wohnen nur Schein. Sie dürfen doch auch gegen Ulrich nicht undankbar sein, wenn er einen Dienst von Ihnen braucht!«

Das gab den Ausschlag. Clarisse hatte vertraulich den Taufnamen gebraucht. Rachel kam sich in diesem Augenblick mit ihrer Feigheit ihres Wohltäters unwürdig vor. Die Darstellung, die uns unser Inneres von dem gibt, was wir tun sollen, ist außerordentlich trügerisch und launisch. Rachel kam mit einemmal das Ganze wie ein Scherz vor, ein Spiel, eine Nichtigkeit. Sie würde einen Laden und ein Zimmer haben; wenn sie wollte, konnte sie die Tür dazwischen absperren. Ebenso würde es zwei Ausgänge geben, wie bei den Zimmern auf dem Theater. Der ganze Vorschlag war nur eine Formalität, und es war wirklich übertrieben von ihr, Schwierigkeiten zu machen, wenngleich sie sich grauenhaft vor Moosbrugger fürchtete. Diese Feigheit mußte sie überwinden. Und wie hatte die Dame gesagt? Dann kommt alles das in ihm hervor, was ihrem Wesen entspricht. Wenn er wirklich nicht so furchtbar war, so hatte sie dann doch das, was sie sich früher leidenschaftlich gewünscht hatte.


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