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Wandel unter Menschen

 

In der Zeit, die nun folgte, zogen sie sich von ihren Bekannten zurück und setzten sie dadurch in Verwunderung, daß sie eine Reise vorschützten und sich auf keine Weise erreichen ließen.

Sie waren meist heimlich zu Hause, und wenn sie ausgingen, mieden sie Orte, wo sie Menschen antreffen konnten, die demselben Gesellschaftskreis angehörten wie sie; doch besuchten sie Vergnügungsstätten und kleine Theater, wo sie davor sicher zu sein glaubten, und im allgemeinen folgten sie einfach, sobald sie das Haus verließen, den Großstadtströmungen, die ein Bild der Bedürfnisse sind und mit gezeitenmäßiger Genauigkeit die Massen, je nach der Stunde, irgendwo zusammenpressen und anderswo absaugen. Sie überließen sich dem ohne bestimmte Absicht. Es vergnügte sie, zu tun, was viele taten, und an einer Lebensführung teilzunehmen, die ihnen die seelische Verantwortung für die eigene zeitweilig abnahm. Und noch nie war ihnen die Stadt, worin sie lebten, so schön und fremd zugleich vorgekommen. Die Häuser boten in ihrer Gesamtheit ein großes Bild dar, auch wenn sie im einzelnen, oder einzeln, nicht schön waren; der Lärm strömte durch die hitzeverdünnte Luft wie ein an die Dächer reichender Fluß dahin; in dem starken, von der Straßentiefe gedämpften Licht sahen die Menschen leidenschaftlicher und geheimnisvoller aus, als sie es wahrscheinlich verdienten. Alles klang, sah aus, roch – so unersetzlich und unvergeßlich, als gäbe es zu verstehen, wie es sich in seiner Augenblicklichkeit selbst vorkomme; und die Geschwister nahmen diese Einladung, sich der Welt zuzuwenden, nicht ungern an.

Trotzdem geschah das nicht ohne Zurückhaltung, denn sie spürten den hindurchgehenden Zwiespalt. Das Geheime und Unbestimmte, das sie selbst verband, obwohl sie nicht frei davon sprechen konnten, sonderte sie von den anderen Menschen ab; aber die gleiche Leidenschaft, die sie dauernd fühlten, weil sie sich nicht sowohl an einem Verbot gebrochen hatte als vielmehr an einer Verheißung, hatte sie auch in einem Zustand zurückgelassen, der Ähnlichkeit mit den schwülen Unterbrechungen einer körperlichen Vereinigung besaß. Die Lust ohne Ausweg sank wieder in den Körper zurück und erfüllte ihn mit einer Zärtlichkeit, die so unbestimmt war wie ein später Herbsttag oder ein früher Frühlingstag. Und wenn sie auch gewiß nicht für jeden Menschen und alle Welt ebenso empfanden wie für einander, so spürten sie doch den schönen Schatten des »Wie es wäre« davon auf ihr Herz fallen, und dieses konnte der sanften Täuschung weder völlig glauben, noch konnte es sich ihr völlig entziehen, was ihm auch immer begegnete.

Das machte auf die freiwilligen Zwillingsgeschwister den Eindruck, daß sie durch ihre Erwartung und ihre Askese empfindlich geworden seien für alle unausgeträumten Zuneigungen der Welt, aber auch für die Schranken, die jedem Gefühl von der Wirklichkeit und Wachheit gesetzt werden; und es wurde ihnen die eigentümlich zweiseitige Beschaffenheit des Lebens sehr sichtbar, die jede große Bestrebung durch eine niedrige dämpft. Sie bindet an jeden Fortschritt einen Rückschritt und an jede Kraft eine Schwäche; sie gibt keinem ein Recht, das sie nicht einem anderen nähme, ordnet keine Verwicklung, ohne neue Unordnung zu stiften, und sie scheint sogar das Erhabene nur darum hervorzurufen, daß sie mit den Ehren, die ihm gebühren, bei der nächsten Gelegenheit das Platte überhäufen könne. So verknüpft ein schier unlöslicher und vielleicht tief notwendiger Zusammenhang alle hochgemuten menschlichen Bemühungen mit dem Zustandekommen ihres Gegenteils und läßt das Leben – über alle anderen Gegensätze und Parteiungen hinweg – für geistvolle, oder derart selbst nur halbvolle, Menschen ziemlich schwer erträglich sein, treibt sie aber auch an, eine Erklärung dafür zu suchen.

Dieses Aneinanderhaften der Ehr- und Kehrseite des Lebens ist denn auch sehr verschieden beurteilt worden. Fromme Menschenverächter haben darin einen Ausfluß der irdischen Hinfälligkeit gesehen; Donnerkerle das saftigste Lendenstück des Lebens; Durchschnittlinge fühlen sich in diesem Widerspruch so wohl wie zwischen ihrer rechten und linken Hand; und wer vorsichtig denkt, sagt einfach, die Welt sei nicht geschaffen, um menschlichen Begriffen zu entsprechen. Man hat es also als Unvollkommenheit der Welt oder der menschlichen Vorstellungen angesehn, hat es ebensowohl kindlich-traulich wie schwermütig oder trotzig-gleichgültig hingenommen, und alles in allem kann es mehr als Temperamentssache denn als nüchtern ehrbare Aufgabe der Vernunft gelten, darüber zu entscheiden. Nun aber, so gewiß die Welt nicht geschaffen ist, um menschlichen Forderungen zu entsprechen, so gewiß sind die menschlichen Begriffe geschaffen, um der Welt zu entsprechen, denn das ist ihre Aufgabe; und warum sie es gerade im Bereich des Rechten und Schönen nie zuwege bringen, bleibt damit schließlich doch eine seltsam offene Frage. Die planlosen Wege schienen es wie ein Bilderbuch darzubieten und ließen Gespräche entstehn, die von des Blätterns lose wechselnder Erregung begleitet waren.

Keines von diesen Gesprächen handelte seinen Gegenstand handgreiflich und vollständig ab, jedes wandte sich unter der Zeit nach den verschiedensten Zusammenhängen; dabei wurde der gedankliche Zusammenhang im ganzen immer breiter, die Gliederung nach lebendigen Anlässen, die aufeinander folgten, versagte einmal ums andere vor der übertretenden Flut angeregter Betrachtungen; und verlierend wie gewinnend, ging das lange weiter, ehe das Ergebnis unverkennbar zu sehen war.

So bekannte sich Ulrich auch – zufällig oder nicht, überzeugt oder aufs Geratewohl – als erstes zu der Möglichkeit, daß sowohl die Schranke, die dem Gefühl gesetzt ist, als daß auch das Vor und Zurück, oder zumindest Hin und Her, des Lebens, in einem gesagt, daß seine geistige Unzuverläßlichkeit, vielleicht eine nicht unnützliche Aufgabe zu erfüllen habe, und zwar die der Erzeugung und Erhaltung eines mittleren Lebenszustands.

Er wollte nicht von der Welt verlangen, daß sie ein Lustgarten des Genies sei. Ihre Geschichte ist nur in den Spitzen, wenn nicht Auswüchsen, eine des Genies und seiner Werke; in der Hauptsache ist sie die des Durchschnittsmenschen. Er ist der Stoff, mit dem sie arbeitet und der stets von neuem aus ihr wiederersteht. Vielleicht gab das ein Augenblick der Ermüdung ein. Vielleicht dachte Ulrich bloß überhaupt, daß alles Mittelhohe und Durchschnittliche stämmig sei und beste Aussicht auf Erhaltung seiner Art darbiete; man hätte annehmen müssen, daß es das erste Gesetz des Lebens sei, sich selbst zu erhalten, und das möchte wohl stimmen. Sicherlich sprach bei diesem Beginn aber auch eine andere Aussicht mit. Denn mag es sogar gewiß sein, daß die menschliche Geschichte nicht gerade ihre Aufschwünge vom Durchschnittsmenschen empfängt; alles in allem genommen, Genie und Dummheit, Heldentum und Willenlosigkeit, ist sie eben doch eine Geschichte der Millionen Antriebe und Widerstände, Eigenschaften, Entschlüsse, Einrichtungen, Leidenschaften, Erkenntnisse und Irrtümer, die er von allen Seiten empfängt und nach jeder verteilt. In ihm und ihr mischen sich die gleichen Elemente; und auf diese Art ist sie jedenfalls eine Geschichte des Durchschnitts oder, je nachdem man es nehmen mag, der Durchschnitt von Millionen Geschichten, und wenn sie denn auch ewig um das Mittelmäßige schwanken müßte, was könnte am Ende unsinniger sein, als einem Durchschnitt seine Durchschnittlichkeit zu verübeln!

In diesen Gedanken schob sich aber auch die Erinnerung an die Berechnung von Durchschnitten ein, wie sie die Zufallsrechnung versteht: – Die Regeln der Wahrscheinlichkeit beginnen schon in einer kalten, beinahe schamlosen Gelassenheit damit, daß die Ereignisse bald so, bald anders, ja daß sie auch ins Gegenteil von dem ausschlagen könnten, was sie sind. Zur Bildung und Festigung eines Durchschnitts gehört es sodann, daß der höheren und besonderen Werte viel weniger als der mittleren sind, ja daß sie fast niemals auftreten, und daß es auch von den unverhältnismäßig geringen gilt. Die einen wie die andern bleiben besten- oder schlimmstenfalls Randwerte, und zwar nicht nur nach Anleitung der Rechnung, sondern auch in der Erfahrung überall dort, wo zufallsähnliche Bedingungen herrschen. Diese Erfahrung mag an Hagelversicherungen und Sterblichkeitsübersichten gewonnen sein; aber der geringen Wahrscheinlichkeit der Randwerte entspricht es deutlich, daß auch im Geschichtlichen einseitige Gestaltungen und die ungemischte Verwirklichung überstiegener Forderungen selten von Dauer gewesen sind. Und sollte das in einer Hinsicht halbschlächtig erscheinen, so ist es doch in anderer der Errettung der Menschheit vor dem unternehmungssüchtigen Genie nicht minder wie vor der zu Taten aufgeregten Dummheit oft genug zugute gekommen! Unwillkürlich übertrug Ulrich die Anschauung der Wahrscheinlichkeit immer weiter auf geistige und geschichtliche Ereignisse und den mechanischen Begriff der Durchschnittlichkeit auf den sittlichen; und kam so auf die Zweiseitigkeit des Lebens zurück, bei der er angefangen hatte. Denn die Schranken und der Wechsel der Ideen und Gefühle, ihre Vergeblichkeit, die rätselhafte und trügerische Verbindung zwischen ihrem Sinn und der Verwirklichung seines Gegenteils, alles und ähnliches ist als innewohnende Folge auch schon mit der Annahme gegeben, daß eins so möglich sei wie das andere. Diese Annahme bedeutet aber den Grundbegriff, woraus die Wahrscheinlichkeitsrechnung ihren Inhalt schöpft, und ist deren Begriffsbestimmung des Zufalls; daß sie auch den Gang der Welt kennzeichnet, erlaubt also den Schluß, daß dieser nicht viel anders ausfiele, als er ist, wenn alles gleich nur dem Zufall überlassen bliebe.

Agathe fragte, ob es nicht die Wahrheit in launischer Absicht verdüstere und ein romantischer Pessimismus sei, wenn man den Weltlauf dem Zufall gleichstelle.

»Nichts weniger als das!« entgegnete dem Ulrich. »Wir haben bei der Vergeblichkeit aller hochgemuten Erwartungen begonnen, und es hat uns gedeucht, daß sie ein tückisches Geheimnis sei. Aber wenn wir sie jetzt mit den Regeln der Wahrscheinlichkeit vergleichen, so erklären wir dieses Geheimnis, das man mit einem Wort, das spöttisch mit seinem berühmten Gegenwort spielt, die ›prästabilierte Disharmonie‹ der Schöpfung nennen könnte, überaus anspruchslos dadurch, daß einfach nichts dawider geschieht! Die Entwicklung bleibt sich selbst überlassen, kein geistig ordnendes Gesetz wird ihr auferlegt; sie folgt scheinbar dem Zufall; und wenn dabei auch nicht das Wahre entstehen kann, so begründet dieselbe Voraussetzung doch wenigstens das Wahrscheinliche! Zugleich erklären wir, aus dem Wahrscheinlichen, aber auch die sich als einziges stabilierende Durchschnittlichkeit, die allerenden ihre doch höchst unerwünschte Zunahme fühlen läßt. Daran ist also nichts Romantisches, und vielleicht nicht einmal etwas Verdüstertes; es wäre wohl, gern oder ungern, eher ein unternehmungslustiger Versuch!«

Trotzdem wollte er darüber nicht mehr sagen und ließ das scheinbar geistreiche Unternehmen auf sich beruhen, ohne über die Einleitung hinausgekommen zu sein. – Er hatte das Gefühl, etwas Großes ungeschickt und umständlich berührt zu haben. Das Große war die tiefe Zweideutigkeit der Welt, daß sie so zurück wie vorwärts zu gehen scheint und bestürzend neben erhebend ist; und daß sie auf einen geistigen Menschen einen anderen Eindruck schon deshalb nicht machen kann, weil ihre Geschichte eben nicht die des bedeutenden, sondern doch offenbar die des Durchschnittsmenschen ist, dessen verworrenes und zweideutiges Antlitz sich in ihr abprägt. Von Umständlichkeit beschwert war hingegen, was dieser einfallsschnelle Beschluß berührte, durch den Versuch worden, dem bekannten Wesen des Durchschnittsmenschen durch einen Vergleich mit dem der Wahrscheinlichkeit einen Hintergrund von nicht ganz erforschter Neuigkeit zu geben. Der Grundgedanke war wohl auch bei diesem Vergleich scheinbar einfach: denn das Durchschnittliche ist immer auch etwas Wahrscheinliches, und der Durchschnittsmensch der Bodensatz aller Wahrscheinlichkeit. Verglich Ulrich aber, was er gesagt hatte, mit dem, was davon noch zu sagen wäre, so verzagte er fast an der Fortsetzung dessen, was er mit seiner Gegenüberstellung von Wahrscheinlichkeit und Geschichte angefangen hatte.

Agathe sagte mit mutwilligem Zögern: »Die Hausmeisterin träumt vom Lotto und erhofft sich einen Gewinn! Wenn ich also würdig gewesen sein sollte, dich zu verstehen, wäre es die Aufgabe der Geschichte, einen immer durchschnittlicheren Menschenschlag zu hinterlassen und sein Leben zu begründen, wofür vielleicht manches spricht, oder doch raunt; und dazu sollte sie nichts Einfacheres und Verläßlicheres tun können, als einfach dem Zufall zu folgen und seinem Gesetz die Verteilung und Mischung der Ereignisse zu überlassen?« Ulrich nickte. »Es ist ein Wenn – so. Wenn die menschliche Geschichte überhaupt eine Aufgabe hätte, und es diese wäre, dann könnte sie nicht besser sein, als sie ist, und erreichte auf die seltsame Art dadurch ein Ziel, daß sie keines hat!« Agathe lachte. »Und deswegen erzählst du, daß die niedrige Decke, unter der man lebt, eine ›nicht unnützliche‹ Aufgabe zu erfüllen habe?« »Eine tief notwendige Aufgabe, die Begünstigung des Durchschnitts!« bestätigte Ulrich. »Zu diesem Zweck sorgt sie dafür, daß ein für allemal kein Gefühl und Wille in den Himmel wächst!« »Geschähe doch lieber das Gegenteil!« meinte Agathe. »Dann sollte mir nicht das Ohr von Aufmerksamkeit rauh werden, ehe ich alles weiß!«

Ein Gespräch wie dieses über Genie, Durchschnitt und Wahrscheinlichkeit dünkte Agathe, weil es bloß den Verstand beschäftigte, ohne das Gemüt zu berühren, verlorene Zeit zu sein. Nicht ganz so erging es Ulrich, obgleich er mit dem, was er gesagt hatte, herzlich unzufrieden war. Nichts war daran fest als der Satz: wenn etwas ein Zufallsspiel wäre, so zeigte das Ergebnis die gleiche Verteilung von Treffern und Nieten wie das Leben. Aber daraus, daß der zweite Teil eines solchen Bedingungssatzes die Wahrheit ist, läßt sich mitnichten auf die Wahrheit des ersten schließen! Die Umkehrbarkeit des Verhältnisses bedürfte eines genaueren Vergleichs, um glaubhaft zu werden, der es auch erst ermöglichen müßte, Begriffe der Wahrscheinlichkeit auf geschichtliche und geistige Ereignisse zu übertragen und zwei so verschiedene Gesichtskreise einander gegenüberzustellen. Dazu hatte Ulrich nun keine Lust; aber je mehr er die Unterlassung fühlte, desto sicherer wurde ihm die Wichtigkeit der berührten Aufgabe bewußt. Nicht nur hat der zunehmende Einfluß geistig lockerer Massen, der die Menschheit immer durchschnittlicher macht, jede Frage nach dem Aufbau des Durchschnittlichen Bedeutung gewinnen lassen; sondern die Grundfrage, welchen Wesens das Wahrscheinliche ist, scheint auch aus anderen Gründen, und darunter solchen, die allgemein und geistiger Herkunft sind, immer mehr an die Stelle der Frage nach dem Wesen der Wahrheit treten zu wollen, obgleich sie ursprünglich bloß ein Handwerksmittel für die Lösung einzelner Aufgaben gewesen ist.

Es hätte sich alles auch mit den Worten ausdrücken lassen, daß nach und nach der »wahrscheinliche Mensch« und das »wahrscheinliche Leben« anstelle des »wahren« Menschen und Lebens emporzukommen begännen, die eitel Einbildung und Vortäuschung gewesen seien; wie denn Ulrich etwas Ähnliches auch schon zuvor angedeutet, und gesagt hatte, daß die ganze Frage nichts als die Folge einer fahrlässigen Entwicklung wäre. Offenbar leuchtete ihm selbst der Sinn aller solchen Bemerkungen noch nicht völlig ein, doch verlieh ihnen gerade diese Schwäche die Eigenschaft, in weitem Umfang zu leuchten wie Wetterlicht, und er kannte noch so viele Beispiele des gegenwärtigen Lebens und Denkens, worauf sie paßten, daß er sich lebhaft aufgefordert sah, den gefühlhaften Begriff von ihnen in einen klareren zu verwandeln. So fehlte es auch nicht an der Notwendigkeit einer Fortsetzung, und er beschloß nun doch, sie bei schicklicherer Gelegenheit nicht zu verabsäumen.

Er mußte über seine Überraschung lächeln, als er sich bei diesem Vorsatz schon auf bestem Wege erkannte, ohne es gewollt zu haben, Agathe von etwas Altem zu unterrichten, das er früher in bedenklicher Laune oft die »Welt des Seinesgleichen geschieht« genannt hatte. Es war die Welt der Unruhe ohne Sinn, die wie ein Bach durch Sand ohne Grün fließt; er nannte sie jetzt die des »wahrscheinlichen Menschen«. Mit aufgefrischter Neugierde betrachtete er die Menschenströme, deren Ufern sie folgten und von deren Leidenschaften, Gewohnheiten und fremden Genüssen sie von sich selbst abgezogen wurden: es war die Welt dieser Leidenschaften und Genüsse, und nicht die einer unausgeträumten Möglichkeit! So war es denn auch um deswillen die der Schranken, die selbst das ausschweifendste Gefühl in Grenzen setzen, und die des mittleren Lebenszustands. Zum erstenmal dachte er nicht bloß gefühlvoll, sondern in der Art, wie etwas Wirkliches erwartet wird, daran, daß sich der Unterschied, der es in einem Fall dem weltlichen Gefühl unmöglich mache, zu Ruhe und bleibender Erfüllung zu kommen, im andern eine fortschreitende und weltliche Bewegung zu finden, vielleicht auf zwei grundverschiedene Zustände oder Arten des Gefühls zurückführen ließe.

Abbrechend sagte er: »Sieh an!« und beide wurden sich des Augenscheins bewußt. Es geschah, während sie einen bekannten und, wenn man so sagen darf, allgemein geachteten Platz überquerten. Da stand die neue Universität, ein nachgeahmter Barockbau, der von kleinlichen Einzelheiten überladen war; nicht weit davon stand, kostspielig und zweitürmig, eine »neugotische« Kirche, die wie ein gut gelungener Fastnachtsscherz aussah; und den Hintergrund bildete, neben zwei ausdruckslosen, zu der Hochschule gehörenden Anstalten und einem Bankpalast, ein großes düster-dürftiges Gerichts- und Gefangenenhaus, das mehrere Jahrzehnte älter war. Flinkes und massiges Fuhrwerk durchkreuzte dieses Bild, und ein einziger Blick vermochte sowohl die Gediegenheit des Gewordenen als auch die Vorbereitungen des weiteren Gedeihens zu umfassen, und nicht minder zur Bewunderung der menschlichen Tätigkeit aufzuregen als den Geist durch einen unmerklichen Bodensatz von Nichtssagenheit zu vergiften. Und ohne eigentlich den Gesprächsgegenstand zu wechseln, fuhr Ulrich fort: »Nimm an, daß sich eine Räuberbande der Weltherrschaft bemächtigt hätte, mit nichts ausgestattet als den gröbsten Instinkten und Grundsätzen! Nach einiger Zeit erwüchsen auch auf diesem wilden Boden geistige Schöpfungen! Und wieder über eine Zeit, wenn der Geist sich ausgebildet hätte, stünde er sich schon selbst im Wege! Die Ernte wächst, und ihr Gehalt vermindert sich; als ob die Früchte nach Schatten schmeckten, wenn alle Äste voll sind!« – Er fragte nicht, warum. Er hatte das Gleichnis einfach gewählt, um auszudrücken, er meine, daß sich das meiste von dem, was sich Kultur nenne, zwischen dem Zustand einer Räuberbande und dem müßiger Reife befinde; denn war es so, dann mochte es doch auch eine Entschuldigung für all das Gespräch sein, in das er abgelenkt worden war, obwohl ein zärtlicher erster Anhauch den Anfang gebildet hatte.


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