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Nach der Begegnung

 

Der Mann, der am Grab des Dichters in Agathes Leben getreten war, Professor August Lindner, sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich.

Hätte sie ihm beim Abschied nachgeblickt, so wäre ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang dieses Mannes aufgefallen, denn es war ein eigenartig heiterer, stolzer, und doch ängstlicher Gang. Lindner trug seinen Hut in der Hand und strich sich zuweilen übers Haar; so wohlig frei war ihm zumute geworden.

»Wie wenig Menschen« sprach er zu sich selbst »haben eine wahrhaft mitfühlende Seele!« Er malte sich eine Seele aus, die sich ganz in den Mitmenschen hineinzuversetzen vermöchte, seine verborgensten Schmerzen mitleiden und sich in seine tiefe Schwäche hinablassen könnte: »Welche Aussicht ist das!« rief er sich zu. »Welch eine wunderbare Nähe göttlichen Erbarmens, welcher Trost und welcher Feiertag!« Sodann fiel ihm aber ein, wie wenig Menschen es gebe, die ihrem Nebenmenschen auch nur aufmerksam zuzuhören vermöchten; denn er gehörte zu den Gutgesinnten, die vom Hundertsten ins Hundertstel kommen, ohne einen Unterschied daran zu finden. »Wie wenig ernst gemeint sind zum Beispiel die gewöhnlichen Fragen nach unserem Wohlergehen« dachte er. »Man braucht bloß einmal ausführlich zu antworten, wie einem wirklich ums Herz ist, und sieht sich bald genug einem gelangweilten und geistesabwesenden Blick gegenüber!«

Nun, er hatte sich dieses Fehlers nicht schuldig gemacht! Nach seinen Grundsätzen war, den Schwachen zu schützen, die notwendige und besondere Gesundheitslehre des Starken, der ohne solche wohltuende Selbstbeschränkung allzu leicht der Roheit verfällt; und auch die Bildung bedurfte des Liebeswerks gegen die ihr einwohnenden Gefahren. »Wer uns bedeuten will, was ›universelle Bildung‹ sei« – bestätigte er sich nun durch innerlichen Zuruf, von einem plötzlich gegen seinen pädagogischen Fachgenossen Hagauer geschleuderten Blitz köstlich erfrischt – »dem sollte wahrhaftig zuerst geraten werden: erfahre, wie dem anderen zumute ist! Durch Mitleid wissend, es bedeutet tausendmal mehr, als durch Bücher wissend sein!« Anscheinend war es eine alte Meinungsverschiedenheit, was er da einerseits an dem liberalen Begriff der Bildung, andererseits an der Gattin seines Amtsbruders ausließ, denn Lindners Brillen blickten wie zwei Schilde eines doppelgewaltigen Kämpfers in die Runde. In Agathes Gegenwart war er befangen gewesen; wenn sie ihn dagegen jetzt gesehen hätte, wäre er ihr wie ein Offizier vorgekommen, aber wie ein Offizier einer keineswegs leichtsinnigen Truppe. Denn eine wahrhaft männliche Seele ist hilfsbereit, und sie ist hilfsbereit, weil sie männlich ist. Er warf die Frage auf, ob er angesichts der schönen Frau richtig gehandelt habe, und erwiderte sich: »Es wäre falsch, wenn die stolze Forderung der Unterordnung unter das Gesetz denen überlassen bliebe, die zu schwach dafür sind; und es wäre ein entmutigender Anblick, wenn bloß geistlose Pedanten die Hüter und Bildner der Sitte sein dürften; darum ist den Lebendigen und Starken die Pflicht auferlegt, aus ihrem Kraft- und Gesundheitsinstinkt nach Zucht und Grenze zu verlangen: sie müssen die Schwachen stützen, die Gedankenlosen rütteln und die Zügellosen anhalten!« Er hatte den Eindruck, es getan zu haben.

So wie die fromme Seele der Heilsarmee sich der Uniform und militärischer Gebräuche bedient, hatte Lindner gewisse soldatische Gedankenformen in seinen Dienst genommen, ja er scheute nicht einmal vor Zugeständnissen an den »Machtmenschen« Nietzsches zurück, der dem bürgerlichen Geiste jener Zeit noch ein Stein des Anstoßes, Lindner aber auch ein Wetzstein war. Er pflegte von Nietzsche zu sagen, man könne nicht behaupten, daß er ein schlechter Mensch gewesen wäre, wohl aber seien seine Lehren übertrieben und lebensfremd, und der Grund liege darin, daß er das Mitleid verwerfe; denn so habe er nicht die wunderbare Gegengabe des Schwachen erkannt, daß dieser den Starken zart mache! Und seine eigenen Erfahrungen dem nun entgegensetzend, dachte er voll froher Absicht: »Die wahrhaft großen Menschen huldigen keineswegs einem öden Ichkultus, sondern sie erzeugen in den anderen das Gefühl ihrer Erhabenheit dadurch, daß sie sich zu ihnen hinabbeugen, ja, wenn es sein muß, für sie opfern!« Er blickte einem jungen Liebespaar, das, sehr verschlungen, herauf- und ihm entgegenkam, siegesgewiß und mit freundlichem Tadel, der zur Tugend ermuntern sollte, in die Augen. Es war aber ein recht ordinäres Liebespaar, und der junge Strolch, der seinen männlichen Teil bildete, kniff die Augenlider zusammen, als er diesen Blick erwiderte, streckte unvermittelt die Zunge heraus und sagte: »Bäh!« Lindner, der auf diese Verhöhnung und gemeine Drohung nicht vorbereitet war, erschrak: aber er tat, als bemerke er sie nicht. Er liebte die Tatkraft, und sein Blick suchte nach einem Schutzmann, der in der Nähe sein sollte, die öffentliche Sicherheit der Ehre zu gewährleisten; aber sein Fuß stieß dabei an einen Stein, die hastige Bewegung des Stolperns scheuchte einen Schwarm Sperlinge auf, der sich an Gottes Tisch über einem Haufen Pferdemist gütlich getan hatte, das Aufschwirren der Spatzen warnte Lindner und ließ ihn im letzten Augenblick, ehe er schmählich stürzte, mit einer tänzerisch bemäntelten Bewegung über das Doppelhindernis hinweghüpfen. Er blickte nicht zurück, und nach einer Weile war er sehr zufrieden mit sich. »Fest wie ein Diamant und zart wie eine Mutter muß man sein!« dachte er mit einer alten Definition aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Er hätte, da er auch die Tugend der Bescheidenheit schätzte, zu keiner andern Zeit etwas Ähnliches in Ansehung seiner selbst behauptet, aber solche Erregung des Blutes ging von Agathe aus! Hinwieder bildete es den negativen Pol seiner Gefühle, daß dieses himmlisch zarte Weib, das er in Tränen gefunden hatte, wie der Engel die Magd im Tau – oh, er wollte sich nicht überheben, aber wie doch Nachgiebigkeit gegen Poesie gleich überheblich macht! – er fuhr darum strenger fort: daß diese unselige Frau im Begriffe stand, ein in die Hand Gottes abgelegtes Gelübde zu brechen; denn als das sah er ihr Begehren nach Ehescheidung an. Er hatte es ihr leider nicht mit der erforderlichen Entschiedenheit von Angesicht zu Angesicht – Gott, welche Nähe nun wieder in diesen Worten! – er hatte es ihr also leider nicht entschieden genug vorgestellt; er entsann sich bloß, im allgemeinen von zu lockeren Sitten und den Schutzmitteln gegen sie gesprochen zu haben. Der Name Gottes war übrigens dabei gewiß nicht über seine Lippen gekommen, es wäre denn als inhaltslose Redensart; und die Ungezwungenheit, der unbefangene, man mochte geradezu sagen, der respektlose Ernst, womit ihn Agathe gefragt hatte, ob er an Gott glaube, verletzte ihn selbst noch in der Erinnerung. Denn der wahrhaft Fromme gestattet sich nicht, einfach einem Einfall zu folgen und in roher Unverhülltheit an Gott zu denken. Ja, in dem Augenblick, wo sich Lindner dieser Zumutung entsann, verabscheute er Agathe, als wäre er auf eine Schlange getreten. Er faßte den Beschluß, sollte er je in die Lage kommen, seine Ermahnungen bei ihr zu wiederholen, durchaus nur die kräftige Vernunft walten zu lassen, die den irdischen Angelegenheiten angemessen und deshalb auf der Welt sei, weil nicht jeder ungezogene Mensch mit seinen längst entschiedenen Verwirrungen Gott bemühen dürfe; und darum begann er sich ihrer auch gleich jetzt zu bedienen, und es fiel ihm manches Wort ein, das einer Strauchelnden zu sagen wäre. Zum Beispiel, daß die Ehe keine Privatangelegenheit, sondern eine öffentliche Einrichtung sei; daß sie die erhabene Aufgabe habe, das Verantwortlichkeits- und Mitgefühl zu entfalten, und die ein Volk stählende Aufgabe, den Menschen auch im Ertragen von harten Schwierigkeiten zu üben; ja vielleicht, wenngleich es nur mit größtem Taktgefühl anzubringen wäre, daß sie gerade bei längerer Dauer auch den besten Schutz gegen das Übermaß der Begierde darstelle. Er hatte vom Menschen vielleicht nicht mit Unrecht die Vorstellung eines Sackes voll Teufel, der fest zugebunden werden müsse, und den Bund sah er in unerschütterlichen Grundsätzen. Wie dieser teilnahmsvolle Mann, dessen körperliches Teil, außer in der Länge, in keiner Richtung überschüssig geraten war, die Überzeugung erlangt hatte, daß man sich auf Schritt und Tritt bezähmen müsse, das war freilich ein Rätsel, das sich erst dann leicht löste, wenn man den Vorteil kannte. Als er schon am Fuß der Hügel angelangt war, kreuzte ein Zug Soldaten seine Bahn, und er sah mit zärtlicher Rührung auf die verschwitzten jungen Männer, die ihre Kappen in die Nacken geschoben hatten und mit ihren von Ermüdung abgestumpften Gesichtern wie ein Zug verstaubter Raupen aussahen. Sein Abscheu vor dem Leichtsinn, womit Agathe die Frage der Ehescheidung behandelt hatte, wurde bei diesem Anblick träumerisch durch eine Freude daran gemildert, daß solches seinem freigeistigen Fachgenossen Hagauer widerfahren solle, und diese Regung war immerhin geeignet, ihn wieder an das unentbehrliche Mißtrauen gegen die menschliche Natur zu erinnern. Er nahm sich also vor, Agathe – sollte sich die Gelegenheit dazu wirklich und ohne sein Verschulden noch einmal darbieten – unnachsichtig vor Augen zu führen, daß die ichsüchtigen Kräfte letzten Endes doch nur zerstörend wirken, und daß sie ihre persönliche Verzagtheit, mochte sie noch so groß sein, der sittlichen Erkenntnis unterzuordnen habe, daß der wahre Prüfstein des Lebens erst das Zusammenleben ist.

Aber ob sich die Gelegenheit dazu noch einmal darbieten werde, war offenbar erst der Punkt, wohin die geistigen Kräfte Lindners so angeregt drängten. »Es gibt viele Menschen mit edlen Eigenschaften, die bloß noch nicht in einer unerschütterlichen Überzeugung gesammelt sind« gedachte er Agathe zu sagen; aber wie sollte er es tun, wenn er sie nicht wiedersähe; und doch widerstritt der Gedanke, daß sie ihn aufsuchen könnte, allen seinen Vorstellungen von zarter und unberührter Weiblichkeit. »Man müßte es ihr denn mit aller Entschiedenheit sogleich vor Augen halten!« nahm er sich vor, und weil er nun einmal diesen Vorsatz gefaßt hatte, zweifelte er auch nicht mehr daran, daß sie wirklich kommen werde. Er ermahnte sich lebhaft, die Gründe, die sie zu ihrer Entschuldigung anführen sollte, selbstlos mit ihr zu durchleben, ehe er sie von ihren Irrtümern überzeuge. Mit unbeirrbarer Geduld wollte er sie ins Herz treffen, und nachdem er sich auch das vorgestellt hatte, senkte sich ein edles Gefühl brüderlicher Achtsamkeit und Fürsorge in sein eigenes Herz, eine geschwisterliche Weihe, von der er bemerkte, daß sie überhaupt auf den Beziehungen ruhen sollte, die die Geschlechter zueinander unterhalten. »Die wenigsten Männer« rief er erbaut aus »haben eine Ahnung davon, welches tiefe Bedürfnis edle weibliche Wesen nach dem Edel-Mann haben, der schlicht mit dem Menschen in der Frau verkehrt, ohne durch geschlechtliche Gefallsucht gleich gestört zu werden!« Es mußten ihm diese Gedanken Flügel geliehen haben, denn er wußte nicht, wie er zu der Endstelle der elektrischen Straßenbahn gelangt sei, stand aber plötzlich vor ihr und nahm, ehe er einstieg, die Brille ab, um sie von dem Dunst zu reinigen, mit dem sie die erhitzenden inneren Vorgänge beschlagen hatten. Dann schwang er sich in eine Ecke, blickte in dem leeren Wagen um sich, machte das Fahrgeld bereit, sah dem Schaffner ins Gesicht und fühlte sich ganz auf dem Posten, in der bewundernswerten Gemeinschaftseinrichtung, die man Städtische Straßenbahn nennt, die Rückreise anzutreten. Durch ein wohliges Gähnen strömte er die Müdigkeit des Spaziergangs aus, um sich für neue Pflichten zu straffen, und faßte die erstaunlichen Abschweifungen, denen er sich ergeben hatte, in dem Satz zusammen: »Sich selbst zu vergessen, ist doch dem Menschen das Gesündeste, was es gibt!«


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