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Fühlen und Verhalten. Die Unsicherheit des Gefühls

 

»Die Schule der theoretischen Psychologie, die gegenwärtig am erfolgreichsten ist, behandelt das Gefühl und die Gefühlshandlung als eine unlösliche Gemeinschaft. Was wir handelnd fühlen, ist für sie die eine, und wie wir fühlend handeln, die andere Seite ein und desselben Vorgangs. Sie untersucht beide gemeinsam. Für Lehren, die dieser Gruppe angehören, ist das Gefühl – mit Worten ausgedrückt, die sie selbst gebrauchen – ein inneres und äußeres Verhalten, Geschehen und Handeln; und weil sich diese Zusammenfassung von Gefühl und Verhalten sehr gut bewährt hat, ist die Frage, wie sie schließlich wieder zu trennen und von einander zu unterscheiden seien, vorläufig fast nebensächlich geworden: Darum gibt es statt einer Antwort darauf ein ganzes Bündel, und dieses ist etwas unordentlich.«

 


 

»Manchmal heißt es, das Gefühl sei schlechthin ein und dasselbe wie die äußeren und inneren Geschehnisse, gewöhnlich aber bloß, diese seien ihm gleichzuhalten. Manchmal wird es in einem etwas undeutlichen Sinne als ›der Gesamtvorgang‹, manchmal bloß als das innere Handeln, Verhalten, Ablaufen und Geschehen angesprochen. Manchmal scheint es auch, daß nebeneinander zwei Begriffe des Gefühls in Gebrauch stehen; wobei dieses im weiteren Sinn das ›Ganze‹, im engeren Sinn aber ein Teilergebnis wäre, das auf eine nicht recht einleuchtende Art dem Ganzen seinen Namen, ja seine Natur aufprägt. Und manchmal scheint man der Vermutung zu folgen, daß ein und dasselbe, was sich der Beobachtung als mannigfaltiger Vorgang darstelle, im Erlebnis zum Gefühl werde, also daß Gefühl dann das Erlebnis und sozusagen der Bewußtseinsertrag des Vorgangs wäre.

Der Ursprung dieser Widersprüche ist wohl immer der gleiche. Denn jede solche Beschreibung eines Gefühls weist Teile auf, und sogar beiweitem in der Überzahl, die offenkundig keine Gefühle sind, weil sie eben kund gleicher Offenheit Empfindung, Auffassung, Gedanke, Wille oder ein äußerer Vorgang sind, als das jederzeit erlebt werden können und auch gerade so, wie sie sind, in dem Gesamterlebnis mitsprechen. Ebenso deutlich gibt es in oder über alledem aber auch etwas, das an und für sich, im einfachsten und unverwechselbarsten Sinn Gefühl zu sein scheint, und eben nichts anderes; weder ein Handeln, noch ein Denken, noch irgend etwas anderes.

Darum lassen sich auch alle diese Erklärungen in zwei Gruppen zusammenfassen: Entweder bezeichnen sie das Gefühl als eine ›Seite‹, einen ›Teil‹, ein ›Moment‹ des Gesamtablaufs, oder sie bezeichnen es als dessen ›Bewußtwerden‹, sein ›inneres Erlebnis‹ und ähnliches: Ausdrücke, denen deutlich genug die Verlegenheit um bessere anzumerken ist!

Der eigenartigste Gedanke dieser Lehren ist nun der, daß sie das Verhältnis des Gefühls zu alledem, was es nicht ist, und wovon es doch erfüllt wird, zunächst unbestimmt lassen, dafür aber sehr wahrscheinlich gemacht haben, daß diese Verbindung auf jeden Fall, und wie immer man sie sich im übrigen denken möge, so beschaffen sei, daß sie keine unzusammenhängenden Änderungen zuläßt und daß sich alles gleichsam in einem Atem ändert.

Man denkt es sich nach dem Beispiel der Melodie. In dieser haben die Töne ihre Selbständigkeit und lassen sich einzeln erkennen, und auch ihre Nachbarschaft, ihr Beisammen, Nacheinander, und was sich sonst hören läßt, ist kein bloßer Begriff, sondern bis an den Rand voll sinnlicher Darbietung; aber obwohl sich alles das also trotz seiner Verbundenheit einzeln hören läßt, läßt es sich auch verbunden hören, denn gerade das ist die Melodie, und wird sie gehört, so ist nicht neben den Tönen, Tonabständen und Zeiten etwas Neues da, sondern mit ihnen. Die Melodie kommt nicht als eine Beigabe hinzu, sondern als eine zweite Art zu erscheinen, eine besondere Existenzform, unter der sich die Form der Einzelexistenz gerade noch ausnehmen läßt; und auch das gilt vom Gefühl im Verhältnis zu den Gedanken, Bewegungen, Empfindungen, Absichten und stummen Kräften, die sich in ihm vereinen. Auch so empfindlich, wie es eine Melodie gegen jede Veränderung an ihren ›Teilen‹ ist, so daß sie gleich eine andere Gestalt annimmt oder ganz zerstört wird, so empfindlich kann ein Gefühl gegen eine Handlung oder einen hineinsprechenden Einfall sein.

In welchem Verhältnis das Gefühl zum ›äußeren und inneren Verhalten‹ also immer stehe, zeigt das, wie jeder Veränderung in diesem eine bestimmte Veränderung in ihm entsprechen könne, und umgekehrt, als wären sie Kehrseiten.«

»(Es gibt viele genaue Schul- und Versuchsbeispiele, von denen die große Tragweite dieses theoretischen Gedankens bestätigt wird, und andere, noch aus der Wissenschaft fallende, die er unsicher erhellt, sei es mit Schein oder Wahrheit. Eines von diesen möchte ich festhalten: Die Inbrunst mancher Bildnisse – und es gibt Bildnisse, nicht nur Bilder, auch von Dingen – beruht nicht zuletzt darauf, daß sich in ihnen das einzelne Dasein in sich hinein öffnet und gegen die übrige Welt abschließt. Denn die selbständigen Gebilde des Lebens, mögen sie sich auch verhältnismäßig geschlossen darstellen, haben doch immer mit dem zerstreuenden Kreis einer wechselnden Umgebung Gemeinschaft. Als ich also Agathe auf den Arm nahm und wir uns beide aus dem Rahmen des Lebens genommen und in einem anderen vereinigt fühlten, war vielleicht etwas Ähnliches mit unserem Gefühl geschehen. Ich kannte das ihre nicht, und sie nicht das meine, aber sie waren nur für einander da, und hingen geöffnet aneinander, während alle andere Abhängigkeit verschwand; und darum sagten wir, wir wären aus der Welt gewesen, und in uns, und haben für dieses bewegte Ein- und Innehalten, diese wahre Einkehr und dieses Einswerden aus fremden Teilen den sonderbaren Vergleich mit einem Bild gebraucht.)«

 


 

»Der eigentümliche Gedanke, von dem ich zu reden habe, lehrt also, daß die Veränderungen und Modulationen des Gefühls und die des äußeren und inneren Verhaltens einander Punkt für Punkt entsprechen können, ohne daß das Gefühl dem Verhalten oder einem Teil von ihm gleichgesetzt oder etwas anderes von ihm behauptet werden müßte, als daß es Eigenschaften besitze, die auch anderswo schon Bürgerrecht in der Natur haben. Dieses Ergebnis hat den Vorzug, daß es den natürlichen Unterschied zwischen einem Gefühl und einem Geschehen nicht antastet, und doch so überbrückt, daß er seine Bedeutung verliert. Er beweist auf das allgemeinste, wie sich zwei Geschehensbereiche, die einander völlig unähnlich bleiben können, doch in einander abzubilden vermögen.

Die Frage, wie denn ein Gefühl aus anderen seelischen, ja sogar aus körperlichen Vorgängen ›bestehen‹ solle, erhält dadurch offenbar eine ganz neue und überaus beachtenswerte Wendung; aber es ist auf diese Weise nur erklärt, wie einer jeden Veränderung des Verhaltens eine Änderung des Gefühls entspricht, und umgekehrt, und nicht, wie es wirklich zu solchen Veränderungen kommt, die während der ganzen Dauer des Gefühls stattfinden. Denn wäre, wonach es nun aussieht, das Gefühl bloß das Echo der Gefühlshandlung und diese das Spiegelbild jenes, so ließe sich schwer verstehen, daß sie sich wechselweise verändern.

Hier hebt sonach der zweite Hauptgedanke an, der sich der neu angebahnten Wissenschaft vom Gefühl entnehmen läßt; ich will ihn den der Ausgestaltung und Verfestigung nennen.«

 


 

»Dieser Gedanke baut sich aus mehreren Vorstellungen und Überlegungen auf. Da ich ihn mir deutlich machen möchte, greife ich zuerst darauf zurück, daß wir sagen, ein Gefühl bewirke ein Verhalten und das Verhalten wirke auf das Gefühl zurück; denn dieser groben Beobachtung läßt sich leicht die bessere entgegensetzen, daß zwischen den beiden eher ein Verhältnis der gegenseitigen Verstärkung und Resonanz besteht, ein schwellendes Ineinanderfassen, wobei freilich beide Teile auch gemeinsam verändert werden. Das Gefühl wird in die Sprache der Handlung übersetzt, und die Handlung in die Sprache des Gefühls, wodurch, wie bei jeder Übersetzung, einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht.

Unter den einfachsten Verhältnissen spricht davon schon der bekannte Ausdruck, daß ein Schreck in die Glieder fahre; denn es darf ebensogut gesagt werden, daß auch die Glieder in den Schreck führen: ein Unterschied wie der zwischen ›starrem Schreck‹ und ›schlotternder Angst‹ beruht ganz auf diesem zweiten. Und was damit von der einfachsten Ausdrucksbewegung behauptet wird, gilt auch von der umfangreichen Gefühlshandlung: Also nicht erst als Folge der Handlung, die von ihm hervorgerufen wird, verändert sich ein Gefühl, sondern tut das schon in ihr, von der es auf eigenartige Weise aufgenommen, wiederholt und verändert wird, wodurch sie sich gegenseitig ausgestalten und verfestigen. Auch Gedanken, Wünsche und Antriebe aller Art gehen auf diese Weise in ein Gefühl ein und dieses in sie.«

 


 

»Ein solches Verhältnis setzt aber natürlich auch eine Verschiedenheit des Ineinandergreifenden voraus; denn dieses soll sich staffelartig in der Führung ablösen, so daß bald das Fühlen, bald das Handeln, bald ein Beschluß, Zweifel oder Gedanke überwiegen, die Führung übernehmen und einen Beitrag erstatten, der alle Teile in einer gemeinsamen Richtung vorwärtsbringt. So liegt es in der Vorstellung einer gegenseitigen Ausgestaltung und Verfestigung, die erst dadurch vollständig wird.

Auf der Gegenseite muß zugleich die zuvor geschilderte Einheit die Fähigkeit haben, Veränderungen aufzunehmen, und dabei doch auch in ihrer Eigenart als ein mehr oder minder bestimmtes fühlendes Verhalten beharren zu können; sie muß aber auch die Fähigkeit auszuschließen haben, denn sie nimmt Einflüsse von innen und außen auf oder wehrt sie ab. Bisher kenne ich von ihr nur das Gesetz ihres fertigen Zustands. Es muß darum auch die Herkunft dieser Einflüsse angegeben werden können und schließlich erklärt werden, dank welcher Vorsehung oder Vorrichtung es dazu kommt, daß sie im Sinne einer gemeinsamen Entwicklung in das Vorhandene eingehen.«

 


 

»Nun kann aller Voraussicht nach der Einheit allein, dem Gebilde als solchem, der bloßen Gestalt des Geschehens ein eigenes Beharrungs- und Wiederherstellungsvermögen, eine Festigkeit und ein Festigkeitsgrad, also auch schließlich eine eigene ›Energie‹ nicht zugeschrieben werden, und es ist wenig wahrscheinlich, daß es mitwirkende andere, darauf besonders gerichtete Kräfte des Innern gebe. Dagegen ist es wahrscheinlich, daß diesen nicht mehr als eine Nebenrolle zufiele; denn hauptsächlich beherrschen wohl dieselben mannigfach auf dem Sprung stehenden Verhältnisse des Innern und dieselben dauernden Anlagen, Neigungen, Grundsätze, Absichten und Bedürfnisse, die unsere Handlungen hervorrufen, auch unsere Gefühle und Gedanken. Sie sind deren Kraftspeicher, und es ist anzunehmen, daß die von ihnen ausgehenden Kräfte irgendwie die Ausgestaltung und Verfestigung des Gefühls bewirken.«

»Wie das geschieht, will ich mir an einem Vorurteil klarmachen, das recht verbreitet ist, denn es läßt sich oft die Meinung hören, daß zwischen einem Gefühl, dem Gegenstand, dem es gilt, und dem verbindenden Handeln eine ›innere Verwandtschaft‹ bestehe. Man meint, es wäre dann leichter verständlich, daß sie ein einheitliches Ganzes bilden, daß sie einander ablösen und dergleichen mehr. Der Kern ist der, daß sich ein bestimmter Trieb oder ein bestimmtes Gefühl, zum Beispiel Nahrungstrieb und Hunger, nicht auf beliebige Gegenstände und Handlungen richten, sondern natürlich vorab auf solche, die Befriedigung verheißen. Einem Hungernden ist nicht mit einer Sonate geholfen, sondern mit Nahrung, das heißt mit etwas, das einer mehr oder minder bestimmten Gruppe von Dingen und Geschehnissen angehört; und so entsteht der Anschein, daß diese Gruppe und dieser Erregungszustand ein für allemal verbunden seien, und es ist ja auch etwas Wahres daran. Diese Wahrheit ist aber nicht geheimnisvoller, als wir zur Suppe den Löffel, und nicht die Gabel benutzen.

Wir tun es, weil er uns als geeignet erscheint; und nichts anderes als dieses gewöhnliche Als-geeignet-Erscheinen ist das, was die Aufgabe erfüllt, zwischen einem Gefühl, seinem Gegenstand, den dazugehörenden Handlungen, Gedanken, Entschlüssen und jenen tieferen Antrieben zu vermitteln, die sich meistens der Beobachtung entziehn. Wenn wir in einer Absicht oder in einem Wunsch oder zu einem Zweck handeln, beispielsweise jemand zu nützen oder zu schaden, so erscheint es uns natürlich, daß unser Tun durch die Forderung bestimmt wird, daß es sich eigne, im übrigen aber ganz verschieden ausfallen kann. Das gleiche gilt von jedem Gefühl. Auch ein Gefühl verlangt nach allem, was geeignet erscheint, es zu befriedigen, wobei dieses Kennzeichen bald strenger, bald loser verwandt wird; und gerade diese lockere Verbindung ist der natürliche Weg zur Ausgestaltung und Verfestigung.

Denn selbst den Trieben widerfährt es gelegentlich, daß sie fehlgehn; und wo immer sich ein Gefühl auslebt, kommt es vor, daß eine Handlung bloß versucht wird, eine Absicht oder ein Gedanke einfließen, die sich späterhin als ungeeignet erweisen und wieder fallen gelassen werden, und daß das Gefühl in den Bereich einer Kraftquelle gerät, oder diese in den seinen, von der es sich wieder loslöst. Nicht alles wird also im Verlauf des Geschehens ausgebildet und verfestigt, manches wird auch wieder aufgegeben. Mit andern Worten, es gibt auch eine Ausgestaltung ohne Verfestigung, und diese bildet einen unentbehrlichen Teil der sich verfestigenden Ausgestaltung; denn indem von der Einheit des fühlenden Verhaltens alles aufgenommen werden kann, was geeignet erscheint, den lenkenden Kräften zu dienen, aber davon nur behalten wird, was wirklich geeignet ist, kommen von selbst in das Fühlen, Handeln und Denken der gemeinsame Zug, die Ablösung und das Beharren, die es verstehen lassen, daß sie sich gegenseitig zunehmend verfestigen und ausgestalten.«

 


 

»Der schwache Punkt dieser Erklärung liegt dort, wo die genau beschriebene Einheit, die am Ende entsteht, mit dem ungenau begrenzten, sich ins Unbekannte verlierenden Bereich der Antriebe verbunden werden soll, der am Ursprung liegt. Dieser Bereich ist kaum etwas anderes als das, was von den Inbegriffen Person und Ich nach dem Maße ihrer Beteiligung umfaßt wird, und wir wissen wenig darüber. Bedenkt man aber, daß im Augenblick eines Gefühls auch das Innerste umgeschmolzen werden kann, so wird man es nicht undenkbar finden, daß sich in einem solchen Augenblick auch die gestaltete Einheit des Geschehens bis dorthin erstreckt. Bedenkt man hingegen, wieviel vorangehen muß, einen solchen Erfolg vorzubereiten, daß ein Mensch Grundsätze und Gewohnheiten aufgibt, so wird man wieder von jeder auf die Augenblickswirkung zugespitzten Vorstellung ablassen. Und gäbe man sich schließlich auf die Weise zufrieden, daß für das Quellengebiet des Gefühls andere Gesetze und Zusammenhänge gelten sollen als für den Austritt, wo es als inneres und äußeres Geschehen wahrnehmbar wird, so stieße man wieder auf den Mangel, daß jede Vorstellung davon noch fehlt, nach welchem Gesetz sich der Übergang von den bewirkenden Kräften zum bewirkten Gebilde vollziehen könnte. Vielleicht läßt sich die Annahme einer lockeren, allgemeinen, den ganzen Verlauf umfassenden Einheit damit vereinen, daß aus ihr am Ende eine bestimmte und feste hervortritt: aber diese Frage reicht über die Psychologie hinaus, und sie reicht auch gegenwärtig noch über unser Können hinaus.«

 


 

»Dieser Bescheid, daß sich im Werdegang eines Gefühls wohl von der Quelle bis zur Mündung eine Einheit andeute, nicht aber gesagt werden könne, wann und wie sie die geschlossene Form annehme, die dem vollkommen ausgebildeten fühlenden Verhalten zu eigen sein soll (und zu deren Darlegung ich die Fügung einer Melodie als Beispiel benutzt habe): dieser recht abschlägige Bescheid gestattet merkwürdigerweise, einen Gedanken anzuknüpfen, durch den die bis jetzt verzögerte Antwort auf die Frage, wie der Begriff des Gefühls in der neueren Forschung aussieht, zu einem eigenartigen Abschluß kommt. Es ist das Zugeständnis, daß das wirkliche Geschehen überhaupt nicht ganz, und auch nicht in seiner Endgestalt, dem gedanklichen Bild entspreche, das man sich von ihm gemacht habe, was sich in einer Art doppelter Verneinung nützlich erweist. Man sagt sich: Es ist wirklich vielleicht nie die reine Einheit da, die nach der Theorie das Gesetz des fertigen Gefühls darstellt; ja es mag sie gar nicht geben können, weil sie so vollkommen in sich abgezirkelt wäre, daß sie keinerlei Einflüsse mehr aufnehmen könnte; aber, so sagt man sich nun, – es ist ja auch nie ein vollkommen abgezirkeltes Gefühl da! Mit anderen Worten: Gefühle kommen nie rein, sondern stets bloß in annähernder Verwirklichung zustande. Und nochmals mit anderen Worten: Der Vorgang der Ausgestaltung und Verfestigung kommt niemals zu Ende.«

 


 

»Nun ist das aber nichts anderes, als allenthalben jetzt das psychologische Denken kennzeichnet. Man sieht in den seelischen Grundbegriffen ohnehin bloß gedankliche Vorlagen, nach denen sich das innere Geschehen ordnen läßt, erwartet aber nicht mehr, daß es sich wirklich aus Elementen solcher Art aufbaue wie ein Vierfarbendruck. In Wahrheit sind nach dieser Anschauung die reinen Beschaffenheiten des Gefühls, der Vorstellung, der Empfindung und des Willens in der inneren Welt so wenig anzutreffen wie etwa in der äußeren ein Stromfaden oder ein schwerer Punkt, und es gibt bloß ein verflochtenes Ganzes, das bald zu wollen und bald zu denken scheint, weil diese oder jene Beschaffenheit in ihm überwiegt.

Es bezeichnen die Namen der einzelnen Gefühle also bloß Typen, denen die wirklichen Erlebnisse nahekommen, ohne daß sie aber mit ihnen ganz übereinfielen; und damit tritt, mag alles das auch ein wenig grob gesprochen sein, an die Stelle des Axioms der älteren Psychologie, wonach das Gefühl, als eines der elementaren Erlebnisse, eine unverwechselbare Beschaffenheit hätte, oder auf eine Weise erlebt würde, die es von den anderen Erlebnissen ein für allemal unterschiede, ein Leitsatz ungefähr folgenden Inhalts: Es gibt keine Erlebnisse, die von Anfang an ein bestimmtes Gefühl sind, ja nicht einmal Gefühl schlechthin; sondern es gibt bloß Erlebnisse, die dazu berufen sind, zum Gefühl und zu einem bestimmten Gefühl zu werden.

Auch die Vorstellung der Ausgestaltung und Verfestigung erhält dadurch die Bedeutung, daß sich in diesem Vorgang das Gefühl und Verhalten nicht nur ausbilde, verfestige und, soweit es ihm gegeben ist, bestimme, sondern daß es in ihm überhaupt erst entstehe: also daß zu Anfang niemals genau dieses oder jenes bestimmte Gefühl – etwa in schwachem Zustand – mitsamt seiner Handlungsweise vorhanden ist, sondern bloß etwas, das dazu bestimmt und geeignet ist, ein solches Gefühl und Handeln zu werden, was sich aber niemals rein vollendet.«

 


 

»Natürlich ist dieses Etwas aber auch nicht völlig beliebig; soll es doch etwas sein, das zum voraus und seiner Anlage nach dazu bestimmt oder geeignet ist, ein Gefühl, und dazu ein bestimmtes Gefühl, zu werden. Denn Zorn ist schließlich nicht Müdigkeit, und wahrscheinlich auch anfänglich nicht; und ebensowenig sind Sättigung und Hunger auch nur im Ansatz zu verwechseln. Es wird also wohl zu Beginn etwas Unfertiges, ein Ansatz, ein Kern, etwas Gefühlartiges und diesem Gefühl Zugeartetes schon vorhanden sein. Ich möchte sagen, ein Fühlen, aber noch kein Gefühl; doch ist es besser, ich führe ein Beispiel aus, und ich will dazu das verhältnismäßig einfache des von außen treffenden körperlichen Schmerzes wählen:

Er kann eine örtlich begrenzte Empfindung sein, die an einer Stelle bohrt oder brennt und unangenehm, aber fremd ist. Diese Empfindung kann aber auch aufflammen und die ganze Person mit Pein überschütten. Auch ist anfangs oft nur ein leerer Fleck an ihrer Stelle, aus dem erst im nächsten Augenblick Empfindung oder Gefühl aufquillt; denn nicht nur Kindern widerfährt es, daß sie anfangs oft nicht wissen, ob etwas schmerzt. Man hat früher angenommen, daß in diesen Fällen ein Gefühl zu der Empfindung hinzukommt; heute zieht man aber die Annahme vor, daß sich ein Erlebniskern, der ursprünglich noch ebensowenig eine Empfindung wie ein Gefühl sei, sowohl zu der einen wie auch zum andern entwickeln könne.

Zu diesem ursprünglichen Erlebnisbestand gehört auch schon der Beginn einer Reflex- oder Triebhandlung, eines Zurückzuckens, Zusammenfahrens, Abwehrens oder eines unwillkürlichen Gegenangriffes; und weil das mehr oder minder eine Beteiligung der ganzen Person mit sich bringt, wird damit auch ein innerer Flucht- oder Abwehrzustand verbunden sein, also eine Gefühlsfärbung von der Art der Angst oder des Angriffs. Noch stärker geht sie natürlich von den alarmierten Trieben aus, denn diese sind ja nicht nur Anlagen zu einem zweckmäßigen Handeln, sondern verbreiten bei ihrer Erweckung auch unbestimmte Gemütszustände, die wir als Stimmung der Ängstlichkeit, Gereiztheit, in anderen Fällen der Verliebtheit, Empfänglichkeit und so weiter bezeichnen. Selbst das Nichtgeschehen und Nichtstunkönnen hat eine solche Gefühlsfarbe; meistens sind die Triebe aber mit einer mehr oder weniger bestimmten Willensbildung verbunden, und dann findet alsbald auch eine bewußte Erkundung der Lage statt, die an sich selbst ein Sichstellen und also angreifend gefärbt ist. Sie kann aber auch auf Kühle und Ruhe hinwirken; oder es ist der Schmerz sehr heftig, dann unterbleibt sie, und man geht seiner Quelle plötzlich aus dem Wege: Schon dieses Beispiel spielt also, und schon in den ersten Augenblicken, zwischen Empfindung, Gefühl, selbsttätiger Erwiderung, Wille, Flucht, Abwehr, Angriff, Schmerz, Zorn, Neugierde und kühler Sammlung hin und her und zeigt dadurch, daß nicht sowohl ein ursprünglicher Gefühlszustand da ist, als vielmehr wechselnde Ansätze zu deren mehreren einander ablösen oder ergänzen.

Das gibt der Behauptung, es sei wohl ein Fühlen da, aber noch kein Gefühl, den Sinn, daß immer die Anlage zu einem Gefühl da sei, sich aber nicht zu erfüllen brauche, und daß immer ein Ansatz da sei, der aber hinterdrein auch als Ansatz zu einem anderen Gefühl gedient haben kann.«

 


 

»Die eigentümliche Weise, auf die das Gefühl dabei sowohl von Anfang an vorhanden als auch nicht vorhanden ist, läßt sich aber durch den Vergleich ausdrücken, daß man sich sein Wachsen und Werden nach dem Bild eines Waldes vorstellen müsse, und nicht nach dem eines Baumes. Eine Birke beispielsweise bleibt vom Keimen bis zum Absterben sie selbst; ein Birkenwald kann dagegen als gemischter beginnen und wird ein Birkenwald, sobald diese Bäume – zufolge von Ursachen, die recht verschieden sein können – in ihm überwiegen und die Abweichungen vom reinen Gepräge des Birkenschlags nicht mehr ins Gewicht fallen.

So verhält es sich auch mit dem Gefühl und, was immer mißverstanden werden kann, mit der Gefühlshandlung. Sie haben immer eine Eigenart, aber diese ändert sich mit allem, was in sie hineinspielt, bis sie mit wachsender Bestimmtheit die Merkmale eines bekannten Gefühls annimmt und seinen Namen ›verdient‹, was immer eine Spur von freier Würdigung an sich behält. Gefühl und Gefühlshandlung können sich aber von diesem Typus auch wieder entfernen und sich einem anderen annähern, was nichts Ungewöhnliches ist, weil doch ein Gefühl schwanken kann und überhaupt verschiedene Verfassungen durchmacht. Der Unterschied von der gewöhnlichen Auffassung liegt darin, daß nach dieser das Gefühl als ein bestimmtes Erlebnis gilt, das wir nicht immer mit Bestimmtheit erkennen; die neuer begründete schreibt dagegen die Unbestimmtheit dem Gefühl selbst zu und sucht sie aus seinem Wesen zu verstehen und bündig abzugrenzen.«

 


 

In einem Anhang folgten nun noch einzelne Beispiele, die eigentlich Randbemerkungen hätten sein sollen, an der ihnen zugedachten Stelle aber unterdrückt worden waren, damit sie die Darlegung nicht unterbrächen. Und so gehörten diese aus dem Zusammenhang geratenen Nachzügler nun auch nicht mehr zu einer bestimmten Stelle, obwohl sie zum Ganzen gehörten und Einfälle zu dessen möglicher Anwendung festhielten:

»Was in die Beziehung ›Etwas lieben‹ so ungeheure Unterschiede trägt wie den zwischen Gottesliebe und Liebe zum Fischen, ist nicht die Liebe, sondern das ›Etwas‹. Das Gefühl selbst – das Hangen, Bangen, Begehren, Sehren, Zehren: mit einem Wort, das Lieben – läßt einen Unterschied nicht erkennen.«

 


 

»Seinen Spazierstock oder die Ehre zu lieben, ist aber ebenso gewiß nicht nur darum tausend und eins, weil diese beiden einander nicht gleichen, sondern auch weil der Gebrauch, den wir von ihnen machen, die Umstände, unter denen sie wichtig werden, kurz, die ganze Erfahrungsgruppe verschieden ist. Es ist die Unverwechselbarkeit einer Erfahrungsgruppe, woraus wir die Sicherheit gewinnen, unser Gefühl zu kennen. Darum kennen wir es in Wahrheit erst, nachdem es in die Welt gewirkt und sich an ihr ausgestaltet hat; wir wissen nicht, was wir fühlen, ehe nicht unser Handeln darüber entschieden hat.«

 


 

»Und wo wir sagen, unser Gefühl sei geteilt, dort sollten wir eher sagen, es sei noch nicht fertig oder wir seien noch nicht festgelegt.«

 


 

»Und wo es als Widerspruch oder paradoxe Vermischung erscheint, liegt oft etwas anderes vor. Wir sagen, der Tapfere achte des Schmerzes nicht; in Wahrheit schäumt aber das bittere Salz des Schmerzes in der Tapferkeit auf. Und im Märtyrer hebt es sich flammend zum Himmel. Im Feigen dagegen gewinnt der Schmerz durch die ihn erwartende Angst unerträgliche Verdichtung. Noch deutlicher als diese Beispiele ist das des Abscheus, zu dem, mit Gewalt angetan, gerade die Empfindungen werden, die, freiwillig empfangen, höchste Wollust sind.

Natürlich sind da verschiedene Quellen, und es entstehen auch Mischungen; vornehmlich entstehen aber verschiedene Richtungen der Ausbildung des vorherrschenden Gefühls.«

 


 

»Weil sie beständiger Fluß sind, lassen sich Gefühle nicht anhalten; sie lassen sich also nicht ›unter die Lupe› nehmen; das heißt, je genauer wir sie beobachten, desto weniger wissen wir, was wir fühlen. Die Aufmerksamkeit ist schon eine Veränderung des Gefühls. Wären sie aber eine Mischung, müßte diese eigentlich im Augenblick des Anhaltens am deutlichsten sein, auch wenn sich die Aufmerksamkeit einmischt.«

 


 

»Weil die äußere Handlung keine selbständige Bedeutung für die Seele hat, lassen sich Gefühle nicht nach ihr allein unterscheiden. Unzähligemal wissen wir nicht, was wir fühlen, obgleich wir lebhaft und entschieden handeln. Auf dieser Undeutlichkeit beruht sodann die ungeheure Zweideutigkeit dessen, was ein argwöhnisch oder eifersüchtig beobachtender Mensch tut.«

 


 

»Die Undeutlichkeit des Gefühls beweist aber nicht etwa seine Schwäche, denn gerade im höchsten Fühlen vergehen die Gefühle. Schon in den hohen Graden sind sie äußerst labil; siehe zum Beispiel den ›Mut der Verzweiflung‹ oder das Umschlagen von Glück in Schmerz. Auch bewirken sie da widerspruchsvolle Handlungen, wie Lähmung statt Flucht oder vom eigenen Zorn ›Erwürgtwerden‹. Bei ganz heftigen Erregungen verlieren sie aber sozusagen ihre Farbe, so daß bloß eine tote Empfindung der sie begleitenden körperlichen Erscheinungen übrig bleibt, des Schauders der Haut, des Rasens des Bluts, der Ferne der Sinne. Und vollends in den höchsten Graden tritt geradezu eine Blendung ein, so daß sich sagen ließe, daß die Einrichtung des Gefühls, und damit die ganze Welt unseres Gefühls, nur für mittlere Grade gilt.«

 


 

»In diesen durchschnittlichen Graden erkennen und benennen wir ein Gefühl natürlich nicht anders als andere Erscheinungen, die im Fluß sind, um das nochmals zu sagen. Die Unterscheidung zwischen Haß und Zorn festzulegen, ist so leicht und so schwer wie die zwischen Mord und Totschlag oder einem Becken und einer Schüssel zu bestimmen. Es waltet nicht Namenswillkür, aber jede Seite und Biegung kann dem Vergleich und der Begriffsbildung dienen. Und so hängen auf diese Weise wohl auch die hundert und ein Arten der Liebe zusammen, über die Agathe und ich nicht ganz ohne Kummer gescherzt haben. Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames ›Gabeligsein‹ zugrunde; aber es steckt nicht als gemeinsamer Kern in ihnen, sondern fast ließe sich sagen, es sei nicht mehr als ein zu jedem von ihnen möglicher Versuch. Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zu anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum andern und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat.«

 


 

»Wollten wir aber, wozu wir neigen, die zwischen allen Lieben bestehende Ähnlichkeit für ihre Ähnlichkeit mit einer Art von ›Urliebe‹ ansehen, die gleichsam ohne Arme und Beine in ihrer aller Mitte säße, so wäre es anscheinend der gleiche Fehler wie der Glaube an eine ›Urgabel‹. Und doch kennen wir das lebendige Zeugnis dafür, daß es solches Gefühl wirklich gibt. Bloß der Grad dieses ›Wirklich‹ läßt sich schwer bestimmen. Es ist ein anderes als das der wirklichen Welt. Ein Gefühl, das nicht Gefühl für etwas ist; ein Gefühl ohne Begehren, ohne Bevorzugung, ohne Bewegung, ohne Kenntnis, ohne Grenzen; ein Gefühl, zu dem kein bestimmtes Verhalten und Handeln gehört, jedenfalls kein ganz wirkliches Verhalten: so wahrhaftig dieses Gefühl nicht von Armen und Beinen bedient wird, so wahrhaftig ist es uns immer wieder entgegengetreten und ist uns lebendiger als das Leben erschienen! Liebe ist schon ein zu besonderer Name dafür, wenngleich es mit einer Liebe, für die Zärtlichkeit oder Geneigtheit noch zu handgreifliche Ausdrücke sind, wohl die allernächste Verwandtschaft hat. Es verwirklicht sich auf vielerlei Art und in vielen Beziehungen, aber es läßt sich niemals ganz von dieser Verwirklichung ablösen, die es verunreinigt. So ist es uns erschienen und verschwunden, eine Ahnung, die immer gleich blieb. Scheinbar haben die nüchternen Überlegungen, womit ich diese Blätter gefüllt habe, wenig damit zu tun, und doch bin ich fast sicher, daß sie mich an den richtigen Übergang geführt haben!«


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