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Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse

 

Bald nach diesem Besuch wiederholte sich das »Unmögliche«, das Agathe und Ulrich beinahe schon körperlich umschwebte, und es geschah wahrlich, ohne daß irgenderlei geschah.

Die Geschwister kleideten sich zu einer Abendunterhaltung um, es war niemand als Ulrich im Haus, Agathe zu helfen, sie hatten nicht rechtzeitig begonnen und waren darum eine Viertelstunde lang in lebhaftester Eile gewesen, als eine kleine Pause eintrat. Auf den Lehnen und Flächen des Zimmers lag Stück für Stück fast noch der ganze Kriegsschmuck ausgebreitet, der von einer Frau bei solcher Gelegenheit angelegt wird, und Agathe bückte sich soeben über ihren Fuß, mit der ganzen Aufmerksamkeit, die das Anziehen eines dünnen Seidenstrumpfs erfordert. Ulrich stand ihr im Rücken. Er sah ihren Kopf, den Hals, die Schulter und diesen beinahe nackten Rücken; der Körper bog sich über dem emporgezogenen Knie ein wenig zur Seite, und am Hals rundete die Spannung des Vorgangs drei Falten, die schlank und lustig durch die klare Haut eilten wie drei Pfeile: die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds, der sich augenblicks ausbreitenden Stille entsprungen, schien ihren Rahmen verloren zu haben und ging so unvermittelt und unmittelbar in den Körper Ulrichs über, daß dieser seinen Platz verließ und, nicht ganz so bewußtlos, wie ein Fahnentuch vom Wind entrollt wird, aber auch nicht mit bewußter Überlegung, auf den Fußspitzen näher schlich, die Gebeugte überraschte und mit sanfter Wildheit in einen dieser Pfeile biß, wobei sein Arm die Schwester umschlang. Dann ließen Ulrichs Zähne ebenso vorsichtig die Überfallene los; die rechte Hand hatte ihr Knie umfaßt, und während er mit dem linken Arm ihren Körper an seinen drückte, riß er sie auf emporschnellenden Beinsehnen mit sich in die Höhe. Agathe schrie dabei erschrocken auf.

Bis dahin hatte sich alles ebenso übermütig und scherzhaft abgespielt wie vieles zuvor, und mochte es auch in den Farben der Liebe gestreift sein, so doch nur mit der eigentlich schüchternen Absicht, deren gefährlichere ungewöhnliche Natur unter solchem heiter vertraulichen Kleid zu bergen. Aber als Agathe ihr Erschrecken überwand und sich nicht sowohl durch die Luft fliegen als vielmehr in dieser ruhen fühlte, von aller Schwere plötzlich entbunden und an deren Stelle von dem sanften Zwang der allmählich langsamer werdenden Bewegung gelenkt, bewirkte es einer jener Zufälle, die niemand in seiner Macht hat, daß sie sich in diesem Zustand wundersam besänftigt vorkam, ja aller irdischen Unruhe entrückt; mit einer das Gleichgewicht ihres Körpers verändernden Bewegung, die sie niemals hätte wiederholen können, streifte sie auch noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, wandte sich fallend ihrem Bruder zu, setzte gleichsam noch im Fall das Steigen fort, und lag niedersinkend als eine Wolke von Glück in seinen Armen. Ulrich trug sie, ihren Körper sanft an sich drückend, durch das dunkelnde Zimmer ans Fenster und stellte sie neben sich in das milde Licht des Abends, das ihr Gesicht wie Tränen überströmte. Trotz der Kraft, die alles erforderte, und des Zwangs, den Ulrich auf seine Schwester ausgeübt hatte, kam ihnen das, was sie taten, merkwürdig entlegen von Kraft und Zwang vor; man hätte es vielleicht wieder mit der wundersamen Inbrunst eines Bildes vergleichen können, das für die Hand, die es von außen ergreift, nichts als eine lächerliche, angestrichene Fläche ist. So hatten sie denn auch nichts im Sinn als den leiblichen Vorgang, der ihr Bewußtsein ganz erfüllte, und doch besaß er neben seiner Natur als harmloser, ja anfangs sogar etwas derber Scherz, der alle Muskeln in Bewegung setzte, eine zweite Natur, die äußerst zart alle Gliedmaßen lähmte und zugleich mit einer unsagbaren Empfindlichkeit umstrickte. Sie schlangen fragend einander die Arme um die Schultern. Der geschwisterliche Wuchs der Körper teilte sich ihnen mit, als stiegen sie aus einer Wurzel auf. Sie sahen einander so neugierig in die Augen, als sähen sie dergleichen zum erstenmal. Und obwohl sie das, was eigentlich vorgegangen sei, nicht hätten erzählen können, weil ihre Beteiligung daran zu inständig war, glaubten sie doch zu wissen, daß sie sich soeben unversehens einen Augenblick inmitten dieses gemeinsamen Zustands befunden hätten, an dessen Grenze sie schon so lange gezögert, den sie einander schon so oft beschrieben und den sie doch immer nur von außen geschaut hatten.

Prüften sie es nüchtern, und verstohlen taten sie das beide, so bedeutete es freilich kaum mehr als einen reizenden Zufall und hätte sich im nächsten Augenblick, oder wenigstens mit der Wiederkehr einer Beschäftigung, in nichts auflösen sollen; trotzdem geschah das nicht. Im Gegenteil, sie verließen das Fenster, machten Licht, nahmen ihre Tätigkeit wieder auf, standen aber doch bald von ihr ab; und ohne daß sie sich darüber hätten verständigen müssen, ging Ulrich an den Fernsprecher und teilte dem Hause, wo sie erwartet wurden, mit, daß sie nicht kämen. Er hatte da schon den Abendanzug an, aber Agathes Kleid hing noch ungeschlossen die Schulter hinab, und sie bemühte sich eben erst, ihrem Haar eine gesittete Ordnung zu geben. Der technische Beiklang seiner Stimme im Gerät und die Verbindung mit der Welt, die sich herstellte, hatten Ulrich nicht im geringsten ernüchtert; er setzte sich seiner Schwester gegenüber, die in ihrer Beschäftigung einhielt, und nichts war, als ihre Blicke einander da begegneten, so gewiß, wie daß die Entscheidung gefallen sei und jedes Verbot ihnen nun gleichgültig wäre. Trotzdem kam es anders. Ihr Einverständnis tat sich ihnen mit jedem Atemzug kund; es war ein trotzig erlittenes, sich endlich vom Unmut der Sehnsucht zu erlösen, und es war ein so süß erlittenes, daß sich die Vorstellungen der Verwirklichung beinahe von ihnen losrissen und sie schon in der Einbildung vereinten, wie der Sturm einen Schaumschleier den Wellen voranpeitscht: aber ein noch größeres Verlangen gebot ihnen Ruhe, und sie vermochten nicht, noch einmal aneinander zu rühren. Sie wollten es beginnen, aber die Gebärden des Fleisches waren ihnen unmöglich geworden, und sie fühlten eine unbeschreibliche Warnung, die mit den Geboten der Sitte nichts zu tun hatte. Es schien sie aus der Welt der vollkommeneren, wenn auch noch schattenhaften Vereinigung, von der sie zuvor wie in einem schwärmerischen Gleichnis genossen hatten, ein höheres Gebot getroffen, eine höhere Ahnung, Neugierde oder Voraussicht angehaucht zu haben.

Die Geschwister verharrten nun verwirrt und nachdenklich, und nachdem sie ihre Empfindungen besänftigt hatten, fingen sie zögernd zu sprechen an.

Ulrich sagte sinnlos, wie man in die Luft spricht: »Du bist der Mond –«

Agathe verstand es.

Ulrich sagte: »Du bist zum Mond geflogen und mir von ihm wiedergeschenkt worden –«

Agathe schwieg: Mondgespräche sind so von ganzem Herzen verbraucht.

Ulrich sagte: »Es ist ein Gleichnis. ›Wir waren außer uns‹, ›Wir hatten unsere Körper vertauscht, ohne uns zu berühren‹, sind auch Gleichnisse! Aber was bedeutet ein Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Übertreibung. Und doch wollte ich schwören, so wahr es unmöglich ist, daß die Übertreibung sehr klein und die Wirklichkeit fast schon ganz groß gewesen ist!«

Er sprach nicht weiter. Er dachte: »Von welcher Wirklichkeit spreche ich? Gibt es eine zweite?«

Verläßt man hier das Gespräch der Geschwister, um einer Vergleichsmöglichkeit zu folgen, von der es zumindest mitbestimmt wurde, so wäre wohl zu sagen, daß diese Wirklichkeit fürwahr am nächsten mit der abenteuerlich veränderten in Mondnächten verwandt war. Begreift man doch auch diese nicht, wenn man in ihr bloß eine Gelegenheit zu etwas Schwärmerei sieht, die bei Tag besser unterdrückt bleibt, muß sich vielmehr, wenn man das Richtige bemerken will, das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirklich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es aus der leeren Geschäftigkeit des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. Alle Versicherungen drücken nur ein einziges flutendes Erlebnis aus. Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern jedes ist die unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die der Mensch in einem neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die Natur des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Gehen ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht. So zu sein, es ist der einzige Zugang zum Wissen dessen, was vor sich geht. Denn das Ich behält in diesen Nächten nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst, kaum eine Erinnerung; das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein. Und diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen werde, wie es noch nie dagewesen sei, ja wie es sich die verarmte Vernunft des Tages nicht einmal vorstellen könne. Und nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper, vom Kopf bis zu den Füßen, ist über dem Dunkel der Erde und unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird.

Wohl hatte Ulrich nie eine besondere Vorliebe zum Mondscheinschwärmen an sich wahrgenommen; doch wie man gewöhnlich das Leben ohne Gefühl hinunterschlingt, so hat man manchmal viel später seinen geisterhaft gewordenen Geschmack auf der Zunge; und derart fühlte er alles, was er an solcher Schwärmerei versäumt hatte, alle achtlos und einsam, ehe er seine Schwester kannte, verbrachten Nächte plötzlich als silberübergossenes unendliches Gebüsch, als Mondflecken im Gras, als hangende Apfelbäume, singenden Frost und vergoldete Schwarzwässer wieder. Es waren lauter Einzelheiten, die nicht zusammenhingen und nie beisammen gewesen waren, die sich nun aber wie der Duft vermengten, der aus vielerlei Kräutern eines berauschenden Getränks aufsteigt. Und als er das Agathe sagte, fühlte sie es auch.

Darum faßte Ulrich das alles, was er gesagt hatte, schließlich zu der Behauptung zusammen: »Was uns mit dem ersten Augenblick einander zugewandt hat, ließe sich recht ein Leben der Mondnächte nennen!« Und Agathe atmete tief auf. Das mochte heißen, was es wolle; und wahrscheinlich hieß es: Warum weißt du aber nicht auch einen Zauber dagegen, daß es uns im letzten Augenblick trennt?! Sie seufzte so natürlich und vertraulich, daß sie nicht einmal selbst davon wußte.

Und wieder hob damit eine Bewegung an, die sie zueinander neigte und auseinander hielt. Jede starke Erregung, die zwei Menschen gemeinsam bis ans Ende erlebt haben, hinterläßt in ihnen die nackte Vertraulichkeit der Erschöpfung; selbst der Streit tut das, und um wieviel mehr nicht die Zärtlichkeit von Gefühlen, die das Mark schier zu einer Flöte aushöhlen! So hätte nun auch Ulrich, als er sie wortlos klagen hörte, Agathe beinahe doch gerührt umarmt, und entzückt wie ein Liebhaber am Morgen nach den ersten Stürmen. Seine Hand berührte schon ihre Schulter, die noch immer entblößt war, und sie zuckte bei dieser Berührung lächelnd zusammen; aber in ihren Augen zeigte sich auch gleich wieder die ungewollte Abmahnung. Sonderbare Bilder entstanden nun in seinem Kopf: Agathe hinter Gittern. Oder sie, aus wachsender Entfernung ihm ängstlich winkend, von der trennenden Gewalt fremder Fäuste fortgerissen. Dann wieder war er selbst nicht nur der ohnmächtig Verabschiedete, sondern ähnlich auch der Trennende . . . Vielleicht waren das ewige Bilder des Liebeszweifels, bloß im Durchschnittsleben verbraucht, vielleicht auch nicht. Er hätte gerne davon zu ihr gesprochen, doch blickte Agathe jetzt von ihm weg und zu dem offenen Fenster hin und stand zögernd auf. Das Fieber der Liebe war in ihren Körpern, aber diese wagten keine Wiederholung, und jenseits des Fensters, dessen Vorhänge fast offenstanden, befand sich das, was ihnen die Einbildungskraft entführt hatte, ohne die das Fleisch nur roh oder mutlos ist. Als Agathe die ersten Schritte in diese Richtung tat, löschte Ulrich, ihr Einverständnis erratend, das Licht aus, um den Blick in die Nacht freizumachen. Der Mond war hinter den Fichtenwipfeln emporgekommen, deren grün glimmendes Schwarz sich schwerblütig von der goldblauen Höhe und der blaß glitzernden Weite abhob. Unwillig musterte Agathe das tiefe, kleine Stück Welt.

»Also doch nicht mehr als Mondscheinromantik?!« fragte sie.

Ulrich sah sie ohne Antwort an. Ihr blondes Haar wurde im Halbdunkel neben der weißlichen Nacht feurig, ihre Lippen waren von Schatten geöffnet, ihre Schönheit war schmerzlich und unwiderstehlich. Wahrscheinlich stand aber auch er ähnlich vor ihrem Blick, mit blauen Augenhöhlen in weißem Gesicht, denn sie fuhr fort: »Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Wie der ›Pierrot Lunaire‹! Es mahnt zur Vorsicht!« Sie wollte ihm ein wenig Unrecht antun, in ihrer Erregung, die sie beinahe weinen machte. In der bleichen Maske des mondlich-einsamen Pierrots waren sich vor Zeiten doch alle jungen unnützen Leute schmerzvoll-launisch vorgekommen, kreidebleich gepudert bis auf die blutstropfenroten Lippen und von einer Kolombine verlassen, die sie niemals besessen hatten; es drückte also die Vorliebe für Mondnächte beträchtlich ins Lächerliche hinab. Aber Ulrich pflichtete, zu seiner Schwester anfangs größer werdendem Weh, bereitwillig bei. »Auch das ›Lache Bajazzo!‹ hat schon tausenden Spießbürgern den Rücken kalt vor innerster Zustimmung gemacht, wenn sie es singen hörten« versicherte er bitter. Dann aber fügte er leise und einflüsternd hinzu: »Dieser ganze Gefühlskreis ist eben verdächtig! Und doch siehst du in diesem Augenblick so aus, daß ich alle Erinnerungen meines Lebens dafür hingeben möchte!« Agathes Hand hatte die Ulrichs gefunden. Ulrich fuhr leise und leidenschaftlich fort: »Unsere Zeit versteht unter der Seligkeit des Gefühls bloß das Gefühlsselige und hat den Mondrausch zu einer sentimentalen Ausschweifung entwürdigt. Ihr ahnt nicht recht, daß er entweder eine unverständliche geistige Störung sein müßte oder das Fragment eines anderen Lebens ist!«

Diese Worte – gerade weil sie vielleicht übertrieben – hatten den Glauben und damit die Flügel des Abenteuers. »Gute Nacht!« sagte Agathe unerwartet und nahm sie mit sich. Sie hatte sich losgemacht und zog den Vorhang so hastig zu, daß das Bild der beiden im Mondschein Stehenden wie auf einen Schlag verschwand; und ehe Ulrich Licht machte, gelang es ihr, aus dem Zimmer zu finden.

Ulrich ließ ihr überdies Zeit. »Du wirst in dieser Nacht so ungeduldig schlafen wie vor dem Aufbruch zu einem großen Ausflug« rief er ihr nach.

»Ich will es auch tun!« klang als Antwort in das Schließen der Tür.


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