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Ulrich hört Musik

 

Das nächstemal traf Ulrich mit Clarisse bei Freunden von ihr in einem Maleratelier zusammen, wo sich ein Kreis von Menschen versammelt hatte und Musik machte. Clarisse war unauffällig in dieser Umgebung, die Rolle des Sonderlings fiel darin eher Ulrich zu. Er war unwillig gekommen und empfand Widerstreben zwischen lauter Menschen, die verzückt und verbogen lauschten. Diese Übergänge von Lieblich, Leise, Sanft zu Düster, Heldisch und Brausend, welche die Musik binnen einer Viertelstunde ein paarmal vollzieht, – Musiker bemerken das ja nicht, weil für sie der Vorgang gleichbedeutend ist mit Musik und also mit etwas ganz und gar Ausgezeichnetem! – aber Ulrich, der in diesem Augenblick ganz und gar nicht von dem Vorurteil, daß es Musik geben müsse, befangen war, erschienen sie als so schlecht begründete und unvermittelte Vorgänge wie das Treiben einer betrunkenen Gesellschaft, die alle Augenblicke zwischen Rührseligkeit und Prügeln abwechselt. Er wollte sich zwar keine Vorstellung von der Seele eines großen Musikers machen und darüber urteilen, aber was gewöhnlich schon für große Musik gilt, kam ihm noch beiweitem nicht anders wie ein Kasten vor, der alle Inhalte der Seele einschließt und außen sehr schön geschnitzt ist, aus dem man aber alle Laden herausgezogen hat, so daß innen der ganze Inhalt durcheinander liegt. Er konnte gewöhnlich nicht begreifen, daß Musik eine Verschmelzung von Seele und Form sei, weil er zu deutlich sah, daß die Seele der Musik, abgesehen von der ganz seltenen reinen Musik, nichts ist als die ausgeborgte und verrückt gemachte Seele von Hinz und Kunz.

Dennoch hatte er den Kopf wie die anderen in beide Hände gestützt; er wußte bloß nicht, ob es geschah, weil er an Walter dachte, oder um sich ein wenig die Ohren zuzuhalten. In Wahrheit hielt er weder die Ohren ganz zu, noch dachte er nur an Walter. Er wollte bloß allein sein. Er dachte nicht oft über andere Menschen nach; wahrscheinlich deshalb, weil er auch über sich selbst »als Person« selten nachdachte. Er handelte gewöhnlich nach der Meinung, was man denke, fühle, wolle, sich einbilde und schaffe, könne unter Umständen eine Bereicherung des Lebens bedeuten; was man sei, bedeute aber unter keinerlei Umständen mehr als ein Nebenprodukt bei dem Vorgang dieser Herstellung. Musikalische Menschen sind jedoch sehr oft der entgegengesetzten Meinung. Sie erzeugen zwar eine Sache, für die sie den unpersönlichen Namen Musik gebrauchen, aber diese Sache besteht doch zum größten oder wenigstens in dem ihnen wichtigsten Teil aus ihnen selbst, ihren Empfindungen, Gefühlen und dem gemeinsamen Erlebnis. Es ist mehr Sein und weniger Bleiben in ihrer Musik, der von allen geistigen Tätigkeiten die des Schauspielers am nächsten steht. Diese Steigerung, deren Zeuge er sein mußte, erregte Ulrichs Abneigung, er saß wie eine Eule unter Singvögeln zwischen ihnen.

Und natürlich war Walter ganz das Gegenteil von ihm. Er dachte viel und leidenschaftlich über sich selbst nach. Er nahm alles ernst, was ihm begegnete. Weil es ihm begegnete; als ob das eine Auszeichnung wäre, die eine Sache zu einer anderen machen kann. Er war in jedem Augenblick Person und ganzer Mensch, und weil er es war, wurde er nichts. Alle Menschen hatten ihn fesselnd gefunden, ihm Glück gebracht und ihn eingeladen, bei ihnen zu bleiben, mit dem Endergebnis, daß er Archivar oder Kustos geworden ist, festgefahren ist, keine Kraft mehr hat, sich zu verändern, auf alle Menschen schimpft, zufrieden unglücklich ist und pünktlich in sein Büro geht. Und während er in seinem Büro ist, wird vielleicht zwischen Clarisse und Ulrich etwas geschehen, das seine Person, wenn er es erführe, in eine Aufregung versetzen könnte, wie wenn der ganze Ozean der Weltgeschichte in sie einströmte; wogegen Ulrich weit weniger aufgeregt davon war. Clarisse aber hatte sich, gleich als sie gekommen war, Walter war nicht dabei, neben Ulrich gesetzt. Den Rücken vorgebogen, das Knie hochgezogen, im Dunkel, denn es war noch kein Licht gemacht worden, hatte sie gleich nach den ersten Takten, denen sie beiwohnten, ihre Hand ausgebreitet auf die seine gestützt, als ob sie aufs innigste zusammengehörten. Ulrich hatte sich vorsichtig befreit, und auch das war ein Grund dafür gewesen, daß er den Kopf in beide Hände stützte; aber Clarisse, als sie geschaut hatte, was er vorhabe, und ihn von der Seite ebenso ergriffen dasitzen sah wie alle anderen, hatte sich sanft an ihn gelehnt und so saß sie nun schon eine halbe Stunde. Und auch er war nicht glücklich.

Er wußte, daß er immer von neuem nichts als den entgegengesetzten Irrtum beging wie Walter. Durch diesen Irrtum entstand eine Auflösung ohne Kern; der Mensch verlor sich in einen Strahlenraum; er hörte auf, ein Ding, mit allen ebenso köstlichen wie zufälligen Begrenztheiten, zu sein; er wurde in der höchsten Steigerung so gleichgültig gegen sich selbst, daß das Menschliche gegenüber dem Übermenschlichen nicht mehr Bedeutung hat, wie das Stückchen Kork, an dem ein Magnet angebracht ist, der es in einem Netz von Kräften kreuz und quer zieht. Zuletzt war es ihm mit Agathe so ergangen. Und jetzt – nein, es war eine Lästerung, das nebeneinander zu setzen – aber selbst zwischen Clarisse und ihm war jetzt etwas »los«, bewegte sich, er war in einen Wirkungsbereich geraten, in dem Clarisse und er von Kräften einander zu bewegt wurden, die keine Rücksicht darauf nahmen, ob sie im ganzen für einander Neigung verspürten oder nicht.

Und während Clarisse an ihm lehnte, dachte Ulrich an Walter. Er sah ihn in einer bestimmten Weise vor sich, wie er ihn oft heimlich sah. Walter lag dann an einem Waldrand, hatte kurze Hosen an, trug unpassende schwarze Strümpfe dazu und hatte in diesen Strümpfen nicht die Beine eines Mannes, weder die muskulösen, noch die dünnen, sondern die eines Mädchens, eines nicht sehr schönen Mädchens, mit sanften, unschönen Beinen. Er hatte die Hände unter dem Kopf gekreuzt, sah hinaus in die Landschaft, über die einst seine unsterblichen Werke rollen sollten, und verbreitete das Gefühl, daß man ihn durch eine Ansprache stören würde. Dieses Bild liebte Ulrich eigentlich sehr. So hatte Walter in seiner Jugend ausgesehen. Und Ulrich dachte: Was uns getrennt hat, ist nicht die Musik – denn er konnte sich ganz gut eine Musik vorstellen, die so unpersönlich und überdinglich und jedesmal ein einzigesmal aufsteigt wie ein Rauch, der sich im Himmelsraum verliert; – sondern es ist der Unterschied im Verhalten der Person zu ihr, es ist dieses Bild, das ich liebe, weil es übrig geblieben ist, während er es sicher aus dem entgegengesetzten Grunde liebt, weil es alles in sich einschluckte, was aus ihm hätte werden können, bis schließlich eben Walter daraus geworden ist. »Und eigentlich« dachte er »ist alles das nichts als ein Zeichen der Zeit. Der Sozialismus bemüht sich heute, das liebe Privatich für eine wertlose Illusion zu erklären, an deren Stelle gesellschaftliche Ursachen und Pflichten gehören. Ihm ist dabei aber längst die Naturwissenschaft schon mit den lieben Privatdingen vorangegangen, die sie in lauter unpersönliche Vorgänge wie Wärme, Licht, Schwere und so weiter aufgelöst hat. Das Ding, wie es Privatmenschen wichtig ist, als ein Stein, der ihnen auf den Kopf fällt, (oder als einer, den sie in Gold gefaßt kaufen können) oder eine Blume, an der sie riechen, interessiert die neueren Menschen nicht im geringsten; sie behandeln es als einen Zufall oder gar als ein ›Ding an sich‹, das ist etwas, das nicht da ist und doch da ist, eine ganz törichte und gespenstische Persönlichkeit von einem Ding. Man darf wohl voraussagen, daß sich das ändern wird, so wie ein Mann, der täglich Millionen umsetzt, einmal sehr erstaunt eine einzelne Mark in die Hand nimmt, aber dann werden Ding und Persönlichkeit etwas anderes geworden sein. Und einstweilen besteht noch ein sehr komisches Nebeneinander. Moralisch zum Beispiel betrachtet man sich noch ungefähr so, wie die Physik die Körper vor dreihundert Jahren betrachtet hat; sie ›fallen‹, weil sie die ›Eigenschaft‹ haben, das Hohe zu scheuen, oder werden warm, weil in ihnen ein Fluidum steckt: solche gute oder böse Eigenschaften und Fluida dichten die Moralisten noch den Menschen an. Psychologisch dagegen ist man schon soweit, die Menschen in typische Bündel typischer Allerweltsverhaltensweisen aufzulösen. Soziologisch behandelt man ihn nicht anders. Musikalisch dagegen macht man ihn wieder ganz.«

Aber plötzlich wurde Licht gemacht, die Musik schwang nur noch auf den letzten Tönen hin und her, wie ein Ast, von dem jemand herunter gesprungen ist, die Augen blinzelten, und die Stille vor dem Lossprechen aller trat ein. Clarisse war noch rechtzeitig von Ulrich abgerückt, aber als nun die neuen Gruppen sich gebildet hatten, zog sie ihn in eine Ecke und hatte ihm etwas mitzuteilen.

»Was ist das äußerste Gegenteil davon, daß man gewähren läßt?« fragte sie ihn. Und da Ulrich nichts erwiderte, gab sie selbst die Antwort. »Sich selbst einprägen!« Das Figürchen stand elastisch vor ihm, die Hände auf dem Rücken. Aber sie suchte sich mit den Augen an Ulrichs Augen anzuhalten, denn die Worte, die sie jetzt suchen mußte, waren so schwer, daß sie ihren kleinen Körper ins Wanken brachten. »Sich einkratzen! sage ich. Ich habe das vorhin herausgebracht, während wir nebeneinander gesessen sind. Eindrücke sind gar nichts; sie drücken dich ein! Oder ein Haufen Regenwürmer. Aber wann verstehst du ein Stück Musik? Wenn du es selbst innerlich machst! Und wann verstehst du einen Menschen? Wenn du dich so machst wie er. Siehst du,« sie beschrieb mit der Hand einen wagrecht liegenden spitzen Winkel, der Ulrich unwillkürlich an einen Phallus erinnerte »unser ganzes Leben ist Ausdruck! In der Kunst, in der Liebe, in der Politik suchen wir die aktive Form, die spitzige, ich habe es dir schon gesagt, daß es die der Bärenschnauze ist! Nein, ich habe nicht sagen wollen, daß Eindrücke nichts sind: sie sind die Hälfte; wundervoll steckt das beides in dem Wort Erlösen, das aktive er- und das Lösen –«: sie wurde sehr erregt von der Bemühung sich Ulrich verständlich zu machen.

In diesem Augenblick setzte aber wieder das Musizieren ein, es hatte nur eine kurze Ruhepause gegeben, und Ulrich wandte sich von Clarisse ab. Er sah durch das große Atelierfenster in den Abend hinaus. Das Auge mußte sich erst wieder ans Dunkel gewöhnen. Dann erschienen blaue wandernde Wolken am Himmel. Die Spitzen eines Baums reichten von unten herauf. Häuser standen mit dem Rücken nach oben. »Wie sollten sie sonst?!« dachte Ulrich lächelnd, und doch es gibt Minuten, wo alles verkehrt erscheint. Er gedachte Agathes und war unsagbar traurig. Dieses neue, kleine Wesen Clarisse an seiner Seite trieb mit einer unnatürlichen Geschwindigkeit voran. Das war keine natürliche Entwicklung, darüber war er sich ganz klar. Er hielt sie für verrückt. Von Liebe konnte keine Rede sein. Aber es gefiel ihm die Vorstellung, während ihm die Musik hinter seinem Rücken wie ein Zirkus vorkam, neben einem im Kreise sprengenden Pferd herzulaufen, auf dem Clarisse stand und mit geschwungener Gerte Ajaha schrie.


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