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General von Stumm und Clarisse

 

»Guten Morgen, Gnädigste! Wie geht's denn?« rief der General schon aus der Entfernung.

»Sehr gut« erwiderte Clarisse mit strengem Gesicht und tonlos weicher Stimme.

Stumm war in Uniform, und seine runden Beinchen staken in Stiefeln und in feldfarbenen Reithosen mit roten Generalsstreifen. Im Ministerium gab er jetzt kriegerisch vor, daß er zuweilen vor dem Dienst Morgenritte unternehme; in Wahrheit lustwandelte er aber dann in Clarisses Gesellschaft auf den Feldrainen und Wiesen, die ihr Haus umgaben. Walter schlief um diese Stunde noch oder mußte sich in freudloser Eile um seine Kleider und das Frühstück kümmern, damit er nicht zu spät ins Büro komme; und wenn er durch die Fenster spähte, sah er voll Eifersucht die Sonne auf den Knöpfen und Farben einer Uniform blitzen, neben der gewöhnlich ein rotes oder blaues Sommerkleid vom Wind entfaltet wurde, wie es auf alten Bildern den Engelsgewändern vom Überschwang des Herabfahrens geschieht.

»Wollen wir zur Sprungschanze gehn?« fragte Stumm fröhlich. Die »Sprungschanze« war ein kleiner Steinbruch, zwischen Hügeln, der mit seinem Namen nicht das geringste zu tun hatte. Aber Stumm fand diese von Clarisse gewählte Bezeichnung »scharmant und dynamisch«. »Als ob es Winter wäre!« rief er aus. »Jedesmal lache ich darüber. Und eine Schneeschanze möchten Gnädigste gewiß Sommerhügel nennen?«

Clarisse hatte es gern, daß er sie Gnädigste nannte, und war gleich einverstanden, mit ihm umzukehren, denn als sie sich erst einmal daran gewöhnt hatte, war ihr die Gesellschaft des Generals angenehm. Zunächst, weil er immerhin ein General war; nicht »nichts« wie Ulrich und Meingast und Walter. Sodann, weil sie darauf gekommen war, daß es ein ganz eigentümlicher Zustand sei, immer einen Säbel bei sich zu haben, ein eigentümliches Verhältnis zur Welt, das den großen und furchtbaren Gefühlen entsprach, die sie oft beschäftigten. Ferner schätzte sie den gesprächigen von Stumm, weil sie unbewußt erkannte, daß er sie nicht, wie die anderen, in einer Weise begehrte, durch die sie, wenn sie nicht selbst dazu Lust hatte, entwürdigt wurde. »Es ist etwas seltsam Reines in ihm!« hatte sie darüber zu ihrem eifersüchtigen Gatten gesagt. Aber endlich brauchte sie auch einen Menschen, um sich auszusprechen, denn sie war von lauter Eingebungen bedrängt, die sie bei sich behalten mußte. Und sie fühlte, daß alles, was sie sagte und tat, gut war, wenn ihr der General zuhörte. »Gnädigste haben etwas, was Sie über alle Frauen hinaushebt, die ich näher zu kennen die Ehre hatte« pflegte er zu versichern. »Ich lerne geradezu bei Ihnen Energie, Soldatenmut und Überwindung der österreichischen Nachlässigkeit!« Er lächelte dazu, aber sie merkte nicht, daß er etwas davon nicht meine.

Ihren Hauptgesprächsstoff bildeten aber, wie es auch in der Liebe die Regel ist, ihre Erinnerungen an ihr gemeinsames großes Erlebnis, den Irrenhausbesuch, und so begann denn auch Clarisse diesmal dem General anzuvertraun, daß sie seither noch einmal dort gewesen sei.

»Mit wem denn?« fragte dieser, der es schon begrüßte, einer schrecklichen Aufgabe entronnen zu sein.

»Allein« sagte Clarisse.

»Sapristi!« rief Stumm aus und blieb stehn, obwohl sie erst wenige Schritte gegangen waren. »Wirklich allein? Sie lassen sich aber auch durch nichts gruseln! Und haben Sie noch etwas Besonderes gesehn?« fragte er neugierig.

»Das Mörderhaus« erwiderte Clarisse lächelnd.

Diese Bezeichnung hatte Dr. Friedenthal, der ein guter Regisseur war, gebraucht, als sie über das lautlose Moos unter den Bäumen des alten Parks auf eine Gruppe kleiner Gebäude zugegangen waren, aus denen ihnen merkwürdig regelmäßige fürchterliche Schreie entgegentönten. Und auch Friedenthal hatte gelächelt und hatte Clarisse erzählt, was Clarisse jetzt dem General erzählte, daß jeder Bewohner dieser Häusergruppe mindestens einen Menschen getötet hätte, manchmal aber deren mehrere.

»Und jetzt schreien sie, wo es zu spät ist!« sagte Stumm im Ton vorwurfsvoller Schickung in den Lauf der Welt.

Aber Clarisse würdigte seine Erwiderung nicht. Sie erinnerte sich, daß auch sie gefragt hatte, was die Schreie bedeuteten. Und Friedenthal hatte ihr zur Antwort gegeben, daß es Tobsuchtsanfälle seien; aber ganz leise und vorsichtig, als dürfe man nicht stören. Und zur gleichen Zeit waren auch rings um sie wieder die riesenhaften Wärter aufgetaucht, von denen die Panzertüren geöffnet wurden; und Clarisse wiederholte das, in die Stimmung zurückgeratend, wie ein aufregendes Theaterstück, indem auch sie das Wort »Tobsuchtsanfälle!« leise flüsterte und dem General bedeutsam in die Augen sah.

Sie wandte sich ab und ging einige Schritte voran, so daß Stumm beinahe laufen mußte, um sie einzuholen. Als er wieder an ihrer Seite war, fragte sie ihn, wie er über die neue Malerei denke, und ehe er noch seine Eindrücke sammeln konnte, überraschte sie ihn durch die Mitteilung, daß dieser Malerei ganz merkwürdig eine aus dem Geiste des Irrenhauses geborene Architektur entspreche: »Die Gebäude sind Würfel, und die Kranken wohnen also in ausgehöhlten Betonwürfeln« erläuterte sie. »Da ist ein Mittelgang, und links und rechts sind solche Zellen, und in jeder Zelle ist nichts als ein Mensch und um ihn der Raum. Sogar die Bank, worauf er sitzt, ist mit der Wand aus einem Stück gegossen. Allerdings sind alle Kanten sorgfältig abgerundet, damit er sich nicht wehtun kann« fügte sie genau hinzu, denn sie hatte alles das mit größter Aufmerksamkeit beobachtet.

Sie fand keine Worte für das, was sie eigentlich sagen wollte. Da sie ihr ganzes Leben lang von Kunst umgeben gewesen war und die Sorgen angehört hatte, die man sich um die Kunst macht, war diese Insel verhältnismäßig widerstandsfähig gegen die in ihrem Denken sonst herangewachsenen Veränderungen geblieben; und zumal weil ihre eigene künstlerische Betätigung nicht unmittelbarer Leidenschaft entsprang, sondern bloß ein Anhängsel ihres Ehrgeizes und eine Folge der Verhältnisse war, in denen sie lebte, hatte sich auf diesem Gebiet ihr Urteil trotz der Erkrankung ihrer Person, die in der letzten Zeit neue Fortschritte gemacht hatte, nicht mehr verschoben, als es in der Entwicklung der Kunst ohnehin von Zeit zu Zeit üblich ist. Darum konnte sie auch mit einer Vorstellung wie »Zweckarchitektur« oder »Aus der Aufgabe eines Irrenhauses hervorgegangene Bauweise« sehr wohl umgehen, und nur die Bevölkerung dieser gegenwartsnahen Wohnbauten mit Irren überraschte sie als ein neuer Begriff und kitzelte sie wie anbrennendes Räucherwerk in der Nase.

Aber Stumm von Bordwehr unterbrach sie mit der bescheidenen Bemerkung, er habe sich immer eingebildet, daß Tobsuchtszellen gepolstert sein müßten.

Clarisse wurde unsicher, denn vielleicht hatten die Zellen aus hellem Gummi bestanden, und so schnitt sie den Einwand ab. »Früher vielleicht,« sagte sie entschlossen »in der Zeit der Polstermöbel und Quastenvorhänge mögen auch die Tobsuchtszellen gepolstert gewesen sein. Aber heute, wo man sachlich und räumlich denkt, ist das ganz unmöglich. Die geistige Entwicklung macht eben auch vor Irrenhäusern nicht halt!«

Stumm wollte aber lieber etwas von den Tobsüchtigen erfahren, als sich bei der Frage aufzuhalten, welche Zusammenhänge zwischen ihnen und der Malerei und Architektur beständen, und so erwiderte er: »Hochinteressant! Aber jetzt bin ich wirklich gespannt, wie es in diesen modernen Räumen zugegangen ist?!«

»Sie werden überrascht sein« erzählte Clarisse: »So still wie auf einem Friedhof!«

»Interessant! Ich erinnere mich, daß es auch auf dem Hof mit den Mördern, die wir gemeinsam gesehen haben, einige Augenblicke so still gewesen ist!«

»Diesmal hat aber nur ein einziger Mann einen gestreiften Leinenkittel angehabt« fuhr Clarisse fort. »Ein schwacher, kleiner alter Mann mit blinzelnden Augen.« Und plötzlich lachte sie laut auf. »Er hat geträumt, daß ihn seine Frau betrügt, und hat sie nach dem Aufwachen am Morgen mit dem Stiefelknecht erschlagen!«

Auch Stumm lachte. »Gleich als er aufgewacht ist mit dem Stiefelknecht? Das ist ausgezeichnet!« pflichtete er bei. »Der hat es offenbar eilig gehabt! Und die andern? Warum sagen Sie, daß gerade nur er einen Kittel angehabt hat?«

»Weil die andern schwarz waren. Sie sind stiller als die Toten gewesen« erwiderte Clarisse, von Ernst ergriffen.

»Und scheinen überhaupt keine lustigen Menschen zu sein!« meinte Stumm.

»Oh, erinnern Sie sich an den Nußknacker!« wandte Clarisse ein.

Der General wußte im Augenblick nicht, wen sie meine.

»An den mit den Nußknackerzähnen, der zu mir gesagt hat, daß Wien eine schöne Stadt sei!«

»Und was haben die Diesmaligen zu Ihnen gesagt?« fragte der General lächelnd.

»Ich habe doch schon erzählt, daß sie stumm waren!«

»Aber Gnädigste,« entschuldigte sich Stumm »das nennt man doch nicht Tobsucht!?«

»Sie haben eben erst auf ihre Anfälle gewartet!«

»Wieso gewartet?! Es ist sonderbar, daß man auf einen Tobsuchtsanfall wartet wie auf einen inspizierenden Korpskommandanten. Und Sie sagen noch dazu, daß sie schwarz angezogen waren: also sozusagen eine Paradeadjustierung? Ich fürchte, Gnädigste, daß Sie da in diesem Augenblick falsch beobachtet haben müssen! Ich bitte untertänigst um Entschuldigung, aber ich pflege mir solche Dinge immer ganz genau vorzustellen!«

Clarisse, der es gar nicht unangenehm war, daß Stumm auf Genauigkeit bestand, denn irgend etwas beschwerte auch sie durch eine Unverständlichkeit, gab zur Antwort: »Dr. Friedenthal hat es mir so erklärt, und ich kann Ihnen nur wiederholen, General, es war so. Drei Herren haben dort gewartet; und alle drei haben schwarze Anzüge angehabt, und ihre Haare und Bärte sind schwarz gewesen. Der eine war ein Arzt, der andere ein Rechtsanwalt, und der dritte ein reicher Kaufmann. Sie haben ausgesehn wie politische Märtyrer, die erschossen werden sollen.«

»Warum haben sie so ausgesehn?« fragte der ungläubige Stumm.

»Weil sie weder eine Krawatte noch einen Kragen umgebunden hatten.«

»Vielleicht waren die Herren gerade erst eingeliefert worden?«

»Aber nein, Friedenthal hat doch gesagt, daß sie schon lange in der Anstalt sind!« versicherte Clarisse, sich ereifernd. »Und trotzdem haben sie so ausgesehn, als könnten sie jeden Augenblick aufstehn und ins Büro gehn oder zu einem Patienten. Das ist ja gerade so sonderbar gewesen!«

»Nun, mir kann es ja einerlei sein, gnädige Frau« erwiderte Stumm einlenkend, und doch mit einer Großartigkeit, die neu an ihm war, wobei er seine Stiefel unternehmend mit dem Reitstöckchen klopfte. »Ich habe schon Narren in Uniform gesehen und halte mehr Leute für verrückt, als man mir zutraut. Aber gerade ›Toben‹ habe ich mir – lebhafter vorgestellt, auch wenn ich einräume, daß man von niemand verlangen kann, daß er ununterbrochen tobt. Und daß gleich alle drei so still gewesen sind –: es tut mir leid, daß ich nicht selbst dabei gewesen bin, denn diesen Doktor Friedenthal halte ich schon für fähig, daß er einem etwas vorschwindelt!«

»Sie haben, wenn er gesprochen hat, ganz stumm aufgehorcht« berichtete Clarisse. »Man hätte überhaupt nicht bemerkt, daß sie krank sind, wenn man sie nicht gerade dort angetroffen hätte. Und denken Sie, als wir weggegangen sind, ist der, der Arzt war, aufgestanden und hat mir mit einer wirklich ritterlichen Gebärde den Vortritt angeboten und hat zu Friedenthal gesagt: ›Doktor, Sie bringen so oft Besuch. Immer führen Sie Gäste herum. Heute komme ich auch einmal mit.‹«

»Und da haben sich natürlich diese Fleischerhunde, die Lackel von Aufsehern sofort –!« begann der General heftig, wenn er auch vielleicht mehr von der Tragödin als von der Tragödie gerührt war.

»Nein, man hat ihn nicht angepackt« unterbrach Clarisse. »Man hat ihn wirklich mit Respekt daran gehindert, mir zu folgen. Und ich versichere Ihnen, gerade auf solche höfliche und schweigende Art ist alles erschütternd gewesen. So wie mit kostbarem schweren Tuch verhangen ist dort die Welt, und die Worte, die man sagen möchte, haben keinen Klang. Man kann sie schwer verstehn, diese Menschen! Man müßte selbst lange Zeit im Irrenhaus leben, um in ihre Welt eindringen zu können!«

»Eine köstliche Idee! lieber Gott!« erwiderte Stumm schnell. »Gnädigste wissen, daß ich Ihnen ein ziemliches Verständnis für den Wert einer Auflockerung des bürgerlichen Geistes durch Mord und Krankheit verdanke: aber gewisse Schranken müssen eingehalten werden!«

Sie waren unter diesen Worten an den Hügel herangekommen, dem sie zustrebten, und der General schöpfte Atem, ehe er den pfadlosen Anstieg unternahm. Clarisse musterte ihn mit einem Ausdruck dankbarer Sorgfalt und etwas zärtlichem Spott, was an ihr selten vorkam. »Einer hat doch getobt!« teilte sie ihm schelmisch mit, wie man ein bis dahin verborgen gehaltenes Geschenk hervorholt.

»Also, also! Nun sehen Sie!« rief Stumm aus, und etwas anderes fiel ihm nicht ein. Aber sein Mund blieb offen und suchte ohne seinen Geist nach einem Wort, und plötzlich klopfte Stumm wieder mit dem Stöckchen gegen die Stiefel. »Aber natürlich, der Schrei!« fügte er hinzu. »Gnädige Frau haben doch gleich im Anfang von Schreien gesprochen, die man gehört hat, und das hat mir bei der Totenstille gefehlt! Aber Sie erzählen so großartig, daß man alles vergißt!«

»Wie wir vor der Türe gestanden sind, aus der bald ein furchtbarer Schrei, bald ein eigentümliches Ächzen gedrungen ist,« begann Clarisse »hat mich Friedenthal noch einmal gefragt, ob ich wirklich eintreten wolle. Ich habe vor Aufregung kaum antworten können, aber die Wärter haben sich nicht darum gekümmert, sondern haben mit dem Aufschließen begonnen. Sie können sich denken, Herr General, daß ich mich in diesem Augenblick heftig gefürchtet habe, denn schließlich bin ich ja nur eine Frau. Ich hatte das Gefühl: wenn die Tür aufgeht, wird sich der Tobsüchtige auf mich stürzen –!«

»Man hört ja auch immer, daß solche Geisteskranke furchtbare Kräfte besitzen sollen!« half der General mit.

»Ja; aber als die Tür offen war, und wir sind alle auf der Schwelle gestanden: da hat er sich überhaupt nicht um uns gekümmert!«

»Nicht gekümmert?!« fragte Stumm.

»Nicht im geringsten! Er war fast so groß wie Ulrich und vielleicht so alt wie ich. Er ist in der Mitte der Zelle gestanden, mit vorgeneigtem Kopf und auf auseinandergespreizten Beinen. So!« Clarisse machte es nach.

»Auch schwarz angezogen gewesen?« fragte der General.

»Nein, ganz nackt.«

(Der General sieht Clarisse von oben bis unten an.)

»In seinem braunblonden Jungmännerbart ist dicker Speichelschaum gesessen, die Muskeln sind aus seiner Magerkeit förmlich hervorgetreten, er war nackt, und seine Haare, ich meine bestimmte Haare –«

»Gnädigste erzählen so plastisch, daß man alles vor sich sieht!« schaltete Stumm beruhigend zum Zeichen ein, daß er verstehe.

»Die sind glanzlos hell gewesen, unverschämt hell; er hat uns damit fixiert wie mit einem Auge, das einen ansieht und zugleich nichts von einem bemerkt!«

(Diese Intimität muß dem General doch zu Kopf steigen.)

Clarisse war oben angelangt, der General saß zu ihren Füßen. Man sah von der »Sprungschanze« auf abfallende Wiesen und Weingärten, auf kleine und große Häuser, die ohne Ordnung von unten ein Stück den Hang emporzogen, und an einer Stelle entwich der Blick in die reizvolle Tiefe des Hügellands, das weit hinten an hohe Berge grenzte. Wenn man aber, so wie Stumm, auf einem niedrigen Baumstumpf saß, sah man bloß irgendwelche Waldbuckel, die sich gegen den Himmel krümmten, weiße Wolken in den bekannten, dick dahinschwimmenden Ballen und Clarisse. Diese stand mit gespreizten Beinen vor dem General und machte ihm den Tobsuchtsanfall vor. Sie hielt einen Arm rechtwinklig abgebogen und steif an den Körper geschlossen, hatte den Kopf vorgeneigt und führte mit dem Oberkörper in regelmäßiger Folge eine flach vorwärtskreisende, ruckartige Bewegung aus, wobei sie einen Finger nach dem andern abbog, als ob sie zählte. Und jede dieser Bewegungen ließ sie von einem keuchend ausgestoßenen Schrei begleitet sein, dessen Stärke sie aber rücksichtsvoll dämpfte. »Das Eigentliche kann man aber doch nicht nachmachen« erläuterte sie. »Das ist die ungeheuerliche Anstrengung bei jedem Wurf, die einen Eindruck macht, als müßte der Mensch jedesmal seinen Leib aus einem Schraubstock reißen...«

»Aber das ist ja Mora!« rief der General aus. »Kennen Sie nicht dieses Glücksspiel? Wer die richtige Fingerzahl errät, gewinnt. Aber Sie dürfen nicht einen Finger nach dem andern abbiegen, sondern müssen so viele zeigen, wie Ihnen gerade einfällt! An der italienischen Grenze spielen es alle unsere Bauern.«

»Es ist wirklich Mora« sagte Clarisse, die das schon auf Reisen gesehen hatte. »Und er hat es auch so gemacht, wie Sie es beschreiben!«

»Also Mora« wiederholte Stumm befriedigt. »Aber wie diese Irrsinnigen nur auf ihre Ideen kommen, möchte ich wissen!« fügte er hinzu, und damit begann erst der anstrengende Teil der Unterredung.

Clarisse setzte sich neben den General auf den Baumstumpf, ein wenig abgerückt von ihm, so daß sie ihn, wenn es sein mußte, »ins Auge fassen« konnte, wobei er jedesmal ein lächerlich schreckliches Gefühl hatte, als ob ihn ein Hirschkäfer zwicke. Sie war bereit, ihm das Gefühlsleben der Irren zu erklären, so wie sie es selbst durch vieles Nachdenken verstand. Einen der wichtigsten Plätze nahm darin die Vorstellung ein – mit der sie alles auf sich bezog –, daß die sogenannten Geisteskranken eine Art genialer Wesen seien, die man verschwinden lasse und um ihr Recht bringe, wogegen sie sich aus irgendwelchen Gründen, die Clarisse noch nicht herausgefunden hatte, nicht wehren könnten. Es war nur natürlich, daß der General dieser Auffassung nicht beipflichten konnte, und wunderte weder sie noch ihn.

»Ich will schon zugeben, Gnädigste, daß so ein Narr einmal etwas erraten kann, was unsereiner nicht weiß« verwahrte er sich. »Derartig stellt man sie sich ja auch vor, sie haben so einen gewissen Nimbus; aber daß sie geradezu mehr denken sollten als wir Gesunde: nein, da darf ich wohl bitten!«

Clarisse beharrte jedoch ernsthaft dabei, daß die geistig Gesunden weniger dächten als die geistig Nichtgesunden. »Sind Sie schon einmal vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, General?« fragte sie Stumm, und das mußte er bejahen. »Sind Sie denn auch ein andermal umgekehrt, vom Tausendsten ins Hundertste gekommen?« fragte sie weiter, und das wollte Stumm, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, was es heiße, natürlich noch weniger verneinen, denn es ist ja der Stolz des Mannes, sich sogar bis an das Eine durchzudenken, das man die Wahrheit heißt.

Aber Clarisse folgerte: »Sehen Sie, und das ist nichts als Feigheit, dieses immer ordentliche und überlegte Nachdenken! Die Männer werden es wegen ihrer Feigheit nie zu etwas bringen!«

»Das habe ich noch nie gehört!« versicherte Stumm ablehnend.

Clarisse rückte mit den Augen an ihn heran. »Sicher hat Ihnen schon eine Frau zugeflüstert: Du Gott-Mensch?!«

Stumm erinnerte sich nicht daran, aber das wollte er nicht zugeben, darum vollführte er bloß eine Gebärde, die sowohl heißen konnte: leider nein, als auch: das hört man bis zum Überdruß! Und in Worten antwortete er: »Manche Frauen sind ja sehr exaltiert! Aber wie soll das eigentlich mit unserem Gespräch zusammenhängen? So etwas ist einfach ein übertriebenes Kompliment!«

»Sie erinnern sich an den Maler, dessen Zeichnungen uns der Doktor gezeigt hat?« fragte Clarisse.

»Ja, natürlich. Das war ganz hervorragend, was der gemalt hat!«

»Er war unzufrieden mit Friedenthal, weil dieser von Kunst nichts versteht. ›Zeig es diesem Herrn!‹ hat er gesagt und dabei auf mich gewiesen« fuhr Clarisse fort und faßte den General plötzlich wieder ins Auge. »Glauben Sie denn, daß es auch bloß ein Kompliment gewesen sei, daß er mich als einen Mann angesprochen hat?!«

»Das ist eben so eine von diesen Ideen« meinte Stumm. »Darüber habe ich wirklich nicht nachgedacht. Ich möchte vielleicht annehmen, daß es das ist, was man eine Assoziation nennt, oder eine Analogie, oder so etwas. Er hat halt irgendeine Ursache gehabt, Sie für einen Mann zu halten!«

Obwohl Stumm überzeugt war, Clarisse mit diesen letzten Worten etwas erklärt zu haben, wurde er doch durch die Wärme überrascht, mit der sie ausrief: »Ausgezeichnet! Dann brauche ich Ihnen ja bloß zu sagen, daß es die gleiche Ursache hat, wenn in der Liebe von Gott-Mensch geflüstert wird! Die Welt ist nämlich voll Doppelwesen!«

Man darf natürlich nicht glauben, daß es Stumm angenehm war, wenn Clarisse so sprach und dabei aus den zusammengekniffenen Augen einen gespaltenen Blick hervorschoß; er überlegte dann vielmehr, ob es nicht doch richtiger wäre, solche Gespräche nicht in Uniform zu führen und zum nächsten Spaziergang in Zivil zu erscheinen. Aber anderseits hatte der gute Stumm, der Clarisse mit großer Vorsicht, wenn nicht verheimlichtem Schrecken, bewunderte, den ehrgeizigen Wunsch, diese so leidenschaftliche junge Frau zu verstehn und von ihr verstanden zu werden, weshalb er ihrer Behauptung rasch eine gute Seite abgewann. Er legte sie sich so zurecht, daß am Menschen und in der Welt eben das meiste zweideutig sei, was sich recht gut seinem neuen Pessimismus anschloß, und beruhigte sich des weiteren mit der Annahme, daß denn auch Gott-Mensch und Mann-Frau nicht anders gemeint sein werde, als was man von jedem behaupten könne, daß er ein bissel ein edler Mensch und ein bissel ein Schuft sei. Immerhin zog er es vor, das Gespräch zu der natürlichen Auffassung zurückzuwenden, und begann seine Kenntnisse von Analogien, Vergleichen, symbolischer Ausdrucksweise und ähnlichem zu entwickeln.

»Verzeihen und erlauben gnädige Frau, daß ich für einen Augenblick Ihre Anregung aufnehme und mich in den Gedanken versetze, daß Sie wirklich ein Mann wären,« so fing der vom Schutzengel der Intuition Beratene das an und fuhr in der gleichen Weise fort: »denn dann könnten Sie sich vorstellen, was es bedeutete, wenn eine Dame einen dichten Schleier trägt und nur ganz wenig von ihrem Gesicht zeigt; oder, was beinahe das gleiche ist, wenn sich eine Balltoilette beim Tanzen ein wenig vom Boden hebt und den Beinansatz zeigt: So ist es ja noch vor ein paar Jahren gewesen, ungefähr bis zu meiner Majorszeit; und solche Andeutungen treffen einen nämlich viel stärker, ich möchte beinahe sagen: leidenschaftlicher, als wenn man die Dame bis zum Knie sieht oder sozusagen ohne Hindernisse – ja, gerade Hindernisse ist das richtige Wort! Denn so möchte ich auch das beschreiben, worin eine Analogie oder ein Vergleich oder ein Symbol besteht: sie bereiten dem Denken Hindernisse und erregen es dadurch stärker, als es gewöhnlich der Fall ist. Ich glaube, das meinen Sie, wenn Sie sagen, daß das gewöhnliche Nachdenken etwas Feiges hat!«

Aber Clarisse meinte das ganz und gar nicht. »Der Mensch hat die Pflicht, über die bloßen Andeutungen hinauszugelangen!« forderte sie.

»Überaus merkwürdig!« rief Stumm nun aus, ehrlich berührt. »Der alte Graf Leinsdorf sagt ganz das gleiche wie Sie! Ich habe mich erst unlängst mit dem erlauchtigen Herrn auf das eingehendste über Gleichnisse und Symbole unterhalten, und da hat er in Bezug auf die Patriotische Aktion genau das gleiche geäußert wie gnädige Frau, daß wir alle die Verpflichtung hätten, über den Zustand des Gleichnisses hinaus zur Wirklichkeit zu gelangen!«

»Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben und ihn darin gebeten, sich für die Freilassung des Moosbrugger einzusetzen« erzählte Clarisse.

»Und was hat er Ihnen geantwortet? Das könnte er nämlich gar nicht; ich meine: selbst wenn er könnte, könnte er es nicht, weil er ein viel zu konservativer und legaler Herr ist!«

»Sie könnten es aber?« fragte Clarisse.

»Aber nein; was im Irrenhaus ist, soll schon dort bleiben. Da mag es noch so vieldeutig sein. Wissen Sie, Vorsicht ist die Mutter der Weisheit!«

»Und was ist das?« fragte Clarisse lächelnd, denn sie hatte am Portepee des Generals den eingewebten Doppeladler entdeckt, das Wahrzeichen der kaiserlichen und königlichen Monarchie. »Was ist dieser Doppeladler?«

»Ich verstehe nicht. Was soll der Doppeladler sein? Es ist eben der Doppeladler!«

»Aber was ist ein Doppeladler? Ein Adler mit zwei Köpfen? In der Welt fliegen doch nur einköpfige Adler herum?! Ich mache Sie also darauf aufmerksam, daß Sie an Ihrem Säbel das Symbol eines Doppelwesens tragen! Ich wiederhole Ihnen, Herr General, die bezaubernden Dinge ruhen wahrscheinlich alle auf uraltem Irrsinn!«

»Pst! Das darf ich nicht anhören!« verwahrte sich der General lächelnd...

 

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