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Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber

 

Spricht einer von der zweiseitigen und unordentlichen Beschaffenheit des menschlichen Wesens, setzt es voraus, daß er meint, sich eine bessere vorstellen zu können.

Ein gläubiger Mensch kann das tun, und Ulrich war keiner. Im Gegenteil: Glaube stand bei ihm im Verdacht einer Neigung zum Vorschnellen, und ob der Inhalt dieses geistigen Verhaltens ein irdischer Einfall, ob er eine überirdische Idee war, schon als seelische Fortbewegungsart erinnerte es ihn an die ohnmächtigen Flugversuche eines Haushuhns. Nur Agathe bewirkte darin eine Ausnahme; an ihr behauptete er zu beneiden, daß sie voreilig und mit Eifer glauben konnte, und empfand die Weiblichkeit ihres Mangels manchmal fast so körperlich wie einen der anderen Geschlechtsunterschiede, von denen zu wissen eine selige Verblendung erregt. Er verzieh ihr diese Unberechenbarkeit selbst dann, wenn sie ihm eigentlich unverzeihlich erschien, so in der Verbindung mit der lächerlichen Person des Professors Lindner, von der ihm seine Schwester vieles verschwieg. Er spürte neben sich die Verschwiegenheit ihrer Körperwärme und erinnerte sich an eine leidenschaftliche Behauptung, die ungefähr den Sinn hatte, daß kein Mensch sich selbst schön oder häßlich, gut oder schlecht, bedeutend oder geisttötend sei, sondern daß sein Wert immer davon abhänge, daß man an ihn glaube oder an ihm zweifle. Das war eine maßlose Bemerkung, voll Großmütigkeit, aber auch von Ungenauigkeit zersetzt, die allerhand Rückschlüsse zuließ; und die versteckte Frage, ob sie nicht am Ende gar auf diesen Ziegenbock der Gläubigkeit, diesen Mann Lindner, zurückzuführen sei, von dem er so gut wie nichts als den Schatten kannte, ließ in dem schnellen unterirdischen Fluß seiner Gedanken eifersüchtig eine Welle aufschäumen. Als Ulrich aber darüber nachdachte, wußte er sich nicht zu entsinnen, ob überhaupt Agathe diese Bemerkung getan hätte oder nicht gar er selbst, und eines erschien ihm ebenso möglich wie das andere. Da zerfloß die Eifersuchtswelle in zärtlichen Schaum, wegen dieser Verwechselbarkeit über allen seelischen und körperlichen Unterschieden, und er hätte nun aussprechen mögen, was sein eigentlicher Vorbehalt gegen jede Glaubensbereitschaft war. Etwas zu glauben und an etwas zu glauben, sind seelische Zustände, die ihre Kraft einem anderen Zustand entnehmen und für sich verwenden oder auch verschwenden; aber dieser andere Zustand war nicht nur, wie es am nächsten lag, der feste des Wissens, sondern konnte, im Gegenteil, auch ein noch weniger stofflicher Zustand als das Glauben selbst sein: Und daß gerade in diese Richtung alles führe, was ihn und seine Schwester bewege, drängte Ulrich zur Aussprache; aber seine Gedanken waren noch weit von der Aussicht entfernt, sich dahin zu verbinden, und darum sprach er sich nicht aus, sondern wechselte lieber den Gegenstand, ehe er es tat.

Auch ein genialer Mensch trüge ja ein Maß in sich, das ihn zu dem Urteil ermächtigen könnte, es gehe in der Welt auf schier unerklärliche Weise alles so zurück wie vorwärts; aber wer ist ein solcher? Ulrich hatte ursprünglich nicht das mindeste Verlangen, darüber nachzudenken; aber die Frage hielt ihn fest, er wußte nicht warum.

»Man muß zwischen Genie als Art und als persönlichem Superlativ trennen« begann er und hatte noch nicht den rechten Ausdruck gefunden. »Manchmal habe ich früher gedacht, daß es, als die einzigen wichtigen Menschenrassen, überhaupt nur die des Genies und die des Dummkopfs gebe, die sich nicht gut vermischen. Die Menschen der Genieart oder die Genialen müssen aber nicht schon ein Genie sein. Dieses, das bestaunte Genie, entsteht so recht erst an der Börse der Eitelkeiten; in seinen Glanz strahlen die Spiegel der umgebenden Dummheit; es ist immer mit etwas verbunden, das ihm noch ein Ansehen dazu gibt, wie Geld oder Auszeichnungen: mag sein Verdienst also wie immer groß sein, ist seine Erscheinung doch eigentlich die ausgestopfte Genialität –«

Agathe unterbrach ihn, neugierig auf das andere: »Gut, aber die Genialität selbst?«

»Wenn du aus dem ausgestopften Popanz herausziehst, was bloß Stroh ist, müßte sie wohl übrigbleiben« sagte Ulrich, besann sich aber und fügte mißtrauisch hinzu: »Ich werde nie recht wissen, was genial ist, und weiß auch nicht, wer das entscheiden sollte!«

»Ein Senat der Wissenden!« sagte Agathe lächelnd. Sie kannte ihres Bruders oft recht ideokratische Gesinnung, mit der er sie in manchem Gespräch geplagt hatte, und erinnerte ihn durch ihre Worte etwas scheinheilig an die berühmte, aber in zweitausend Jahren nicht befolgte Forderung der Philosophie, daß die Leitung der Welt einer Akademie der Weisesten anvertraut werden sollte.

Ulrich nickte. »Das schreibt sich schon von Platon her. Und hätte es verwirklicht werden können, so wäre auf ihn an der Spitze des regierenden Geistes wahrscheinlich ein Platoniker gefolgt, und das so lange, bis eines Tages – Gott weiß warum – die Plotiniker für die wahren Philosophen gegolten hätten. So verhält es sich auch mit dem, was für genial gilt. Und was hätten die Plotiniker mit den Platonikern angefangen, und vorher diese mit ihnen, wenn nicht das, was jede Wahrheit mit dem Irrtum tut: ihn unerbittlich ausmerzen? Gott hat vorsichtig gehandelt, als er anordnete, daß aus einem Elefanten wieder nur ein Elefant hervorgeht, und aus einer Katze eine Katze: aus einem Philosophen geht aber ein Nachbeter und ein Gegenphilosoph hervor!«

»Also müßte Gott selbst entscheiden, was genial ist!« rief Agathe ungeduldig aus, nicht ohne einen leichten stolzen Graus bei dieser Vorstellung zu empfinden und sich deren voreiliger Heftigkeit bewußt zu sein.

»Ich fürchte, daß es ihn langweilt!« sagte Ulrich. »Wenigstens den christlichen Gott. Er ist erpicht auf die Herzen, ohne zu achten, ob viel oder wenig Verstand bei ihnen ist. Übrigens glaube ich, daß die kirchliche Geringschätzung der bürgerlichen Genialität manches für sich hat!«

Agathe wartete etwas; dann erwiderte sie einfach: »Du hast früher anders gesprochen!«

»Ich könnte dir antworten, daß der heidnische Glaube, alle den Menschen bewegenden Ideen hätten zuvor im göttlichen Geiste geruht, sehr schön gewesen sein muß; aber daß es schwer ist, an göttliche Ausströmungen zu denken, seit sich unter dem, was uns viel bedeutet, Ideen befinden, die Schießbaumwolle oder Pneumatik heißen« entgegnete Ulrich auf der Stelle. Dann schien er aber zu zaudern und des scherzenden Tons zu viel zu haben; und plötzlich gestand er seiner Schwester zu, was sie wissen wollte. Er sagte: »Ich habe immer, und fast von Natur, daran geglaubt, daß der Geist, weil man seine Macht in sich fühle, auch dazu verpflichte, ihm in der Welt Geltung zu verschaffen. Ich habe geglaubt, daß es sich nur lohne, bedeutend zu leben, und habe mir gewünscht, niemals etwas Gleichgültiges zu tun. Und was für die allgemeine Gesittung daraus folgt, mag hochmütig verzerrt aussehen, aber es ist unvermeidlich dies: Nur das Geniale ist erträglich, und die Durchschnittsmenschen müssen gepreßt werden, damit sie es hervorbringen oder gelten lassen! Mit tausend anderem vermischt, gehört etwas davon sogar zur allgemeinen Überzeugung: Es ist also wirklich beschämend für mich, dir die Antwort geben zu müssen, daß ich nie zu sagen gewußt hätte, was genial ist, und es auch jetzt nicht weiß, obgleich ich vor einigen Augenblicken erst unbefangen angedeutet habe, daß ich diese Eigenschaft weniger einem besonderen Menschen als einer menschlichen Artung zuschreiben möchte.«

Er schien es nicht so schlimm zu meinen, und Agathe hielt sorgsam das Gespräch im Gang, als er schwieg. »Kommt es dir nicht selbst leicht über die Lippen, von einem genialen Akrobaten zu sprechen?« fragte sie. »Es scheint also, daß heute gewöhnlich das Schwierige, Ungewöhnliche und besonders Gelungene zu dem Begriff gehört.«

»Bei den Sängern hat es angefangen; und wenn einer, der höher singt als die übrigen, genial heißt, warum soll es nicht einer tun, der höher springt! Schließlich kommt man aber so auch zu der Genialität eines Vorstehhunds; und Männer, die sich von nichts einschüchtern lassen, halten sie sogar für gediegener als die des Mannes, der sich die Stimmbänder aus dem Hals ziehen kann. Offenbar ist da ein zweifacher Sprachgebrauch im unklaren; außer der Genialität des Gelingens, die sich auf alles zu erstrecken vermag, so daß auch der dümmste Witz ›in seiner Art‹ genial sein kann, gibt es auch noch die Höhe, Würde oder Bedeutung dessen, was gelingt, also irgendeinen Genialitätsrang.« – Ein heiterer Ausdruck hatte den Ernst in Ulrichs Augen verdrängt, so daß Agathe nach der Fortsetzung fragte, die er zu verschweigen scheine.

»Mir fällt ein, daß ich die Frage Genie einmal mit unserem Freund Stumm erörtert habe« erzählte Ulrich. »Und er hat auf der Nützlichkeit bestanden, daß man einen militärischen und einen zivilen Begriff Genie unterscheide. Damit du ihn aber verstehst, muß ich dir vielleicht etwas aus der Kaiserlich und Königlichen Militärwelt erklären. Die Genietruppe – allein als Wortverbindung schon wunderbar –« fuhr er fort »dient zu Befestigungs- und ähnlichen Arbeiten und besteht aus Soldaten und Unteroffizieren und aus Offizieren, die keine besondere Zukunft haben, es sei denn, daß sie einen ›Höheren Genie-Kurs‹ bestehen, wonach sie in den ›Genie-Stab‹ gelangen. ›Über dem Genie steht beim Militär also der Geniestäbler‹ sagt Stumm von Bordwehr. ›Und ganz darüber natürlich noch der Generalstab, weil der überhaupt das Gescheiteste ist, was Gott getan hat.‹ So hat er mich, wenngleich er sich noch immer mit Genuß als Antimilitaristen bezeichnet, darauf zu bringen gesucht, daß der rechte Gebrauch von Genie schließlich noch beim Militär zu finden sein wird und gestaffelt ist, während allem Zivilgerede davon gerade eine solche Ordnung bedauerlicherweise mangle. Und wie er alles so verdreht, daß man der Wahrheit ordentlich auf den Grund sieht, täten wir gar nicht schlecht daran, uns an seinen Leitfaden zu halten.«

Was Ulrich über die ungleichen Begriffe der Genialität dem folgen ließ, hatte es aber weniger auf die Höchststufe Genie abgesehen als auf die Grundform der Genialität oder des Bedeutenden, deren Zweifelhaftigkeit ihm verwirrender und schmerzlicher vorkam. Es schien ihm leichter zu sein, ein Urteil über das zu gewinnen, was überaus bedeutend sei, als über das Bedeutende schlechthin. Jenes ist bloß ein Schritt über etwas hinaus, dessen Wert schon unbestritten ist, also etwas, das immer in einer mehr oder weniger herkömmlichen Ordnung geistiger Werte begründet ist, dieses hingegen verlangt, den ersten Schritt in einen unbestimmten und unendlichen Raum zu tun, und das bietet fast keine Aussicht, daß sich triftig unterscheiden lasse, was bedeutend ist und was nicht. So ist es natürlich, daß sich der Sprachgebrauch lieber an die Genialität des Grades und Gelingens gehalten hat als an den Genialitätswert dessen, was gelingt; doch ist es auch verständlich, daß die entstandene Gewohnheit, jede schwer nachahmliche Geschicklichkeit genial zu nennen, mit einem schlechten Gewissen verbunden ist, und natürlich keinem anderen als dem einer eingegangenen Aufgabe und einer vergessenen Pflicht. Die Geschwister hatten scherzhaft-zufällig daran Anstoß genommen, sprachen aber ernst weiter.

»Am deutlichsten wird das,« sagte Ulrich zu seiner Schwester »wenn man, was fast nur durch Zufall geschieht, eines wenig beachteten äußeren Zeichens inne wird, nämlich der Gepflogenheit, daß wir die Worte Genie und genial verschieden aussprechen, und nicht so, als ob das zweite vom ersten käme.«

Wie es jedem ergeht, der auf eine unbeachtete Gewohnheit aufmerksam gemacht wird, verwunderte sich Agathe ein wenig.

»Ich habe damals, nach dem Gespräch mit Stumm, im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen« entschuldigte sich Ulrich. »Das Militärwort Genie, der Geniesoldat also, ist natürlich, wie es viele militärischen Ausdrücke getan haben, aus dem Französischen zu uns gekommen. Die Ingenieurkunst heißt dort Le génie; und damit hängt zusammen Geniekorps, Arme du génie, Ecole du génie, aber auch das englische Engine, das französische Engin und das italienische Ingegno macchina, das kunstvolle Werkzeug; die ganze Sippschaft aber geht auf das spätlateinische Genium und Ingenium zurück, Wörter, deren hartes G auf der Wanderung zu einem weichen Sch wird, und deren Grundbedeutung die Geschicklichkeit und das Können ist –: eine Zusammenfassung ähnlich der etwas alterssteifen Redensart ›die Handwerke und Künste‹, mit der uns amtliche Inschriften und Schriften heute noch zuweilen beglücken. Von da ginge ein verrotteter Weg also auch zum genialen Fußballspieler, ja sogar zum genialen Stöberhund oder Sprungpferd, aber es wäre folgerichtig, dieses Genial so wie jenes Genie auszusprechen. Denn es gibt ein zweites Genie und Genial, deren Bedeutung ebenfalls in allen Sprachen anzutreffen ist und nicht auf Genium zurückgeht, sondern auf Genius, auf das Mehr-als-Menschliche, oder wenigstens in Ehrfurcht auf Geist und Gemüt als das menschlich Höchste. Ich brauche wohl kaum noch zu sagen, daß diese beiden Bedeutungen allenthalben heillos verwechselt und vermischt worden sind, schon seit Jahrhunderten, und in der Sprache wie im Leben, und nicht nur im Deutschen; aber bezeichnendermaßen da am meisten, so daß es besonders eine deutsche Angelegenheit zu nennen ist, das Geniale und das Ingeniöse nicht auseinanderzuhalten. Überdies hat sie im Deutschen eine Geschichte, die mir an einer Stelle sehr nahegeht.«

Agathe war dieser ausgedehnten Erklärung gefolgt, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, ein wenig mißtrauisch und bereit, sich zu langweilen, aber auf eine Wendung wartend, die von dieser Unsicherheit befreit. »Möchtest du mich für einen Sprachnörgler halten, wenn ich dir vorschlüge, daß wir zwei fortab das Wort ›genialisch‹ wieder in Gebrauch nehmen sollten?« fragte Ulrich.

Unwillkürlich deuteten ein Lächeln und eine Kopfbewegung seiner Schwester ihr Widerstreben gegen das veraltete Wort an, das ein Zeitgenosse von theatralisch, infernalisch, physikalisch und moralisch ist, aber mit sentimentalisch, idealisch, kolossalisch, kollegialisch und anderen aus dem Gebrauch gekommen ist und dem nun ein Geruch von alten Truhen und Trachten anhaftet.

»Es ist ein veraltetes Wort,« gab Ulrich zu »aber es war ein guter Augenblick, da es gebraucht wurde! Und wie gesagt, habe ich doch darüber nachgelesen; und wenn es dich nicht stört, daß wir auf der Gasse sind, will ich noch einmal nachsehn, was ich dir darüber zu sagen vermag!« Er zog lächelnd einen Zettel aus der Tasche und entzifferte einzelne mit Bleistift beschriebene Stellen. »Goethe« verkündete er: »Hier sah ich Reue und Buße bis zur Karrikatur getrieben, und wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt ›wirklich genialisch‹; an einem anderen Ort: ›Ihre genialische Ruhe war mir oft in glänzender Begeisterung entgegengekommen‹. – Wieland: ›Die Frucht genialischer Stunden‹; Hölderlin: ›Die Griechen sind immer noch ein schönes, genialisches und frohes Volk‹. Und ein ähnliches Genialisch findest du noch bei Schleiermacher in seinen jüngeren Jahren. Aber schon bei Immermann hast du die Worte: ›Geniale Wirtschaft‹ und ›Geniale Lüderlichkeit‹. Da hast du also diese beschämende Wendung des Begriffs zum Kesselflickerhaft-Schlampigen, als was genialisch heute noch meist mit Spott verstanden wird.« Er drehte den Zettel hin und her, steckte ihn wieder ein und nahm ihn nochmals zu Hilfe. »Aber die Vorgeschichte und Vorursache findet sich schon früher« trug er nach. »Bereits Kant tadelt ›den Modeton einer geniemäßigen Freiheit im Denken‹ und spricht ärgerlich von ›Geniemännern‹ und ›Genieaffen‹. Es ist ein ansehnliches Stück deutscher Geistesgeschichte, das ihn so ärgert: denn sowohl vor ihm als auch bezeichnendermaßen nicht minder nach ihm ist in Deutschland teils mit Schwärmerei, teils mit Mißbilligung von ›Geniedrang‹, ›Geniefieber‹, ›Geniesturm‹, ›Geniesprüngen‹, ›Genierufen‹ und ›Geniegeschrei‹ gesprochen worden, und sogar die Philosophie hatte nicht immer saubere Fingernägel, und am wenigsten dann, wenn sie glaubte, sich die unabhängige Wahrheit aus den Fingern saugen zu können.«

»Und wie bestimmt Kant, was ein Genie ist?« fragte Agathe, die mit seinem berühmten Namen bloß die Erinnerung verband, gehört zu haben, daß er alles überstiege.

»Er hat am Wesen des Genies das Schöpferische und die Originalität, den ›Originalgeist‹ hervorgehoben, womit er denn bis auf den heutigen Tag vom größten Einfluß verblieben ist« erwiderte Ulrich. »Goethe lehnte sich später wohl an ihn an, als er sogar das Genialische mit den Worten ›viele Gegenstände gegenwärtig haben und die entferntesten leicht aufeinander beziehen. Dies frei von Selbstischkeit und Selbstgefälligkeit‹ beschrieb. Aber das ist eine Auffassung, die es sehr auf die Verstandesleistung abgesehen hat und zu der etwas turnerhaften Vorstellung vom Genialen führt, der wir erlegen sind.«

Agathe fragte ungläubig lachend: »Weißt du also jetzt, was Genie und genial und genialisch ist?«

Ulrich nahm den Spott achselzuckend hin. »Immerhin haben wir erfahren, daß unter Deutschen, wenn sich schon nicht der strenge Kantische ›Originalgeist‹ zeigt, auch ein verstiegenes und auffallendes Benehmen als genial empfunden wird« meinte er.


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