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General von Stumm über die Genialität

 

Das von Ulrich erwähnte Gespräch mit Stumm hatte bei einer zufälligen Begegnung stattgefunden und nicht lange gedauert. Der General schien Sorgen zu haben, sprach sich aber nicht darüber aus, sondern begann über den Unfug zu schimpfen, daß es im Zivil so viele Genies gebe. »Was ist das eigentlich, ein Genie?« fragte er. »Einen General hat noch niemand ein Genie genannt!«

»Napoleon ausgenommen« warf Ulrich ein.

»Ihn vielleicht« gab Stumm zu. »Aber das geschieht wahrscheinlich mehr deshalb, weil sein ganzer Werdegang paradox ist!«

Darauf hatte Ulrich keine Antwort zu geben gewußt.

»Bei deiner Kusine habe ich viel Gelegenheit gehabt, solche Leute kennen zu lernen, die man als Genies bezeichnet« erklärte Stumm nachdenklich und fuhr fort: »Ich glaube, daß ich dir sagen kann, was ein Genie ist: Das ist nicht nur einer, der großen Erfolg hat, sondern er muß seine Sache gewissermaßen auch verkehrt anfangen!« Und Stumm führte es sogleich an den großen Beispielen der Psychoanalyse und der Relativitätstheorie aus:

»Daß man etwas nicht gewußt hat, hat es auch früher oft gegeben,« begann er in seiner Art »aber man hat sich eben demzufolge auch nichts dabei gedacht, und wenn das nicht gerade bei einer Prüfung geschehen ist, hat es auch niemand geschadet. Mit einemmal hat man aber das sogenannte Unbewußte daraus gemacht, und jetzt hat jeder so viel Unbewußtes, wie er nicht weiß, und es gilt als viel wichtiger, zu wissen, warum man etwas nicht weiß, als was man nicht weiß! Das hat, wie man sagt, menschlich das Unterste zu oberst gekehrt; und ist wahrscheinlich auch viel einfacher.«

Da Ulrich die Wirkung noch vermissen ließ, fuhr Stumm fort:

»Der Mann, der das erfunden hat, hat aber auch das folgende Gesetz aufgestellt: Du erinnerst dich, daß man früher beim Regiment den jüngeren Herren, wenn sie untereinander zuviel Saubarteleien geredet haben, mit den Worten abgewinkt hat: ›Das sagt man nicht, das tut man bloß!‹ Und was ist das Gegenteil davon? Irgendwie doch die Aufforderung: Wenn du, weil du ein zivilisierter Mensch bist, nicht tun kannst, was du möchtest, so sprich wenigstens mit einem gelehrten Mann darüber; der überzeugt dich nämlich, daß alles, was es gibt, auf etwas beruht, das es nicht geben soll! Ich mag das natürlich nicht wissenschaftlich beurteilen, aber jedenfalls sieht man auch an diesem Beispiel, daß die neuen Regeln senkrecht die Umkehrung von denen sind, die vor ihnen gegolten haben, und der Mann, der sie eingeführt hat, gilt heute für ein ganz großes Genie!«

Da Ulrich anscheinend noch immer nicht überzeugt war, und Stumm sich selbst noch nicht am Ziele fühlte, wiederholte er seine Beweisführung an der »Relativitätstheorie« so, wie diese sich ihm darstellte: »Du hast doch gleich mir auf der Schule gelernt, daß alles, was sich bewegt, in ›Raum und Zeit‹ geschieht« war der Ausgangspunkt seines Denkens. »Aber wie steht es damit in der Praxis? Erlaube, daß ich etwas ganz Gewöhnliches sage: Du sollst mit der Tête deiner Eskadron um so und soviel Uhr an einem auf der Karte bestimmten Punkt gestellt sein. Oder du sollst deine Reiter aus einer Aufstellung auf Kommando in eine neue Front bringen, die schief zu allem steht, was es an geraden Linien auf dem Exerzierplatz gibt: Es geschieht in Raum und Zeit; aber es gelingt nie ohne Zwischenfall und stimmt nie so, wie du es haben willst. Ich wenigstens habe hundert Rüffel dafür bekommen, solange ich bei der Truppe war, ich sage es aufrichtig. Auch hat es mir schon in der Schule sozusagen immer widerstanden, wenn ich an der Tafel die Aufgabe gehabt habe, eine mechanische Bewegung in Raum und Zeit auszurechnen. Darum habe ich es sofort als einen wirklich genialen Einfall begriffen, als ich davon gehört habe, daß einer endlich herausgefunden hat, daß Raum und Zeit sehr relative Begriffe sind, die sich augenblicklich mitverändern, wenn ernsthaft Gebrauch von ihnen gemacht wird, obwohl sie seit Erschaffung der Welt für das Festeste vom Festen gegolten haben. Deshalb ist dieser Mann, auch meiner Ansicht nach mit Recht, mindestens ebenso berühmt wie der andere; aber auch von ihm kann man sagen, daß er das Pferd beim Schwanz aufgezäumt hat, was also, wenigstens heute, fast so etwas wie die fixe erste Idee eines Genies zu sein scheint! Und das ist es, was ich dir zu erkennen geben möchte, wenn du auf meine Erfahrung Wert legen solltest« schloß Stumm.

Ulrich, in seiner Schwäche für ihn, hatte zugegeben, daß die wesentlichsten wissenschaftlichen Lehren der Gegenwart einen Zug ins Grelle erkennen ließen, oder zumindest keine Scheu davor zeigten. Es mochte nicht viel bedeuten; aber wenn man mag, läßt sich darin auch ein Zeichen sehen. Ungescheute Auffälligkeit, eine Vorneigung für das Paradoxe, Ehrgeiz auf eigene Faust, Überraschung und Umstimmung des Ganzen auf widerspruchsvolle, vorher kaum beachtete Einzelheiten gehörten unzweifelhaft seit einiger Zeit zum guten Ton des Denkens, denn sie hatten sich mit großen Erfolgen gerade auf solchen Gebieten zu krönen begonnen, wo man es nicht erwartet hätte und an die sichere Verwaltung und Vermehrung eines großen geistigen Besitzes gewohnt war.

»Aber warum denn?« fragte Stumm. »Wie ist denn das gekommen?«

Ulrich zuckte die Achseln. Er entsann sich der verlassenen eigenen Wissenschaft, der Aufrollung ihrer Grundfragen, ihrer Aufspeilung in eine Überprüfung der Logik. Anderen Wissenschaften erging es nicht viel anders; sie fühlten ihr Gebäude durch Entdeckungen erschüttert, die sich schwer darin unterbringen ließen. Das war Schickung und Gewalt der Wahrheit. Trotzdem schien sich aber auch von einem Überdruß an dem alltäglichen, nie stillstehenden Fortschritt sprechen zu lassen, dem bisher durch die längste Zeit, im Lärm aller Gesinnungen, der stille eigentliche Glaube gegolten hatte. Ein leichter Zweifel an der Richtigkeit des baren, genauen Schritt vor Schritt Setzens war wohl auf keinem Gebiet zu leugnen. Auch das mochte eine Ursache sein. Schließlich gab Ulrich die Antwort: »Es ist vielleicht einfach das gleiche, wie wenn man müde wird; man braucht einen Ausblick, der erfrischt, oder einen Stoß, der in die Beine fährt.«

»Warum setzt man sich denn nicht lieber nieder?« fragte Stumm.

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls zieht man es nach längerem ruhigen Gedeihen des Geistes vor, mit dem Umsturz zu liebäugeln. So etwas scheint sich vorzubereiten. Erinnere dich zum Vergleich vielleicht an die überhandnehmende Sprunghaftigkeit in den Künsten. Vom Politischen verstehe ich wenig: Aber vielleicht wird man einmal sagen können, daß sich in dieser Ungeduld des Geistes schon eine Revolution angedeutet hat.«

»Pfui Teufel!« rief Stumm aus, der sich bei Künsten und revolutionärer Unruhe an die Eindrücke in Diotimas Haus erinnerte.

»Vielleicht nur als Übergang zu einer späteren neuen Stetigkeit!« beschwichtigte ihn Ulrich.

Das war Stumm gleichgültig. »Ich habe Diotimas Gesellschaften seit der taktlosen Geschichte gemieden, die in Anwesenheit des Kriegsministers vorgefallen ist« erzählte er. »Versteh mich recht, gegen die schon fixierten Genies, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, möchte ich ja gar nichts einwenden; höchstens, daß es mir übertrieben erscheint, wie man sie verehrt. Aber auf all dieses andere Gesindel habe ich es scharf!« Und nach einem kurzen, aber anscheinend bitteren Augenblick überwand er sich zu der Frage: »Sag mir aufrichtig, ist Genialität denn wirklich ein solcher Wert?«

Ulrich mußte lächeln, und unerachtet dessen, was er zuvor gesagt hatte, hob er jetzt die ungeheure – er nannte sie sogar die feenglatte – Erlösung hervor, als die man die Lösung einer jeden Aufgabe empfange, an der sich schon die begabtesten, ja bedeutendsten Fachleute vergeblich abgemüht hätten. Genie sei der einzige unbedingte menschliche Wert, es sei der menschliche Wert schlechthin, sagte er. Ohne Einmischung der Genialität gäbe es nicht einmal die Tiergruppe der höheren Affen. In seinem Eifer rühmte er also heftig sogar die Genialität, die er später bloß die des Grades und der Geschicklichkeit nennen sollte, insofern als sie es nicht auch im Grundwesen sei.

Stumm nickte gesättigt. »Ich weiß: die Erfindung des Feuers und des Rades, des Pulvers und der Buchdruckerkunst, und so weiter! Kurz gesagt: vom Einbaum zum Einstein!« Doch nachdem er sein Verständnis bezeugt hatte, fuhr er fort: »Jetzt werde ich dir aber auch etwas sagen, und zwar ist es aus den Gesprächen bei Diotima: ›Vom Sophokles zum Feuermaul!‹ Denn das hat dort einmal ganz im Ernst so ein junger Aff ausgerufen!«

»Was ist dir denn an Sophokles nicht recht?«

»Ah!! Von dem weiß ich doch nichts. Aber Feuermaul! Und da sagst du, Genie wäre ein unbedingter Wert!«

»Die Berührung des Genies ist der einzige Augenblick, ›wo der häßliche und verstockte Götterschüler Mensch schön und aufrichtig ist‹« steigerte sich Ulrich. »Ich habe aber nicht gesagt, daß sich leicht entscheiden läßt, was Genie sei, und was bloß Einbildung. Ich sage bloß, wo immer wirklich ein neuer Wert ins menschliche Spiel kommt, steht Genialität dahinter!«

»Wie kann man denn wissen, ob etwas ›wirklich ein neuer Wert‹ ist?«

Ulrich zögerte lächelnd.

»Und dann überhaupt, ob der Wert auch wirklich etwas wert ist!« fügte Stumm mit bekümmerter Neugierde hinzu.

»Man spürt es oft auf den ersten Blick« meinte Ulrich.

»Ich habe mir sagen lassen, daß man sich auch schon auf den ersten Blick geirrt haben soll!« –

Der Wortwechsel stockte. Stumm bereitete vielleicht eine gründliche neue Frage vor.

Ulrich sagte: »Du hörst die ersten Takte von Bach oder Mozart; du liest eine Seite von Goethe oder Corneille; und weißt, daß du die Genialität berührt hast!«

»Bei Mozart und Goethe vielleicht, weil ich es da schon weiß; aber nicht bei einem Unbekannten!« verwahrte sich der General.

»Glaubst du, daß es dich auch als jungen Menschen nicht elektrisiert hätte? Der Enthusiasmus der Jugend ist doch an sich selbst mit dem Genialen verwandt!«

»Warum ›an sich selbst‹? Aber, wenn ich durchaus antworten muß: Eine Operndiva hat mich wahrscheinlich begeistern können. Und auch für Alexander den Großen, Cäsar und Napoleon habe ich einmal geschwärmt. Hingegen an sich selbst ist mir irgendein Schriftsteller oder Tonmaler immer ganz gleichgültig gewesen!«

Ulrich trat den Rückzug an, wiewohl er fühlte, eine rechte Sache bloß schief angefaßt zu haben. »Ich habe sagen wollen, daß der sich geistig entwickelnde junge Mensch das Geniale errät wie ein Zugvogel die Richtung. Aber wahrscheinlich wäre das eine Verwechslung. Denn er ist dem Bedeutenden nur in beschränktestem Umfang zugänglich. Er hat keinen besonderen Sinn für das Bedeutende, sondern nur einen für das, was ihn aufrührt. Er sucht nicht einmal das Geniale, sondern sucht sich selbst und das, was geeignet ist, den Umrissen seiner Vorurteile Gehalt zu geben. Was ihn anspricht,« erklärte er »ist seinesgleichen, in aller Undeutlichkeit, die dem genügt. Es ist ungefähr das, was er selbst sein zu können glaubt, und bedeutet für seine Erziehung das gleiche wie der Spiegel, worin er sich gerne, aber durchaus nicht bloß aus Eitelkeit betrachtet. Darum ist auch nichts weniger zu erwarten, als daß gerade geniale Werke diese Wirkung auf ihn ausübten; gewöhnlich sind es die zeitgemäßen, und unter ihnen mehr die an Stimmungen rührenden als die geistig klar geformten, wie er doch auch lieber als die getreuen die Spiegel hat, die sein Gesicht verschmälern oder seine Schultern breit machen . . .«

»So kann es wohl sein« pflichtete Stumm nachdenklich bei. »Glaubst du aber, daß der Mensch später gescheiter wird?«

»Ohne Zweifel ist der gereifte Mensch fähig und geübt, das Bedeutende in größerem Ausmaß zu erkennen; aber seine gereiften eigenen Zwecke und Kräfte zwingen ihn auch, vieles von sich auszuschließen. Er lehnt nicht aus Unverständnis ab, aber er läßt mehr beiseite!«

»So ist es!« rief Stumm erleichtert aus. »Er ist nicht so beschränkt wie ein junger Mensch; aber ich möchte sagen, er ist bornierter! Und das ist auch notwendig. Wenn unsereiner mit unreifen jungen Leuten verkehrt, wie sie deine Kusine begünstigt, muß er, weiß Gott, abgehärtet sein und die Überlegenheit haben, die Hälfte von dem, was sie sagen, gar nicht zu verstehn!«

»Man könnte wohl auch Kritik üben!«

»Aber deine Kusine sagt: das sind Genies! Wie beweist man das Gegenteil?«

Ulrich wäre nicht abgeneigt gewesen, auch auf diese Frage einzugehen. »Ein Genie ist einer, der dort, wo viele vergeblich eine Lösung suchen, diese findet, indem er etwas tut, worauf keiner vor ihm verfallen ist« definierte er, um aus eigener Neugierde endlich weiterzukommen.

Aber Stumm bedankte sich: »Ich kann mich ja an die Tatsachen selbst halten« bemerkte er. »Bei Frau von Tuzzi habe ich genug Kritiker und Professoren in Person kennen gelernt, und jedesmal, wenn eines von den Genies, die das Leben oder die Kunst verbessern, gar zu sonderbare Behauptungen aufgestellt hat, habe ich sie vorsichtig um Rat gebeten.«

Ulrich ließ sich ablenken. »Und welche Erfahrung hast du gemacht?«

»Oh, sie sind immer sehr respektvoll zu mir gewesen und haben gesagt: ›Das wäre nichts für Sie, Herr General!‹ Natürlich ist das vielleicht auch eine Art Arroganz von ihnen; denn obzwar sie alle neuen Künstler geradezu ängstlich loben, scheinen sie nichtsdestoweniger darauf eingebildet zu sein, daß die, in ihren eigenen Behauptungen, einander gefährlich widersprechen, ja selbst so etwas wie eine blinde Wut aufeinander haben und summa summarum vielleicht nicht wissen, was sie tun!«

»Und hast du auch erfahren, wie die Geister, die den Sonnenstich haben und von Diotima mit Lorbeer gekühlt werden, über die Kritiker und Professoren denken, sofern diese sie nicht loben?« fragte Ulrich. »Als ob sie es wären, die diese Verstandesbestien mit ihrem Fleisch fütterten; und die es wären, so von der ganzen Menschlichkeit bloß einen Streit um Knochen übrig lassen!«

»Du hast sie gut beobachtet!« pflichtete Stumm als vergnügter Kenner bei.

»Aber wie erkennst du schließlich, wo so viel Widerspruch ist, ob du dich wirklich nach einem ›Genie‹ erkundigt hast, oder nicht?« fragte Ulrich folgerichtig.

Stumm gab darauf keine zwingende, aber wohl eine aufrichtige Antwort: »Es wird einem am Ende Wurst!« meinte er.

Ulrich sah ihn schweigend an. Wollte er bloß ein Rückzugsgefecht führen und sich den Fragen entziehen, die schwieriger waren, als es den Umständen entsprach, so war es ein Fehler, daß er diesen Augenblick nicht dazu benutzte, »sich vom Gegner zu lösen«, wie es die richtige Taktik wäre. Aber er wußte selbst nicht, was seine Laune war. So sagte er schließlich: »Durch nichts haben die falschen Genies soviel Glück bei der Masse gewonnen wie durch das Unverständnis, das gewöhnlich die echten, und nach ihrem Beispiel gar die halb echten, für einander haben; erst recht können aber nicht die Lampenputzer den Prometheus bürsten!«

Stumm sah bei dieser Schlußziehung ebenso verständnislos wie verständnisinnig zu ihm auf. »Du mußt mich recht verstehen« trug er vorsichtig nach. »Erinnere dich an den Eifer, womit ich für Diotima eine große Idee gesucht habe. Ich weiß, was Geistesadel ist. Ich bin auch nicht der Graf Leinsdorf, für den das schließlich doch immer eine Art Kleinadel bleibt. Vorhin hast du zum Beispiel ganz hervorragend definiert, was ein Genie ist. Wie war das? Es findet eine Lösung, indem es etwas tut, worauf noch keiner verfallen ist! Eigentlich sagt das sogar das gleiche, wie ich auch gesagt habe: das erste ist, daß ein Genie seine Sache verkehrt anfängt. Aber Geistesadel ist das noch nicht! Und warum ist es nicht Geistesadel? Weil der übliche Leitstern des Zeitalters ohnehin der ist, daß unter allen Umständen etwas Bedeutendes geschehen muß; aber ob man das Genialität heißt, oder Geistesadel, Fortschritt oder, wie man jetzt auch oft sagen hört, Rekord, ist dem Zeitalter eben weniger wichtig!«

»Aber warum hast du dann von Geistesadel gesprochen?« half Ulrich ungeduldig nach.

»Das kann ich eben darum nicht so genau wissen!« verteidigte sich Stumm. »Übrigens,« fuhr er, angeregt nachdenkend, fort »vielleicht könnte man ja quasi sagen, daß ein Geistesadel besonders auch den Charakter nicht in Ruh lassen darf. Da hab ich doch recht?«

»So ist es!« munterte ihn Ulrich auf, der übrigens ganz nebenbei in diesem Augenblick zum erstenmal daran gemahnt worden, auf einen Unterschied wie den zwischen Genius und Genium achtzuhaben.

»Ja« wiederholte Stumm nachdenklich. Und dann fragte er: »Aber was ist Charakter? Ist es das, was einem Mann zu den Ideen verhilft, die ihn auszeichnen; oder ist es das, was ihm solche Ideen verbietet? Denn ein charaktervoller Mann, der schwalbelt nicht viel herum!«

Ulrich zog es vor, die Achseln zu zucken und zu lächeln.

»Wahrscheinlich hängt das mit dem zusammen, was man große Ideen zu nennen pflegt. Und dann wäre Geistesadel nichts anderes als der Besitz großer Ideen« fuhr Stumm zweifelnd fort. »Aber woran erkennt man, ob eine Idee groß ist? Es gibt so viele Genies, in jeder Branche zumindest ein paar; es gehört sogar entschieden zu unserer Zeit, daß sie zu viele Genies hat: wie soll man da ein jedes verstehn und keines übersehen!« Die schmerzliche Vertrautheit mit der Frage nach einer ganz großen Idee hatte ihn wieder auf die Anteilnahme am Genie zurückgeführt.

Ulrich zuckte noch einmal die Achseln.

»Es gibt allerdings Leute, und ich habe solche kennen gelernt,« meinte Stumm »die sich nicht die kleinste Genialität entgehen lassen, von der irgendwo zu hören ist!«

Ulrich erwiderte: »Das sind Snobs und geistige Vornehmtuer.«

Der General: »Aber auch Diotima ist einer von diesen Menschen.«

Ulrich: »Trotzdem. Ein Mensch, in den sich alles stopfen läßt, was er findet, muß ohne eigene Form gebaut sein wie ein Sack.«

»Es ist richtig,« erwiderte der General etwas vorwurfsvoll »daß du von Diotima schon oft gesagt hast, daß sie ein Snob ist. Und auch von Arnheim hast du es manchmal gesagt. Ich habe mir darum unter einem Snob eigentlich etwas sehr Anregendes vorgestellt! Ich habe mir sogar ehrlich Mühe gegeben, einer zu sein und mir nichts entgehen zu lassen. Und es fällt mir schwer zu hören, daß du plötzlich sagst, nicht einmal auf einen Snob ist Verlaß, daß er das Geniale begreift. Du hast nämlich schon vorher gesagt, die Jugend verbürgt es nicht und das Alter auch nicht. Und dann haben wir erhoben, daß es die Genies nicht tun und die Kritischen erst recht nicht. Ja, da müßte es ja von selbst kommen, daß sich am Ende die Genialität allen zu erkennen gibt!«

»Mit der Zeit kommt es!« beschwichtigte ihn Ulrich lachend. »Die meisten Menschen glauben, daß die Zeit ganz natürlich das Bedeutende hervorkehrt.«

»Ja, auch das hört man. Aber erklär es mir, wenn du kannst!« bat Stumm ungeduldig. »Ich kann verstehen, daß man mit fünfzig Jahren gescheiter ist als mit zwanzig. Aber um acht Uhr abends bin ich nicht gescheiter als um acht Uhr morgens; und daß man mit neunzehnhundertvierzehn Jahren gescheiter sein soll als mit achtzehnhundertvierzehn, vermag ich auch nicht einzusehen!«

Dadurch kam es, daß sie noch ein wenig das schwierige Kapitel der Genialität abhandelten, das einzige nach Ulrichs Meinung, das die Menschheit rechtfertigt; aber zugleich das aufregendste und beschämendste, weil man nie weiß, ob man Genialität vor sich hat oder eine ihrer halb entgeisteten Nachahmungen. Woran ist sie zu unterscheiden? Wie erbt sie sich fort? Könnte sie sich höher entwickeln, wenn sie nicht beständig gehindert würde? Ist sie überhaupt, wie Stumm gefragt hatte, so sehr zu wünschen? Das waren Fragen, die für Stumm zur Schönheit des Zivilen und zu deren schändlicher Unordnung gehörten, dagegen von Ulrich nun mit einer Wetterkunde verglichen wurden, die nicht bloß nicht wüßte, ob es morgen schön sein werde, sondern auch nicht, ob es gestern schön gewesen sei. Denn das Urteil darüber, was genial gewesen sei, wechselt mit dem Geist der Zeiten, gesetzt, daß überhaupt danach gefragt werde, was durchaus nicht schlechthin das Zeichen der Größe der Seele und des Geistes sein muß.

Solche Rätsel wären es wohl wert gelöst zu werden, und darum geschah es in diesem Teil des Gesprächs, daß Stumm schließlich nach einigem Kopfschütteln seine Betrachtung über den Geniestab zum besten gab, von der Ulrich später seiner Schwester erzählte. Diese Behauptung, daß das Genie noch eines Geniestabs bedürfe, erinnerte übrigens ein wenig peinlich an das, was Ulrich selbst halb mit Ironie als das Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele bezeichnete, und Stumm verabsäumte auch nicht, ihn daran zu mahnen, daß er zuletzt in seiner eigenen und Graf Leinsdorfs Gegenwart während der unglücklichen Gesellschaft bei Diotima davon gesprochen habe. »Du hast damals etwas sehr Ähnliches gefordert,« hielt er ihm vor Augen »und wenn ich mich nicht irre, ist es ein Büro für die Genialitäten und den Geistesadel gewesen.« – Ulrich nickte schweigsam – »Denn der Geistesadel« fuhr Stumm fort »wäre ja schließlich doch das, was den gewöhnlichen Genies fehlt. Ganz gleich, was man unter ihm versteht: Unsere Genies sind Genies, nichts darüber hinaus, lauter Spezialisten! Habe ich recht? Ich kann sehr gut verstehen, daß viele Leute sagen: es gibt heute überhaupt kein Genie!«

Ulrich nickte wieder. Es trat eine Pause ein.

»Aber eins möchte ich wissen« fragte Stumm mit dem Anflug von Eigensinn, der einem ratlos zurückkehrenden Gedanken anhaftet: »Ist es dann ein Vorwurf oder eine Auszeichnung, daß die Menschen von keinem General sagen: er ist ein Genie?«

»Beides.«

»Beides? Warum gleich beides!«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

Stumm stutzte, aber nachdem er es sich überlegt hatte, meinte er: »Das sagst du ausgezeichnet! Ein Offizier ist nämlich beim Volk beliebt, sofern es nicht verhetzt ist; und er lernt das Volk kennen: dieses macht sich nichts aus Genies! Bis er aber General wird, muß er ein Spezialist sein, und wenn er selbst ein Spezialgenie ist, fällt er dann unter die Kategorie, daß es kein Genie gibt. Er kommt also, wie ich ausführlicher sagen möchte, gar nicht an den Punkt, wo es angebracht wäre, dieses fadiose Wort zu gebrauchen. Weißt du übrigens, daß ich neulich etwas wirklich Gescheites gehört habe? Ich war bei deiner Kusine, ganz im intimen Kreis, obwohl der Arnheim verreist ist, und wir sprechen von geistigen Fragen. Da stößt mich einer an und klärt mich leise über ihn auf: ›Das ist ein Genie‹ sagt er. ›Mehr als alle andern. Ein universaler Spezialist!‹ Warum schweigst du?« – Ulrich fand nichts zu sagen. – »Die Möglichkeit, die in dieser Auffassung liegt, hat mich überrascht. Übrigens bist doch gerade du auch so eine Art universaler Spezialist. Du solltest deshalb den Arnheim nicht so vernachlässigen; denn am Ende empfängt dann die Parallelaktion noch von ihm eine rettende Idee, und das könnte gefährlich sein! Ich möchte es immer noch viel lieber sehen, wenn sie von dir käme!«

Und obwohl Stumm zuletzt beiweitem mehr als Ulrich gesprochen hatte, verabschiedete er sich mit den Worten: »Es ist mir wie immer ein Genuß gewesen, mit dir zu reden, denn du verstehst das alles de facto viel besser als andere!«


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