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Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

 

Es ließe sich von vielem sagen, daß es Ulrichs Worte bestimmt haben möchte oder mit seinen Gedanken deutlich oder flüchtig verbunden gewesen sei. Zum Beispiel war es nicht lange her, daß er zu seiner Schwester und sogar auch zu anderen an dem unglücklichen Abend bei Diotima von der großen Unordnung der Gefühle gesprochen hatte, der man die große Geschichte nicht viel anders wie die kleinen Meinungsverwirrungen und schlimmen Geschichten verdanke, deren eine sich damals gerade ereignete. Aber sobald er jetzt etwas sagte, das allgemeine Bedeutung haben mochte, hatte er die Empfindung, daß solche Worte um einige Tage zu spät aus seinem Munde kämen. Es fehlte ihm das Verlangen, sich mit Angelegenheiten abzugeben, die ihn nicht unmittelbar angingen, oder es hielt nur aufs kürzeste vor; denn seine Seele war überbereit, sich der Welt mit allen Sinnen hinzugeben, wie immer diese auch wäre. Sein Urteil spielte dabei so gut wie keine Rolle. Es bedeutete sogar fast nichts, ob ihm etwas gefiel oder nicht. Denn es ergriff ihn einfach alles mehr, als er verstehen konnte. Ulrich war es gewohnt, sich mit anderen Menschen zu beschäftigen; aber es war immer so geschehen, wie es Gefühle und Ansichten mit sich bringen, die im großen gelten sollen, und jetzt geschah es im kleinen, einzelnen, und unbegründet zu jeder Einzelheit haltend; und war fast ein Zustand, den er vor weniger Zeit selbst bei Agathe in den Verdacht gebracht hatte, er sei eher das Mitgefühlsverlangen einer Natur, die an nichts wahrhaft teilnehme, als wirkliches Mitfühlen. Das war damals gewesen, als er bei einer nicht geringen Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung der ihm wenig bekannten Person des Professors Lindner die verletzende Behauptung aufgestellt hatte, daß man an nichts und niemand so teilnehme, wie es sein müßte. Und in der Tat, wenn der Zustand, worin er sich jetzt befand, eine Weile angedauert und ein volles Maß erreicht hatte, wurde es ihm unangenehm oder erschien ihm lächerlich, und er war dann auf ebenso unbegründete Weise wie zur Hingabe auch bereit, diese Hingabe wieder zurückzunehmen.

Aber diesmal erging es Agathe auf ihre Art nicht viel anders. Ihr Gewissen war bedrückt, wenn ihm der Aufschwung fehlte; denn sie hatte sich einen zu großen Schwung genommen und fühlte sich wie eine Frau, die auf einer Schaukel steht, dem Urteil ausgesetzt. In solchen Augenblicken fürchtete sie eine Rache der Welt für die Willkür, in der sie sonst mit Männern umsprang, die von der Wirklichkeit mit Ernst sprachen; wie ihr herausgeforderter Gatte und der heftig um ihre Seele bemühte Erhalter seines Andenkens. In der tausendfältigen reizenden Betriebsamkeit, von der das Leben tags und nachts erfüllt ist, wäre für sie nicht eine einzige Beschäftigung zu finden gewesen, an der sie mit ganzem Herzen hätte teilnehmen mögen; und wessen sie sich selbst unterfing, dem sollte von anderen nichts so sicher sein wie Tadel, Geringschätzung, oder gar Verachtung. Und doch lag ein merkwürdiger Friede gerade darin! Vielleicht darf gesagt werden, in Veränderung eines Sprichworts, daß ein schlechtes Gewissen beinahe ein besseres Ruhekissen darbietet als ein gutes, sofern es nur schlecht genug ist! Die unablässige Nebentätigkeit des Geistes in der Absicht, aus allem Unrecht, in das er verwickelt ist, ein gutes persönliches Gewissen als Abschluß zu gewinnen, ist dann eingestellt und läßt dem Gemüt eine ungemessene Unabhängigkeit zurück. Eine zarte Einsamkeit, ein himmelhoher Hochmut gossen zuweilen ihren Glanz auf diese Weltausflüge. Neben den eigenen Empfindungen konnte in solchen Augenblicken die Welt plump aufgeblasen erscheinen wie ein Fesselballon, den Schwalben umkreisen, oder zu einem Hintergrund erniedrigt, der klein war wie ein Wald am Rand des Gesichtskreises. Die verletzten bürgerlichen Verpflichtungen ängstigten bloß wie ein fern und roh andringendes Geräusch; sie waren unwichtig, wenn nicht unwirklich. Eine ungeheure Ordnung, die zuletzt nichts ist als eine ungeheure Absurdität, das war dann die Welt. Und doch hatte gerade darum jede Einzelheit, der Agathe begegnete, die gespannte, die hochseiltänzerische Natur des »Einmal, und nicht wieder«, die fast überspannte Natur der persönlichen ersten Entdeckung, die zauberisch bestellt ist und keine Wiederholung zuläßt; und wenn sie davon sprechen wollte, so geschah es in dem Bewußtsein, daß sich kein Wort zweimal sagen lasse, ohne seine Bedeutung zu ändern. Alles zusammen verlieh der Verantwortungslosigkeit des Durch-die-Menschen-Streifens eine schwer zu fassende Verantwortung.

Das Weltverhalten der Geschwister war also zu dieser Zeit keine ganz einwandfreie Äußerung der Teilnahme an anderen Menschen und enthielt auf eigene Art Zuneigung und Abneigung nebeneinander in einem wie ein Regenbogen schwebenden Zustand der Rührung, anstatt daß sich diese Gegensätze seßhaft gemischt hätten, wie es dem seiner selbst gewissen Zustand der Alltäglichkeit entspricht. Auf diese Weise geschah es, daß die Unterhaltung eines Tages eine Richtung einschlug, die bezeichnend für ihr Verhalten zueinander und zu ihrer Umwelt war, wenngleich sie noch keineswegs über das ihnen Bekannte hinausführen mochte.

Ulrich fragte: »Was bedeutet eigentlich der Auftrag: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹?«

Agathe sah ihn von der Seite an.

»Offenbar: Liebe auch den Fernsten und Allerunnächsten!« fuhr Ulrich fort. »Aber was will es heißen: wie sich selbst? Wie liebt man sich denn selbst? In meinem Fall wäre die Antwort: Gar nicht! in den meisten anderen: Mehr als alles! Blind! Ohne zu fragen und zuchtlos!«

»Du bist zu kriegerisch; wer es gegen sich selbst ist, ist es auch gegen andere!« antwortete Agathe kopfschüttelnd. »Und wenn du dir selbst nicht genug bist, wie sollte gar ich es dir sein?« Sie sagte das in einem Ton, der zwischen dem heiter ertragenen Schmerzes und höflichen gewendeten Gespräches lag. Aber Ulrich überhörte es, verblieb beim Allgemeinen und sah steif ins Weite. Er fuhr fort: »Vielleicht sagte ich besser: Gewöhnlich liebt sich jeder am meisten und kennt sich am wenigsten! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, hätte dann den Inhalt: Liebe ihn, ohne ihn zu kennen und unter allen Umständen. Und seltsam genug, wenn der Scherz erlaubt ist, fände sich auch in der Nächstenliebe wie in jeder anderen das Erbübel, vom Baume der Erkenntnis zu essen!«

Agathe blickte langsam auf. »Es hat mir gefallen, daß du einmal von mir gesagt hast, ich sei deine Liebe zu dir selbst, die du verloren und wiedergefunden hast. Aber nun sagst du, daß du dich nicht liebst, und mich, nach strenger Logik und Beispiel, nur deshalb, weil du mich nicht kennst! Beleidigt es mich nicht gar, daß ich deine Selbstliebe bin?« Der Schmerz der Stimme hatte nun vollends der Heiterkeit Platz gemacht.

Auch Ulrich scherzte. Er hatte gut fragen, ob es denn besser wäre, daß er sie liebe, obwohl er sie kenne. Denn auch das gehört zur Bestimmung der Nächstenliebe. Es beschreibt die Verlegenheit, in die sie die meisten Menschen versetzt. Sie lieben einander, mögen sich aber nicht. »Sie mißfallen sich gegenseitig oder wissen, daß sie es nach längerer Bekanntschaft tun werden; und geben sich einen viel zu großen Gegenschwung!« behauptete er.

Die Munterkeit dieses Wortwechsels war erkünstelt. Trotzdem diente auch er der Aufgabe, die Grenzen eines Gedankens, und eines Gefühls, auszukundschaften, dessen Verkündigung – mochte seither auch was immer geschehen oder unterblieben sein – schon damals begonnen hatte, als Ulrich am Bett seiner von Reise und Ankunft ermüdeten Schwester zum erstenmal das Wort »Du bist meine verlorene Selbstliebe« gebrauchte; in einem Gespräch, worin er bekannte, die Liebe zum Ichsein wie auch zur Welt verloren zu haben, und das damit endete, daß sie sich als »Siamesische Zwillinge« erklärten. Dieser Auskundschaftung diente seither auch alles, was Betrachtung der gewöhnlichen und durchschnittlichen Lebensgestaltung war, wenngleich sie sich soeben an der dabei angebrachten oberflächlichen Heiterkeit selbst verletzt hatten.

Unvermittelt in einen mürrischeren Ton verfallend, gab Ulrich zu verstehen: »Wir hätten einfach sagen sollen, daß Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, nichts anderes ist wie die nützliche Ermahnung: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu!«

Agathe schüttelte, wie zuvor, den Kopf, aber ihr Blick wurde warm. »Es ist ein hochherzig leidenschaftlicher und heiter freigebiger Auftrag!« rief sie vorwurfsvoll aus. »Seine Beispiele sind: Liebe deine Feinde! Vergelte ihre Übeltaten mit Wohltaten! Liebe, ohne auch nur zu fragen!« Plötzlich hielt sie inne und sah ihren Bruder verdutzt an. »Aber was liebt man eigentlich an einem Menschen, wenn man ihn gar nicht kennt?« fragte sie unschuldig. Ulrich ließ sich Zeit. »Fällt dir nicht auf, daß es eigentlich stört, wenn uns ein Mensch heute begegnet, der uns persönlich gefällt und so schön ist, daß man über ihn etwas Passendes sagen möchte?« Agathe nickte. »Also richtet sich unser Gefühl« gab sie zu »nicht nach der wirklichen Welt und den wirklichen Menschen?« »Also hätten wir die Frage zu beantworten, welchem Teil davon es gilt oder welcher Umgestaltung und Verklärung des wirklichen Menschen und der wirklichen Welt?« ergänzte Ulrich leise.

Nun war es Agathe, die zuerst keine Antwort gab; aber ihr Blick war erregt und phantastisch. Schließlich erwiderte sie schüchtern mit einem Gegenvorschlag. »Vielleicht kommt hinter der gewöhnlichen dann die große Wahrheit zum Vorschein?«

Ulrich schüttelte in zögernder Abwehr den Kopf; aber der Inhalt von Agathens fragender Behauptung hatte eine tief durchschimmernde Augenfälligkeit für sich. Es war die Luft und Lust dieser Tage so heiter und zärtlich, daß unwillkürlich der Eindruck entstand, Mensch und Welt müßten sich darin so zeigen, wie sie wirklicher als wirklich wären. Ein kleiner, übersinnlich-abenteuerlicher Schauer war in dieser Durchsichtigkeit, wie er in der fließenden Durchsichtigkeit eines Baches ist, die den Blick an den Grund gelangen, dem schwankend ankommenden aber dort die farbig geheimnisvollen Steine wie eine Fischhaut erscheinen läßt, unter deren Glätte sich, was er zu erfahren geglaubt hat, nun erst recht unzugänglich verbirgt. Agathe brauchte bloß ihren Blick ein wenig zu lösen, so konnte sie, von Sonnenschein umgeben, das Gefühl empfangen, in einen übernatürlichen Bereich geraten zu sein; es fiel ihr dann für eine kleinste Weile ganz leicht, zu glauben, sie habe sich mit einer höheren Wahrheit und Wirklichkeit berührt oder sei zumindest an eine Seite des Daseins geraten, wo ein hinterirdisches Pförtchen heimlich aus dem Erdgarten ins Überirdische weist. Wenn sie aber ihrem Blick wieder die gewöhnliche Spannung gab und das Leben prall hineinströmen ließ, so sah sie, was gerade da sein mochte: etwa ein Fähnchen, das lustig, aber ohne alle Hintergründigkeit von der Hand eines Kindes geschwenkt wurde; einen Polizeiwagen mit Gefangenen, dessen schwarz-grüner Lackanstrich im Licht blitzte; einen Mann mit einer farbigen Mütze, der zwischen den Fuhrwerken den Pferdemist wegkehrte, und schließlich eine Abteilung Soldaten, deren geschulterte Gewehre die Läufe gegen den Himmel richteten. Und alles das war von etwas übergossen, das mit Liebe Verwandtschaft hatte; auch schienen alle Menschen bereit zu sein, sich mehr als sonst diesem Gefühl zu öffnen: Aber zu glauben, nun sei wirklich das Reich der Liebe da, sagte schließlich Ulrich, das wäre doch wohl ebenso schwer wie sich einzubilden, daß in solchem Augenblick kein Hund beißen und kein Mensch Böses tun könne!

Es mag merkwürdig sein, daß es viele Versuche der Erklärung gibt; und daß manche von ihnen dem hochzeitlich menschlichen Eindruck dadurch Rechnung tragen, daß in solchen Augenblicken von Lebensandacht und Liebe hinter dem alltäglichen erdrunden, bös-guten, aber immerhin sicher vorhandenen Menschen irgendein entlegen-wahrer zum Vorschein kommen soll. Die Geschwister musterten diese wohlgemeinten Versuche der Reihe nach durch und glaubten keinem. Nicht der Sonntagsweisheit, daß die Natur an ihren Festtagen alles hervorkehre, was in den Geschöpfen an Güte und Schönheit verborgen sei. Nicht der schon eher psychologischen Erklärung, daß sich der Mensch selbst in dieser zärtlichen Durchsichtigkeit zwar nicht als ein anderer erweise, aber doch so liebenswert zur Schau trage, wie er sich gerne gesehen wüßte: seine Eigenliebe und einwärts schauende Nachsicht gleichsam wie Honig ausschwitzend. Auch nicht der Abwandlung, daß die Menschen ihren guten Willen zeigten, der sie zwar niemals hindert, Schlechtes zu tun, aber an solchen Tagen wunderbarerweise aus dem bösen Willen, der sie zumeist beherrscht, unversehrt hervorkommt wie Jonas aus dem Fischbauch. Und gewiß glaubten sie beide auch nicht der allerkürzesten und berauschendsten, von Agathe noch einmal schüchtern gestreiften Erklärung, daß es das unsterbliche Erbteil sei, was zuweilen durch das Sterbliche schimmere. Übrigens war es allen diesen feierlichen Eingebungen gemeinsam, daß sie das Heil des Menschen in einem Zustand suchten, der zwischen den unwesenhaften gewöhnlichen Zuständen nicht zur Geltung kommt; und wie seine Ahnung ein deutlich nach oben gerichteter Vorgang ist, so gibt es auch eine zweite zu erwähnende, nicht weniger reichhaltige Gruppe von Selbsttäuschungen, bei denen sich dieser Vorgang ebenso deutlich nach unten richtet: Es sind alle die bekannten, manch liebes Mal sogar in die Geschichte eingegangenen Bekenntnisse und Verkündigungen, wonach der Mensch die Unschuld eines Naturdaseins, seine natürliche Unschuld, durch geistigen Hochmut und anderes Unglück der Zivilisation verloren haben soll.

Es ließen sich also zwei »wahre Menschen« finden, die aufs pünktlichste dem Gemüt bei derselben Gelegenheit angetragen werden; doch befanden sie sich – insofern als der eine himmlischer Übermensch, der andere unangefochtene Kreatur sein sollte – zu den entgegengesetzten Seiten des wirklichen Menschen, und Ulrich sagte trocken: »Gemeinsam ist ihnen bloß, daß sich der wirkliche Mensch auch in gehobenen Augenblicken nicht als der wahre erscheint, es wäre denn plus oder minus etwas, durch das er sich bezaubernd unwirklich vorkommt!«

Nun waren die Geschwister damit von einem Grenzfall der Auslegung zum andern gelangt, und es blieb als letzte nur noch eine Möglichkeit über, diese so sanfte, ohne Unterschied alles verbindende Liebe zu erklären, die wie ein tauiger Morgen war. Agathe sprach denn auch diese Möglichkeit aus, mit anmutigem Ärger seufzend: »So scheint denn die Sonne, und man gerät in einen unbewußten Drang wie ein Schulmädel und ein Schulbub!« Ulrich ergänzte es: »Im Sonnenschein dehnen sich die sozialen Bedürfnisse aus wie das Quecksilber in der Röhre, und auf Kosten der egoistischen, die ihnen sonst die Waage halten!« Bruder und Schwester waren nun des Fühlens müde; und es geschah manchmal, daß sie über einem Gespräch, das nur von ihren Empfindungen handelte, das Empfinden verabsäumten. Auch weil die Überfülle des Gefühls, wenn sie nirgends einen Ausweg fand, eigentlich schmerzte, vergalten sie es ihr gelegentlich mit ein wenig Undankbarkeit. Als sie aber beide so gesprochen hatten, sah Agathe ihren Bruder wieder von der Seite an und beeilte sich zu widerrufen: »Bloß wie bei Schulfratzen, die die ganze Welt umarmen möchten und nicht wissen warum, ist es immerhin auch nicht!«

Und kaum hatte sie das ausgerufen, fühlten beide wieder, daß sie nicht bloß einer Einbildung, sondern einem nicht abzusehenden Geschehen ausgesetzt waren. In der überflutenden Stimmung schwebte Wahrheit, unter dem Schein war Wirklichkeit, Weltveränderung blickte schattenhaft aus der Welt! Es war allerdings eine merkwürdig kernlose, nur halbgreifliche Wirklichkeit, deren sie sich gewärtig fühlten, und eine ebenso vertraute, wie vertraut-unvollendbare Halbwahrheit, was um Glaubwürdigkeit buhlte: keine Allerweltswirklichkeit und Wahrheit für alle Welt, sondern eben bloß eine geheime für Liebende. Aber offenbar war sie auch nicht bloß Willkür oder Täuschung; und ihre geheimste Einflüsterung sprach: Du hast dich mir bloß ohne Mißtrauen zu überlassen, so wirst du die ganze Wahrheit erfahren! Schwer war es aber, das in deutlichen Worten zu hören; denn die Sprache der Liebe ist eine Geheimsprache, und in ihrer höchsten Vollendung so schweigsam wie eine Umarmung.

Agathe zog lächelnd die Augenbrauen zusammen und blickte in die Menge; Ulrich tat es ihr nach, und gemeinsam sahen sie in den Menschenstrom, der sie begleitete und ihnen entgegenkam. Fühlten sie die Selbstvergessenheit und Macht, das Glück, die Güte, die tiefe und hohe Befangenheit, die im Innern einer Menschenbrüderschaft, und sei es auch nur die zufällige einer belebten Straße, vorherrschen, so daß man nicht glauben kann, daß es auch Schlechtes und Trennendes darin gibt? Ihr eigenes Sein, das scharf begrenzte und schwer hineingestellte, und ebenso das eines jeden anderen hob sich wunderlich davon ab, der dunkel durch diesen Wolkenbruch und Dammbruch der Zärtlichkeit schritt, dessen Glanz auf seinen Augen lag. In diesem Augenblick, der alle Fragen nach dem »Reich der Liebe« und nach dem Sinn und den Zweifeln der Nächstenliebe in einem bildhaften Eindruck wiederholte und ungeteilt beantwortete, beugte sich Ulrich zu Agathe vor, um ihr Gesicht zu sehen, und fragte sie: »Bringst du es denn anders als schattenhaft fertig, jemand zu lieben, wenn weder eine moralische Überzeugung noch ein sinnliches Begehren dabei ist?«

Es geschah, seit sie diese Ausgänge unternahmen, zum erstenmal, daß er so unverschleiert fragte.

Agathe gab zuerst keine Antwort darauf.

Ulrich fragte: »Und was geschähe, wenn wir jetzt einen hier anhielten und zu ihm sagten: ›Bleib bei uns, Bruder!‹ oder: ›Halte still, vorbeieilende Seele! Wir wollen dich lieben wie uns selbst!‹?«

»Er sollte uns verblüfft anschauen« erwiderte Agathe. »Und dann seine Schritte verdoppeln!«

»Oder grob werden und einen Schutzmann herbeirufen« ergänzte Ulrich. »Denn entweder wird er meinen, gutmütige Irre vor sich zu haben, oder Leute, die sich mit ihm einen Witz erlauben.«

»Und wenn wir ihn nun gleich mit den Worten ›Sie, verbrecherisches und gemeines Subjekt!‹ anschrien?« schlug Agathe versuchsweise vor.

»So könnte es sein, daß er uns weder für Irre noch für witzig hielte, sondern bloß für das, was man Andersdenkende nennt; Parteigänger, die sich in ihm geirrt haben. Denn offenbar haben die Blindenverbände des Nächstenhasses zusammen nicht viel weniger Mitglieder als der der Nächstenliebe!«

Agathe nickte einverständlich; dann schüttelte sie den Kopf und blickte in die Luft. Die Luft war noch genau so wie vorher. Sie blickte zu Boden, und irgendeine demütige Einzelheit, ein Kellerfenster, ein verlorengegangenes Blatt Gemüse, schien vom Licht des Himmels sanft zu flammen. Schließlich sah sie sich nach etwas um, das ihr einfach von selbst gefiele, ein Gesicht oder ein Schaustück in einer Auslage, und fand es. Solches wirkliches Gefallen war aber doch ein blinder Fleck in dem Glanz des Tages; was Ulrich schon ähnlich ausgesprochen hatte, nur fiel ihr jetzt der Widerspruch noch stärker auf. Es störte die allgemeine Welt- und Menschenliebe, statt sie durch seinen kleinen Beitrag zu vermehren. So antwortete Agathe: »Es ist alles sehr unwirklich! Auch ich weiß heute nicht, ob ich die wirklichen Menschen und Dinge, noch ob ich wirklich etwas liebe!«

»Soll das die Antwort auf meine Frage sein,« verlangte Ulrich, diese Frage etwas verändernd, zu wissen »ob irgendeine Liebe, mag sie auch groß sein, ohne sinnliche Erfüllung mehr als der Schatten einer Liebe sein kann? Schon in jedem Begehren, das nicht auch den Sinnen etwas zu tun gibt, ist eine schweigende Trauer!«

»Ich bin liebevoll und liebeleer, und beides zugleich« klagte Agathe lächelnd, mit einer kleinen verzagten Gebärde auf alle Welt weisend. – Es war die Klage des Herzens, worin Gott so tief eingedrungen ist wie ein Dorn, den keine Fingerspitzen fassen können. In den Bekenntnissen der Mystiker, die mit ihrer ganzen menschlichen Seele und Körperlichkeit nach ihm verlangen, unterbricht diese eigenartige Verzweiflung immer wieder die Augenblicke der aufs nächste herangekommenen Verklärung; und die Geschwister erinnerten sich nun beide der Stunde im Garten, da Agathe aus einem Buch solche Beispiele ihrem Bruder vorgelesen hatte. Nachdem sie sich darüber verständigt hatten, sagte Ulrich: »Etwas von dieser Mystik ist auch in der Nächstenliebe; alle fühlen es und gehorchen ihr, ohne sie zu verstehen. Und vielleicht enthält jede große Liebe etwas Mystisches, vielleicht sogar schon jede große Leidenschaft. Vielleicht ist sogar im gemäßigten Leben in allen uns tief öffnenden Augenblicken die Anteilnahme an Menschen und Dingen eine mystische und etwas anderes als eine wirkliche!«

»Und was ist eine ›mystische Anteilnahme‹, wenn nicht bloß keine wirkliche?« fragte Agathe.

Ulrich überlegte eigentlich nicht, wohl zögerte er aber. Schließlich sagte er mit viel Bestimmtheit: »Sieh doch, man ist zugleich liebevoll und liebeleer. Man liebt alles und nichts Einzelnes. Man kann sich von der geringfügigsten Kleinigkeit nicht loslösen, und zugleich fühlt man, daß alles zusammen nicht von Wichtigkeit ist: Das sind Widersprüche; beides zugleich kann scheinbar nicht wirklich sein. Und doch ist es wirklich; es hätte ja gar keinen Sinn, das zu leugnen! Wenn ich dich also nicht bitten kann, unter mystischer Anteilnahme eine religiöse Zauberei zu verstehen, so bleibt nur die Annahme übrig, daß es zwei Arten, die Wirklichkeit zu erleben, gibt, die sich uns mehr oder weniger aufnötigen!«

Manchmal entstehen in einer begünstigten Minute, und eng vereinigt, die Antworten auf viele Fragen, die, vereinzelt und stockend, wechselnde Unruhe bereitet haben. Manchmal täuscht diese Verkürzung auch; doch bleibt sie immer ein Vorblick. Eine solche Minute war die des Einfalls, daß es in der Welt zwei Arten von Wirklichkeit, besser gesagt, daß es zwei Arten der weltlichen Wirklichkeit gebe. Als das ausgesprochen war, und schon ehe sich die Geschwister von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt hatten, gab es keine Frage aus ihrem Leben, die nicht von dieser Antwort berührt worden wäre. Die vielen ungewöhnlichen und grenzenlos untereinander verknüpften Erlebnisse und Mutmaßungen der letzten Zeit, und ihre Vorandeutungen in früherer, fanden wohl keine Erklärung, aber durch alle ging eine erfrischte Zuversicht hindurch. So zieht sich eine Flamme dunkel zusammen und hält den Atem an, ehe sie höher aufleuchtet.


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