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Achtundzwanzigstes Kapitel.
Am Weiher. Der Würfel ist gefallen.

Auf der Rückseite des Hofes hinter den Gärten erstreckte der Park sich über eine Fläche, mehr als doppelt so groß, wie die auf der Vorderseite. Je weiter vom Hofe, um so geringere Aufmerksamkeit hatte man einst auf die Anlage von Wegen verwendet, ein Mangel, den auszugleichen man in der Neuzeit sich noch weniger angelegen sein ließ. Und so hatte dieser Teil sich den Charakter eines etwas vernachlässigten Forstes bewahrt.

Ein großer Weiher bildete den Mittelpunkt dieses Parkteils; groß, und doch hätte ein mit der Bodengestaltung nicht Vertrauter zehnmal dort vorübergehen können, ohne ihn zu bemerken oder seine Nähe auch nur zu ahnen. Besonders wurde der Überblick ringsum durch ein Bruch gehemmt, in dem dicht bestandene Elsen, üppig wuchernde Hopfenranken und endlich mooriger Boden in Gemeinschaft mit Wurzelwerk und vermodernden Baumstümpfen das Gehen erschwerten.

Hinter dem Bruch folgte ein zweiter, weit schmalerer Ring, die eigentliche Einfassung des etwa vier Morgen großen, dreimal so langen wie breiten Weihers. Er bestand aus hohem Schilf, durchschossen mit schwarzen, sammetähnlich überzogenen Samenkolben, aus Rohr, Binsen, Wasserschierling und sonstigen Sumpfgewächsen, hier und da beschattet von einer breitverzweigten Zitterpappel. Der Spiegel des Weihers war nur stellenweise klar. Lichtgrüne Wasserlinsen bedeckten große Flächen, während auf anderen Stellen breite Mummelblätter vorherrschten.

Wenn außer Wiedehopf jetzt kaum noch jemand den Weiher beachtete, so schrieb man ihm auf Grund märchenhafter Gerüchte zu, daß er im grauen Altertum eine hervorragendere Rolle gespielt habe. Jene dunklen Sagen fußten indessen auf einigen uralten Mauerresten, die vom Hofe aus auf dem jenseitigen Ufer gelegen, den dort etwas festeren Boden nur wenig überragten. Jetzt stand auf den grün überwucherten Trümmern eine dem Verfall geweihte Hütte. Ungefähr zwölf Fuß im Geviert, war sie aus Balken und Mauersteinen errichtet worden, nach oben mit einem Ziegeldach abschließend. Sie mochte zu einer Zeit erbaut sein, als irgend ein Besitzer des Hofes mit Vorliebe dem Fischfang huldigte. Das mußte aber schon lange her sein. Nur noch widerwillig trugen einige haltbarere Sparren die gelichteten, verwitterten Ziegelreihen, wie auch in dem Fachwerk der Brauern Lücken Sturm und Regen freien Einlaß gewährten. So erzeugte der Weiher samt seiner Umgebung einen überaus traurigen, sogar unheimlichen Eindruck, daß man sich weit eher in einer gottverlassenen Einöde hätte wähnen können, als in der Nachbarschaft wohlgeordneter, mehr oder minder belebter Heimstätten.

Den unheimlichen Winkel beehrte Wiedehopf mit einem Besuche. Ein grauleinener Rock schlotterte von seinen breiten Schultern über die Knie nieder, bis zu denen unförmliche, in Tran schwimmende Schmierstiefel hinaufreichten. Seinen Kopf bedeckte eine verblichene grüne Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. In der linken Hand trug er einen Korb, in der rechten einen langen Haselstock, den er indessen weniger zum Stützen, als zum Zurückbiegen der in seinen Weg hereinragenden Zweige und Ranken benutzte.

So hatte er das Bruch gekreuzt, und vor ihm öffnete sich ein schmaler, morastiger Pfad, der durch die Sumpfvegetation bis an den Weiher führte.

Ein Wachtelkönig, der sogenannte Schnarten-dart, meldete sich etwas abseits im Schilf. Wiedehopf schien es nicht zu hören. Ebensowenig beachtete er mehrere Kibitze, die oberhalb des Weihers durch ängstliche Rufe ihre Unruhe verrieten. Mit langen Schritten watete er nach einem Blockkahn hinüber, und nachdem er Korb und Stock hineingeworfen hatte, schob er das Fahrzeug so weit wasserwärts, daß es frei schwamm. Mit dem letzten Stoß stieg er hinein, und eine Handschaufel ergreifend, entfernte er zunächst das durch Poren und Fugen eingedrungene Wasser. Dann erst ließ er sich auf ein quer über die Bootsränder gelegtes Brett nieder, worauf er nach dem jenseitigen Ufer in der Richtung der Hüttenruine hinüberzurudern begann.

Kurz bevor er das jenseitige Ufer erreichte, legte er das Ruder zur Seite, und eine mit einem Haken versehene Stange zur Hand nehmend, tauchte er sie tief in die Fluten hinab. Ein Weilchen tastete er damit auf dem schlammigen Boden umher, dann zog er sie wieder empor und zugleich eine auf beiden Seiten straff gehaltene Leine. Diese packte er mit beiden Händen, und ohne sich von seinem Sitz zu rühren, holte er vier Reusen ein, in denen eine Anzahl gelblich glänzender Karauschen die freie Luft mit krampfhaftem Springen begrüßte. Gleich darauf stieß der Blockkahn ans Ufer, und ohne Säumen ging Wiedehopf ans Werk, die größeren Fische in den Korb, die kleineren dagegen ins Wasser zurückzuwerfen. Die Reusen trug er nach dem erhöhten Boden hinauf, um sie zum Trocknen aufzustellen. Bedächtig verrichtete er diese Arbeit, und dann erst trat er in die Hütte ein. Seine Nasenflügel zitterten plötzlich, wie bei einem Raubtier, das die Bewegungen der in seinen Bereich tretenden Beute überwacht. Zugleich brannten seine Augen in einem argwöhnischen Umhersichern.

So stand er da, die großen knochigen Hände lebhaft ineinander reibend, die unheimlich glühenden Blicke vor sich auf einen bankartig hergerichteten alten Mauerrest gesenkt. Endlich kniete er vor dem Mauerwerk nieder, und alsbald begann er hart daneben in dem trockenen, sandigen Erdreich eifrig zu scharren. So entstand schnell eine Aushöhlung. Kurze Zeit tastete er in ihr herum; lebhaftes Rütteln folgte, dann eine schnelle heftige Anstrengung, und sich aufrichtend, legte er einen unregelmäßigen Feldstein von der Größe eines Kopfes, wie solche einst beim Gründen des Fundaments verwendet worden, neben sich hin. Wie die dadurch in dem Gemäuer entstandene Öffnung beschaffen war, wie weit sie sich vertiefte und ob sie nachträglich ausgemeißelt oder in alten Zeiten bedachtsam hergestellt worden, war von oben herab nicht erkennbar. Auf alle Fälle bot sie genügend Raum zur Bergung von vier Blechkasten in der doppelten Größe eines Ziegelsteines, die Wiedehopf schwer hervorzog und oben auf die Mauer stellte.

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Seine fieberhafte Aufregung hatte damit ihren Gipfel erreicht. Mit zitternden Händen holte er einen kleinen Schlüssel hervor und öffnete die Behälter, worauf er sie nebeneinander rückte, daß er in alle zugleich hineinsehen konnte.

»Alles – alles das Meinige,« sprach er unwillkürlich vor sich hin und versenkte sich in das Anschauen der Schätze, an denen er ein halbes Menschenalter hindurch mit unsäglicher Geduld, nie erlahmender Vorsicht und der gewissenlosen, alle Menschenrechte verhöhnenden Gier eines Höllengeistes gesammelt hatte. Ja, da lagen sie vor ihm fest neben- und übereinander geschichtet die Hunderte und Hunderte kleiner und großer Goldstücke. Kein Papier schützte die zierlichen Säulen, wodurch der Anblick des blanken, kostbaren Metalls beeinträchtigt worden wäre. Denn nur sehen wollte er von Zeit zu Zeit seinen Reichtum, sich ergötzen an dessen Glanz.

Liebkosend strichen die großen Hände über den Inhalt der Kasten hin, deren Gesamtwert über zwölftausend Thaler betragen mochte. Doch wie bei dem Schwelger die Übersättigung, so folgte hier nach der gährenden Erregung ruhigere Überlegung. Bedächtig zog er die von Jockeiklamm empfangenen Goldstücke hervor, die er auf die vier Kasten verteilte. Zum Schluß prüfte er sein Werk noch einmal aufmerksam. Dann aber, indem er einen Kasten nach dem anderen wieder abschloß und in das Versteck zurückschob, erstarrte wieder seine Physiognomie. Nicht ohne Mühe brachte er den Schlußstein in den Eingang zu seiner Schatzkammer, worauf er die Höhle vor ihr mit der lockeren Erde wieder ausfüllte. Seine breiten Stiefelsohlen dienten ihm dabei als Ramme, und als er endlich sein Werk beendigt hatte, da wäre es dem schärfsten Auge nicht möglich gewesen, noch eine Argwohn erregende Spur zu entdecken.

Nachdem er den Korb mit den Fischen in das Blockboot gestellt hatte, machte er dieses in gewohnter Weise flott, um es etwas später mit langsamen Ruderschlägen dem jenseitigen Ufer zuzusteuern. Die wieder festgewachsenen Augäpfel stierten, je nachdem der Kopf sich drehte, über den Weiher und dessen Einfassung hin.

Als er den Blockkahn in dem Pfade festgelegt hatte und mit dem Korb am Arme die Schilfeinfassung verließ, eilten bereits Dämmerungsschatten über den Weiher hin. Mit langen Schritten kreuzte er das Bruch. Andere Schatten huschten geräuschlos durch die dichtbelaubten Wipfel der Elsen. Als Wiedehopf auf der anderen Seite des Bruchs ein halb hundert Schritte zurückgelegt hatte, da lachte und kreischte es höhnisch hinter ihm her. Die alten Hofeulen waren es, die sich zur nächtlichen Jagd rüsteten. Aber was fragte Wiedehopf nach allen Eulen der Welt. –

Auf der Vorderseite des Hofes ertönte das dumpfe Rollen eines Wagens. Die Baronin kehrte heim. Sie war in der heitersten Laune. Der unvergleichliche Jockeiklamm hatte ihr sowohl wie Joachim durch seine zündenden Scherze und Wortspiele Tränen in die Augen gelockt. –

Die glückliche Stimmung, die der fröhlichen Fahrt erhöhte Reize verlieh, konnte durch die Heimkehr nur noch gesteigert werden. Die Unterbrechung einer halben Stunde erlitt sie wohl, gerade so lange, als man Zeit gebrauchte, der Gelegenheit entsprechend sich umzukleiden; als aber die drei so verschiedenartigen Gestalten in dem glänzend erleuchteten Gartensalon sich um den reich gedeckten runden Tisch niederließen, da war es, als ob die Genien des Frohsinns und der Geselligkeit mit ihnen zugleich ihren Einzug gehalten hätten. Die Baronin war heiter angeregt, Jockeiklamm unerschöpflich an lustigen Einfällen, während bei Joachim die Zeiten glücklicher knabenhafter Sorglosigkeit zurückgekehrt zu sein schienen. Das Beste, was der Keller aufzuweisen hatte, perlte in den Gläsern. Lampen und Kerzen verbreiteten helles, ruhiges Licht. Durch die geöffneten Fenster und die Tür strömte erquickende, feuchte Kühle herein. Mit ihr einte sich der Dust von Reseda und Heliotrop. Solche Stunden wiederholten sich auf dem Hofe nicht oft; um so mehr Ursache, sie in vollen Zügen zu genießen. Wiedehopf bediente mit der Geräuschlosigkeit der gutgeölten Maschine. Man hätte sich keinen musterhafteren Aufwärter denken können. In seinem hölzernen Gesicht stand geschrieben, daß er außer den an ihn gerichteten Befehlen nichts hörte, seine festgewachsenen Augäpfel nichts anderes sahen, als was in Beziehung zu seinen Obliegenheiten stand. Nur wenn er eine Flasche entkorkte, verriet er durch das unvermeidliche und doch überaus ansprechende Knallen seine Anwesenheit.

Die Baronin nippte. Glas auf Glas stürzte Joachim hinunter. Jockeiklamm trank als alter Zecher. Unauslöschlich wie sein Witz war auch sein Durst.

Ja, Jockeiklamm war ein »Allerweltskerl«, wie Joachim geräuschvoll bei seiner Ehre beteuerte. Keinen zweiten gab es auf der Welt, der es gleich ihm verstanden hätte, sogar im kleinsten Kreise dem Frohsinn eine, unumschränkte Herrschaft einzuräumen, neckische Kobolde heraufzubeschwören, die zwischen Flaschen und Gläsern ihre Kapriolen schlugen. Wer hätte zu solcher Stunde auf die Eulen achten mögen, die zwischen dem Bruch am Weiher und dem Hofe vermittelten, als hätten sie, geisterhaft klagend und jammernd, die fröhlichen Menschen aus ihrem alten Heim verjagen wollen, wie ihnen selbst einst geschah.

Nach den Zwillingshäuschen drang ihr Ruf, wie aus freundlicher Rücksicht für die Menschen, die trotz der Mitternachtsstunde noch vor diesen im Freien versammelt waren, nur gedämpft herüber. Tränen flossen dort ungesehen. Innige Wünsche wechselten hinüber und herüber; immer wieder wurde ausgetauscht das herzliche: »Auf Wiedersehen!« Dann stieg Unica in eine Postkutsche, die vor einer halber: Stunde eingetroffen war und in der eine junge Jüdin ihrer bereits harrte. Heiter klangen die letzten Grüße, und doch waren alle Herzen so schwer.

Erst nachdem das Rollen der Kutsche in der Ferne verhallt war, löste die zurückgebliebene schweigsame Gesellschaft sich auf. Mit einem eintönigen »Gute Nacht!« begab Blisterchen sich in ihre nunmehr wieder stille Wohnung. Stumm schritten Kunibertus, die Meisterin und Doktor Amandus nach der Schmiede hinüber.

Wie viel anders auf dem Hofe! Da führte der Frohsinn noch immer seinen Herrscherstab. Nach wie vor strahlten Lampen und Kerzen. Mit den weingefüllten Kristallpokalen funkelten die Augen um die Wette. Bis nach Mitternacht dauerte es, ehe die hellen Fensteraugen des Herrenhauses zu erblinden begannen.

Als der Baron zwei Tage später von seiner Reise heimkehrte, hätte nach den im Hause des alten Giftmischers empfangenen Eindrücken ihm keine angenehmere Überraschung bereitet werden können, als durch die Anwesenheit Jockeiklamms. Mochte er ihn im stillen nicht allzuhoch schützen, so gab es doch keinen Geeigneteren, die Spinngewebe aus seinem Gehirn fortzufegen, als den ewig jungen alten Spieler mit seiner unverwüstlich heiteren Laune, mit der beneidenswerten Gabe, allen Dingen, selbst den schwärzesten, Lichtseiten abzugewinnen. So entflohen die nächsten Tage gleichsam unter den Händen. Denn nicht nur auf den Baron und seine Frau übte Jockeiklamm einen belebenden Einfluß aus, sondern auch auf Joachim, der ihn an Ausgelassenheit zuweilen noch zu übertreffen suchte. Was dieser aber litt, während er den professionierten alten Spieler im freundschaftlichen Verkehr mit seinem Vater beobachtete, was in seinem Kopfe wirkte und sich vorbereitete, das hätte selbst das Auge der Mutter aus seinem krankhaft blühenden Antlitz nicht herauszulesen vermocht. Leichter gelang es ihm, den argwöhnischen Jockeiklamm zu täuschen, so daß selbst dieser nichts Auffälliges darin entdeckte, als er erklärte, dessen Anwesenheit im elterlichen Hause zu einem dreitägigen Besuch bei einem Freunde ausnutzen zu wollen. –

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Nach wie vor strahlten Lampen und Kerzen. Mit den weingefüllten Kristallgläsern funkelten die Augen um die Wette.

Die erste Morgenstunde neigte sich ihrem Ende zu. Stille umlagerte den Hof, Stille die Zwillingshäuschen. Amandus lag in den ersten Träumen. Das einzige kleine Fenster des ihm eingeräumten Giebelkämmerchens öffnete sich nach dem Gittertor des Parkes hinaus.

Plötzlich regte er sich. Ein Geräusch, das jeden anderen unberührt gelassen hätte, war in seinen Schlaf gedrungen und hatte ihn ermuntert. Er zweifelte noch, richtig gehört zu haben, als abermals eine Handvoll Erbsen gegen die Fensterscheiben rasselte. Es war dies ein Signal, durch das er sich zur Zeit ihrer Knabenjahre schon mit Joachim zu verständigen pflegte.

Gleich darauf öffnete er behutsam das Fenster, und gedämpft rief er hinaus: »Joachim!« Ein anderer konnte ihn ja nicht ermuntert haben.

»Amandus,« hieß es unverkennbar dringlich zurück, »komm herunter, aber leise, daß niemand dich hört. Ich muß dich sprechen. Morgen ist es zu spät.«

»Gleich bin ich bei dir.«

»Gut; ich gehe voraus in die Allee hinein. Auf der nächsten Bank erwarte ich dich.«

Das Fenster schloß sich. Joachim schritt leise davon. Etwas später erreichte er eine einfache Sandsteinbank. Schwerfällig ließ er sich nieder, Kopf und Arme auf die Knie stützend. Nach einigen Minuten unterschied er das Geräusch von Schritten; als er sich ausrichtete, stand Amandus vor ihm.

»Gott sei Dank,« redete er den Schmiedssohn an, und dessen Hand ergreifend, preßte er sie krampfhaft, »Gott sei Dank, Amandus; du bist wenigstens noch immer der alte – aber setz' dich zu mir – ich bin müde; nur mit Widerwillen mag ich noch ein Glied rühren –«

»Joachim, was ist dir? Du erschreckst mich,« fiel Amandus besorgt ein.

»Nicht doch,« erwiderte Joachim herbe, »deine freundliche Teilnahme erkenne ich gewiß dankbar an, allein tu dieser Stunde ist sie mir mehr schmerzlich als wohltuend. Als meinem einzigen, treuen und zuverlässigen Freunde will ich dir ein Geheimnis anvertrauen, das kein anderer Sterblicher auch nur ahnen darf. Höre mir also zu. Doch um dir den Ernst meiner Lage vor Augen zu führen, schicke ich voraus, daß ich nunmehr auf der Grenze angelangt bin, wo mir kein anderer Ausweg mehr bleibt, als entweder innerhalb der nächsten vierzehn Tage mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen, oder übers Meer in unbekannte Fernen zu entfliehen –«

»Joachim, um Gottes willen,« unterbrach Amandus ihn bestürzt, »frevle nicht! Ich errate, du hast dich in Schulden gestürzt – vergiß nicht, du besitzest Eltern –«

»Ja, die besitze ich,« nahm Joachim mit unheimlicher Entschlossenheit wieder das Wort, »und gerade deshalb muß ich ein Ende mit allem machen. Denn wollten sie mir wirklich noch einmal helfen, so wäre das gleichbedeutend mit ihrem vollständigen Ruin. Nein, Amandus, meine Eltern kommen jetzt nicht mehr in Frage. Mein Los ist besiegelt. Mein Weg führt entweder in das Grab eines Selbstmörders, oder übers Meer.«

»Du darfst die letzte Hoffnung nicht aufgeben, nein, Joachim – noch gibt es Hilfsmittel – verfüge über mich; mit Leib und Seele will ich dir dienen, alles mögliche aufbieten –«

»Zu spät, alles zu spät,« versetzte Joachim einfallend, und krampfhaft preßte er des Freundes Hand, »lassen wir also derartige nutzlose Erörterungen. Glaube mir, was ich dir anvertraue, ist nicht der Ausfluß einer flüchtigen Regung, sondern das Ergebnis langen, ernsten Sinnens und Erwägens« – er lachte bitter und fügte höhnisch hinzu: »das erstemal, daß ich ernst mit mir zu Rate ging und mit einem bestimmten Entschluß auch meinen Willen bis zur Unbeugsamkeit wachsen fühlte. Meinen Abschied habe ich eingereicht, zugleich um Urlaub auf unbestimmte Zeit gebeten. Meinem Scheiden von hier steht kein Hindernis mehr entgegen, es sei denn, daß der Plan meiner Flucht zu früh ruchbar würde – nun, dann gibt es ja ein Mittel, allen Verfolgungen ein Ziel zu setzen, der Schmach und der Schande endgültig auszuweichen.«

»Entsetzlich!« sprach Amandus ergriffen vor sich hin.

»Ja, entsetzlich,« wiederholte Joachim mit eisiger Ruhe, »und ich danke dir, daß du von dem vergeblichen Versuch abstehst, mich in meinen Entschlüssen wankend zu machen. Ich unterlasse es, irgend jemand, gleichviel wen, anzuklagen. Der Schuldige bin ich allein. Mich allein trifft der Vorwurf der Schwäche, des Leichtsinns, der Gewissenlosigkeit, und ich bin bereit, alle Folgen auf mich zu nehmen. Ob die Flucht nicht eine schwerere Vergeltung ist, als ein zerschmettertes Gehirn, mag Gott wissen. Schwereres gibt es überhaupt nicht mehr, als ich in den letzten Tagen erduldete. Den schurkischen Mitwisser meines Geheimnisses, der zugleich für andere mein Gläubiger ist, im Verkehr mit meinen Eltern zu sehen, war genug, um mich an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Länger ertrage ich das nicht. Morgen um diese Zeit bin ich weit von hier, und wenn bis jetzt mich noch irgend etwas von dem letzten unwiderruflichen Schritt zurückhielt, so war es meine Hoffnung, in der Ferne mir der Eltern Verzeihung zu erwerben, mir eine neue bescheidene Zukunft anzubahnen oder in dem Versuch unterzugehen. Zu den Verschollenen gezählt zu werden, ergreift die Ärmsten sicher weniger, als wenn mich – doch mag das ruhen. Ich weiß, was ich will, und davon gehe ich nicht ab. Ha,« und mißtönend lachte er in die stille Nacht hinaus, »jetzt bin ich geheilt von den fluchwürdigen Leidenschaften, von dem verbrecherischen Leichtsinn, dem ich mein Unglück verdanke. Ein Mann bin ich geworden, allein zu was hilft das jetzt noch? Wer würde mir überhaupt glauben, wollte ich mir noch die Mühe geben, unter Anrufung des Heiligsten meine Umkehr zu beteuern? Bisher versprach ich nur, um es alsbald wieder zu vergessen. Du kennst jetzt meine Lage, aber auch meinen Willen. Ich dagegen weiß, daß du mein rückhaltloses Vertrauen achtest, und nun wollen wir von Anderem reden.

»So gern, so unendlich gern hätte ich Unica, die dritte im Bunde, noch einmal wiedergesehen, um ihr ein in unverfängliche Formen gekleidetes letztes Lebewohl zuzurufen; allein so oft ich meinen Weg hierher nahm, um ihr zu begegnen, mußte ich unverrichteter Sache umkehren. Wie du, scheint auch sie den Park nicht mehr betreten zu wollen, das hinderte mich zugleich, dich früher auszusuchen.«

»Wundere dich nicht darüber,« versetzte Amandus mit männlicher Offenheit, »ohne Bitterkeit sage ich es: seitdem Unica von seiten deiner Eltern die demütigende Begegnung erfuhr, durften wir Hof und Park nur als für uns verschlossen betrachten.«

»So hat sie es dir geklagt? Nun ja, was hätte sie hindern sollen, zumal sie vollständig in ihrem Recht? Ich begreife ihre Empfindungen, allein mir ausweichen, wie einem Geächteten – freilich, was bin ich denn anders? Sie muß mich wohl verurteilen.«

»Unica würde sich ebensowenig wie ich zum Richter über dich aufwerfen. Kein unfreundliches Wort über dich kam über ihre Lippen. Sie weilt übrigens nicht mehr bei uns –«

»Fort? Wohin?«

»Außer Blisterchen dürfte das kaum jemand wissen. Ich vermute, daß sie auf Veranlassung des großmütigen Beschützers, dem sie ihre Erziehung verdankt, vor einigen Tagen von hier fortgeholt wurde.«

»Ich bin es, der sie von hier vertrieb,« versetzte Joachim mit gequältem Lachen. »Also auch das noch! Pah, was braucht man noch viel Rücksicht auf einen Ausgestoßenen zu nehmen. Und ich hatte so zuversichtlich darauf gerechnet, wenn ich morgen früh durchs Parktor fahre, ihr von weitem einen Gruß zuzurufen.« Er starrte eine Weile vor sich nieder, und ungestüm sich wieder aufrichtend, fuhr er in beinah flehendem Tone fort: »Wenn Unica mich nicht verurteilte, so klage ich mich selber um so härter an. Ja, Amandus, ich habe mich an ihr versündigt in demselben Sinne, wie meine Eltern, wenn bei mir auch die Absicht der Kränkung fehlte. Ich habe sie beleidigt durch Überhebung und Leidenschaftlichkeit. Das hat mir keine Ruhe gelassen, seitdem wir zum letztenmal Aug in Aug einander gegenüberstanden. Sie auch in der Ferne noch zürnend zu wissen, würde eine neue Last für mich sein, und ich habe ohnehin schwer genug zu tragen. Hier ist ein Brief; den gib ihr, jedoch erst, wenn du mich fern weißt. Was ihr einzugestehen ich keine Gelegenheit mehr fand – wie ich voraussah – das habe ich niedergeschrieben. Aus aufrichtigem, blutendem Herzen habe ich sie um Verzeihung gebeten. Sie soll mich nicht milder beurteilen, als jeder andere, der von meinem Dahinsinken hört; wohl aber möchte ich mich an dem Bewußtsein aufrichten, daß, wie du, auch sie mich nicht gänzlich aufgibt, in ihrer Erinnerung die Lichtpunkte einer langjährigen Freundschaft vorwiegen. Warum konnte ich nicht als das Kind eines Grobschmieds geboren werden, wie du und Unica! Wie viel anders und besser wäre vieles geworden! Jetzt ist alles verloren. Eine schwache Hoffnung regt sich wohl noch in mir, allein die ist so vermessen, daß ich sie nicht einmal in meinen Gedanken auszuspinnen, noch weniger sie zu offenbaren wage –«

»Doch doch, Joachim, klammere dich mit ganzer Seele an sie fest, welcher Art sie auch sein mag,« versetzte Amandus erschüttert, und er begriff ja, daß es vergebliche Mühe sein würde, Joachim umstimmen zu wollen, sah ein, daß es mit Rücksicht auf seine verzweifelte Lage kaum einen anderen Ausweg für ihn gab, »und erscheint eine Hoffnung dir noch so vermessen, so hast du wenigstens etwas, woraus du Mut schöpfst, wenn schwere Prüfungen an dich herantreten. Zerreiße auch nicht die letzten Bande, die dich an die Heimat, an deine Eltern, an deine Freunde fesseln, oder du läufst Gefahr, daß das Gefühl gänzlicher Vereinsamung dich eines Tages übermannt. Vergegenwärtige dir stets, daß, was auch immer vorgefallen sein mag, wir alle dir auch fernerhin unsere alte Anhänglichkeit getreulich bewahren, jedes kleinste Zeichen deines Wohlergehens mit aufrichtigster Freude begrüßen.«

»Ich weiß es, ja, ich weiß es, und das macht mir das Scheiden von hier um so schwerer,« antwortete Joachim, und wiederum versank er in düsteres Brüten. Amandus in seiner schmerzlichen Teilnahme vermied, seinen Gedankengang zu unterbrechen. Erst nach einer längeren Pause richtete Joachim sich wieder aus.

»Jetzt bin ich gerüstet, meiner dunklen Zukunft entgegenzugehen,« begann er ruhig, »Du wirst unsere Zusammenkunft verheimlichen, wenigstens so lange, bis ich in Sicherheit bin.«

»Baue auf mein Wort.«

Joachim seufzte, wie nach Atem ringend.

»Den Brief übergibst du Unica?«

»Ich betrachte es als eine heilige Aufgabe. Besser, sie erfährt durch dich selber die Ursache deines geheimnisvollen Verschwindens, als wenn ich mich zum Träger deiner Worte mache.«

Joachim erhob sich. Amandus folgte seinem Beispiel.

»So wollen wir scheiden,« sprach er wehmütig, »wiedersehen werden wir uns schwerlich in diesem Leben. Mag das sein; du und Unica, ihr werdet meiner freundlich und nachsichtig gedenken; habt ihr doch stets so viel Nachsicht geübt, wenn der verzogene Junker euch mit seinen Launen peinigte.«

»Selbst in deinen harmlosen Launen offenbarte sich unzweideutig deine Anhänglichkeit.«

»Die konnte nie untergraben werden. Wäret ihr meine einzigen Freunde geblieben, so brauchte ich jetzt nicht als ein Gebrandmarkter in die Welt hinauszufliehen – lebe wohl; wenn die Zeit dazu da ist, grüße deine Eltern und Blisterchen herzlich von mir.«

Er umarmte den alten Gefährten. Als er sich von ihm losreißen wollte, hielt dieser ihn.

»Noch ein Wort, Joachim,« sprach er, »und das mag das letzte zwischen uns gewechselte sein. Versprich mir, was auch immer an dich herantreten mag, dich als einen Mann zu erweisen, nicht unter dem Druck widriger Verhältnisse den Mut zu verlieren und als Schwächling zu einer Unbesonnenheit dich hinreißen zu lassen.«

»Ich verstehe dich, Amandus; ja, ich verspreche es dir. Das ist mein letztes Wort.«

Hastig kehrte er sich um, und schnellen Schrittes schlug er die Richtung nach dem Hofe ein.

Amandus blickte ihm nach, so lange er seine schattenähnliche Gestalt zu unterscheiden vermochte.

»Armer Junge,« offenbarte er halblaut seine Gedanken, »was hätte bei deinen vielen guten Eigenschaften aus dir werden können, wärest du nicht in unrechte Hände gefallen.«

Langsam, das Haupt grübelnd geneigt, kehrte er nach der Schmiede zurück; geräuschlos, wie er es verlassen hatte, schlich er in sein Kämmerchen hinauf. –

Folgenden Morgens, die Sonne stand bereits hoch am Himmel, begab Joachim sich zu Wagen nach der Stadt, um von dort aus seine Reise mit der Post fortzusetzen. Er war in Zivil gekleidet. Ein Koffer, nicht groß genug, um Argwohn zu erregen, lag auf dem Vordersitz. Fröhlich grüßte er Amandus und Kunibertus, die in die Tür getreten waren, und lustig schwang er den kleinen Jagdhut ums Haupt, als hinter diesen auch Blisterchen und die Frau Meisterin auftauchten. Sein Antlitz glühte, lebhaft blickten seine Augen. Es war ersichtlich, er hatte den Freuden des Frühmahls in vollen Zügen gehuldigt, bis die vorgeschrittene Zeit ihn dringend zum Aufbruch mahnte. Sein Abschied konnte daher nur ein kurzer, dafür aber um so heiterer gewesen sein.

»Viel Vergnügen und glückliche Heimkehr!« rief man ihm nach.

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»Viel Vergnügen!« rief Joachim lachend zurück. In der Postkutsche aber lehnte er vollständig gebrochen in der Ecke. Er war der einzige Reisende; es hinderte ihn nichts, den Zwang abzuwerfen, unter dem er so lange verzweiflungsvoll geseufzt hatte. – –

Die drei Tage, die Joachim sich ausbedungen hatte, waren verstrichen, und noch immer weilte er fern. Seine Unzuverlässigkeit in solchen Dingen war indessen sprichwörtlich geworden. Selbst der argwöhnische Jockeiklamm fand nichts Beunruhigendes in seinem längeren Ausbleiben. Als aber auch der vierte Tag weder ihn, noch Kunde von ihm brachte, begann ein böser Verdacht sich in ihm zu regen. Doch er verheimlichte ihn sorgfältig, und als der Baron seinen Verdruß über die Rücksichtslosigkeit des jungen Mannes offenbarte, bekämpfte er diesen gemeinschaftlich mit der zärtlichen Mutter erfolgreich, so daß der heitere Verkehr auf dem Hofe dadurch einen Abbruch erlitt. Wenn aber Jockeiklamm es verstand, seine Besorgnisse hinter der Maske glücklicher Leichtfertigkeit zu verbergen, so rief es bei Wiedehopf den Eindruck hervor, als ob er gänzlich unfähig sei, über seine gerade fälligen Obliegenheiten hinaus zu denken, so maschinenhaft stumpf, aber auch pünktlich versah er seinen Dienst.

Der fünfte Tag war heraufgezogen, und nach dem gemeinschaftlich eingenommenen Frühmahl hatte der Baron sich in sein Arbeitszimmer hinaufbegeben, als Wiedehopf eintrat und die eingetroffenen Postsachen vor ihn auf den Tisch legte.

»Der Herr Leutnant scheint uns ganz vergessen zu haben,« bemerkte der Baron unwillig, indem er die Briefe, deren Aufschriften prüfend, durch seine Hände laufen ließ.

»Halten der Herr Baron zu Gnaden,« antwortete Wiedehopf unterwürfig, und demutvoll senkte er die Lider über die großen Augäpfel, »junge Leute gehen gern ihre eigenen Wege. Der Herr Leutnant befinden sich ja in guter Gesellschaft.«

Der Baron überhörte die letzten Worte. Einen Brief größeren Formats hielt er vor sich, dessen an seinen Sohn gerichtete Aufschrift nachdenklich betrachtend. Wiedehopf sah ein, daß er überflüssig geworden, und entfernte sich geräuschlos.

»Vom Regimentskommando?« sprach der Baron nach einer längeren Pause zweifelnd. Eine Weile schwankte er; dann einem Gefühl der Unruhe nachgebend, öffnete er das Schreiben. Langsam, Wort für Wort las er dessen aus wenigen Zeilen bestehenden Inhalt. Zugleich vollzog sich auf seinem Antlitz eine beängstigende Wandlung. Die Züge erschlafften und verloren ihre letzte Lebensfarbe. Sobald er aber geendigt, lehnte er sich zum Tode erschöpft auf seinem Stuhl zurück. Gleichsam gebannt hingen seine Augen an dem seinen Händen entsunkenen Schreiben. So verrann Minute auf Minute in lautloser Stille. Ein tiefer, schmerzlicher Seufzer unterbrach diese endlich, und ohne seine Stellung zu verändern, lispelte er unbewußt: »Was kann ihn nur bewogen haben, seinen Abschied zu fordern – Hans, Hans, was an dir gesündigt wurde, es rächt sich furchtbar an dem Unbesonnenen –«

Abermals folgte eine Pause tiefer Stille und bangen Grübelns, und abermals kleidete er die sich weiterspinnenden Gedanken in Worte: »Und ich glaubte, auf seine heiligen Versprechungen bauen zu dürfen. Mein Gott, mein Gott, was steht mir bevor – Hans – Hans, du bist es, der in ihm auflebt! Wo bleibt er? Wo ist er? Zu welchem Entschluß haben mutwillig heraufbeschworene Schrecken und Angst ihn getrieben?«

Entsetzt sprang er auf. Die Füße versagten den Dienst. Kraftlos sank er auf den Stuhl zurück. Das Kinn neigte er auf die Brust. Nicht den leisesten Versuch unternahm er, den schrecklichen Bildern zu wehren, die in schneller, wirrer Folge beängstigend vor seinem Geiste vorüberzogen. Er begriff, daß nur eine unerschwingliche Schuldenlast seinen Sohn zu dem unseligen Schritt bewogen haben konnte, als er in dem Bewußtsein der Rettungslosigkeit dem elterlichen Hause den Rücken kehrte. Wie ein Höllengeist tauchte die bewegliche Gestalt Jockeiklamms vor seiner Seele auf. Keinen Augenblick bezweifelte er, daß dessen unerwarteter Besuch in engster Beziehung zu Joachims unfehlbar schwer bedrängter Lage zu bringen sei, keinen Augenblick, daß dessen Anwesenheit auf dem Hofe, gewissermaßen eine unablässige furchtbare Drohung, den Verzweifelnden von dannen getrieben habe. Aber wohin? Wohin? Neue Bilder verdrängten die alten. Bilder aus jenen Tagen, in denen er teilnahmlos duldete, daß derselbe Jockeiklamm, derselbe alte Spieler, seinen eigenen Bruder von Stufe zu Stufe abwärts führte, bis endlich die Wogen des Verderbens über ihm zusammenschlugen. Tiefer neigte er das Haupt; seine Lippen zuckten.

»Hans – Hans, du bist furchtbar gerächt. Ins Leben zurückrufen wollte man dich – ja, erstanden bist du, erstanden in meinem Sohne, meinem einzigen Kinde. Was wird sein Ende sein – wo soll ich den Unglückseligen suchen, wie werde ich ihn finden –«

Seine Gedanken stockten. Es erwachte in ihm die Empfindung, daß er selbst am wenigsten den Mut verlieren dürfe, daß, wenn überhaupt noch Rettung möglich, sie in seinen Händen allein liege. Keinen Berater konnte er gebrauchen, keinen Mitwisser durfte er neben sich dulden. Verschlossen in der Haltung und vorsichtig im Auftreten gelang es ihm vielleicht noch, das auf ihn und die Seinigen hereingebrochene Verhängnis auf ein geringes Maß zu beschränken, und in der Erinnerung an seinen unglücklichen Bruder gab es ja kein Opfer, das zu bringen er nicht mit Freuden bereit gewesen wäre.

Schwerfällig erhob er sich. Indem er auf und ab zu wandeln begann, war es, als ob die Bewegung ihm neue Kräfte zuführe. Fester wurde sein Schritt, zuversichtlicher seine Haltung. Nur die Farbe wollte nicht auf sein Antlitz zurückkehren, und er fühlte, daß er vorläufig noch nicht wagen durfte, sich den scharfen Blicken Jockeiklamms oder seiner Frau auszusetzen. Und so schritt er auf und ab, eine Stunde und noch eine, die Augen gesenkt, die Zähne bis zum Knirschen aufeinander pressend, die Arme auf der Brust verschränkt. Zuweilen warf er sich wohl auf den Lehnstuhl, doch nur kurze Zeit, und er nahm seine unruhige Bewegung wieder an.

Wiedehopf erschien, um ihn im Auftrage der Baronin nach einer schattigen Laube im Garten einzuladen, wo der unermüdliche Jockeiklamm sein tändelndes Wesen trieb.

»Sage, ich bäte, mich zu entschuldigen,« lautete des Barons Antwort, und weiter wandelte er finster und in sich gekehrt, hadernd mit sich selbst, hadernd mit dem Geschick und allem, was ihn je verdroß oder erfreute.

Zu der festgesetzten Stunde erschien Wiedehopf abermals mit der Meldung, daß angerichtet sei.

Der Baron trat vor den Spiegel. Mit einem feuchten Schwamm fuhr er über Gesicht und Augen. Scharfes Reiben mit dem Handtuch gab ihm seine gewöhnliche Farbe zurück. Gleich darauf trat er mit freundlichem Gruß in das Gartenzimmer, wo die Baronin und Jockeiklamm seiner bereits harrten. Beide suchten verstohlen sein Antlitz. Der Baron mochte ihre Blicke fühlen, denn ohne eine Frage abzuwarten, erklärte er bedachtsam: »Recht unangenehme Nachrichten habe ich erhalten. Es schweben Geschäftsangelegenheiten, die nur durch mein persönliches Eingreifen erledigt werden können und mich in die Notwendigkeit versetzen, noch heute mit der Nachmittagspost abzureisen.« Dann zu Wiedehopf: »Du hast es gehört. Sobald du abkömmlich bist, geh' nach oben und packe meinen Koffer für eine viertägige Abwesenheit. Von Ihnen aber, mein teurer Herr von Klamm, darf ich wohl erbitten, daß Sie noch einige Tage oder Wochen sich heimisch unter meinem Dach fühlen. Joachim muß doch endlich eintreffen, und seine Aufgabe wird es sein, mich als Wirt gebührend zu vertreten.«

Die Baronin schaute befremdet. Mit seinem harmlosesten, verbindlichsten Lächeln beteuerte Jockeiklamm, wie hoch die Einladung ihn beglücke. Beide fühlten, daß der Baron etwaigen Fragen über die eigentliche Ursache der schleunigen Abreise unzugänglich war. Doppelt angelegen ließen sie es sich daher sein, die etwas erzwungen heitere Unterhaltung nicht ins Stocken geraten zu lassen. –

Pünktlich, wie ihm befohlen worden war, packte Wiedehopf den Koffer. Vorher hatte er den an Joachim gerichteten Brief gelesen. Ob der bewilligte Abschied ihn überraschte, ob er ihn beängstigte oder befriedigte, hätte der aufmerksamste Beobachter aus seinen stumpfen Zügen nicht entziffert. Das rüsselartige Zuspitzen der Lippen konnte ebensogut als ein Ausdruck der Freude, wie des Verdrusses gelten. Die stieren Fischaugen sagten nicht mehr, als zwei Achatkugeln an ihrer Stelle getan hätten.


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