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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Eine Beweisführung.

Wenn die Bewohner des Hofes und der Zwillingshäuschen die letzten sechzehn Jahre mehr oder minder wohlbehalten überdauerten, so dursten Doktor Robert Hasselfeld, sein Freund Bertram Schierling und Veronika sich rühmen, in ihrem beschaulichen Dasein ebenfalls von welterschütternden Ereignissen verschont geblieben zu sein. Nach wie vor beschäftigte der alternde Giftmischer sich mit neuen Erfindungen, die immer noch keinen Umschwung in der Chemie bewirken wollten; nach wie vor besorgte Veronika, die erheblich runder und häßlicher geworden war, seine Haushaltung, und nach wie vor endlich erfreute der Doktor sich einer kernigen Gesundheit.

Die einzige Wandlung in dem Leben des letzteren beschränkte sich darauf, daß er nur da noch als Hausarzt ein und aus ging, wo man mit ihm alt geworden war. Wie er seine Stellung als Gefängnisarzt einer jüngeren Kraft überlassen hatte, vermied er auch, neue Verbindungen anzuknüpfen. Kein Wunder daher, daß man ihn, mit ›Ausnahme‹ der Klubabende, und die fanden täglich statt, ›gewöhnlich zu Hause‹ traf, wo er sich mit der Abfassung eines Werkes über seine Lieblingskrankheiten eifrig beschäftigte. So auch an einem durch schweres Gewölk getrübten Spätsommernachmittage.

»Wie viele indifferente Medikamente werden verabreicht, nur um gläubigen Patienten –« hatte er eben mit einem spöttischen Lächeln als Anmerkung in das Manuskript eingetragen, als seine alte Haushälterin erschien und den Herrn Baron von Scherben anmeldete.

Der Doktor fuhr auf seinem Armstuhl herum. Sein volles Antlitz erglühte etwas tiefer, und in der rechten Hand die hoch erhobene Feder, mit der anderen die Brille nach der Stirn hinaufschiebend, starrte er befremdet auf die Alte.

»Wer?« fragte er in der stillen Hoffnung, sich verhört zu haben.

»Der Herr Baron von Scherben läßt um die Ehre bitten.«

Hinter der niedersinkenden Brille schlossen sich die Augen und abermals hieß es ungläubig: »Der Herr Baron von Scherben?«

»Dem Herrn Doktor zu dienen.«

»Wie sieht er aus?«

Haar und Bart sind ergraut. Im übrigen macht er sich sehr vornehm.«

»So? Hm. Führen Sie ihn ins Sprechzimmer. Sagen Sie, ich ließe bitten, Platz zu nehmen und ein wenig zu warten.«

Die Haushälterin verschwand. Der Doktor erhob sich und begann so schnell auf und ab zu schreiten, wie seine nicht mehr jungen Beine es eben gestatteten.

»Was mag der nur von mir wollen? Hat wohl gar das Kind entdeckt, nach dem ich selbst so lange vergeblich forschte?«

Dieser letzte Gedanke war entscheidend für ihn. Er warf den Hausrock ab, und in ernster, würdevoller Haltung begab er sich in das Sprechzimmer. Er nahm so Platz, daß sein Gesicht im Schatten blieb, während das des Barons von dem durch die Fenster hereinfallenden Tageslicht voll getroffen wurde.

»Womit kann ich dienen?« eröffnete er alsbald das Gespräch, »ich erlaube mir vorauszuschicken, daß ich schon seit Jahren mich von der Praxis zurückzog –«

»Nicht um ärztlichen Rat nahm ich mir die Freiheit, bei Ihnen anzuklopfen,« fiel der Baron ein, und eine eigentümliche Befangenheit, die den Doktor unheimlich berührte, bestimmte den Ausdruck seiner Züge. »Ich möchte Näheres über Ereignisse erkunden, die allerdings in weiter Vergangenheit liegen. Sie erinnern sich vielleicht meines unglücklichen Stiefbruders –«

»Ein Scherben starb vor vielen Jahren in der Strafanstalt,« warf der Doktor ein.

»Derselbe,« fuhr der Baron fort. »Um etwas Zuverlässiges über seine letzten Tage zu erfahren, begab ich mich heute in der Frühe nach der Anstalt. Bereitwillig schlug man in den Büchern nach, und da stellte sich heraus, daß er einer bösartigen Krankheit erlegen sei und ein Doktor Hasselfeld ihn nicht nur behandelt, sondern auch, um dem Ausbruch einer Epidemie vorzubeugen, die Beerdigung persönlich überwacht habe.«

Der Doktor hatte die Augen hinter der Brille geschlossen. Eisige Kälte hatte sich um seine Brust gelegt. Erst nach einer Pause gewann er es über sich, den Baron wieder anzusehen, zugleich antwortete er: »Ja, ich entsinne mich. Die Gefahr war zu groß, um die mißliche Angelegenheit weniger zuverlässigen Händen anvertrauen zu dürfen.«

»Sie sind also sicher, daß der Unglückliche wirklich beerdigt wurde?«

»So sicher, wie nur jemand sein kann, der in ein zu solchem Zweck geöffnetes Grab schaute,« hieß es zurück.

»Ich meine, daß kein anderer an meines Bruders Stelle in die Erde gesenkt wurde?«

»Dafür bürge ich mit meiner Ehre,« sagte der Doktor mit Betonung; »darf ich aber um eine Erklärung Ihrer überraschenden Frage bitten?«

»In ernsten Dingen ist die rückhaltloseste Offenheit geboten,« nahm der Baron wieder das Wort, »auf alle Fälle wird dadurch Mißverständnissen vorgebeugt. Mir ist nämlich von Amerika die Nachricht zugegangen, daß mein Bruder noch lebe und in Gesellschaft seiner Tochter sich verhältnismäßig wohl befinde.«

Der Atem des Doktors setzte einige Züge aus. Nur unter Aufbietung seiner äußersten Willenskraft gelang es ihm, mit einem Lächeln zu erwidern: »Wie mag man solchen Nachrichten nur den geringsten Wert beilegen. Freilich, es kommt darauf an, von wem sie herrühren. Und dennoch sind in diesem Falle die Beteuerungen eines Heiligen nicht höher anzuschlagen, als die eines Halunken, der sich ein Vergnügen daraus macht, seine Mitmenschen zu narren.«

Sein seidenes Taschentuch hervorziehend, begann der Doktor seine Brillengläser eifrig zu putzen. Die Erwähnung der Tochter ließ ihn die Wahrheit der geheimnisvollen Kunde kaum noch bezweifeln.

»Einen ähnlichen Eindruck empfing ich selber,« erklärte der Baron, »trotzdem will eine marternde Unruhe nicht von mir weichen. Ich bekenne, überall verfolgen mich schreckliche Bilder. Wie ich mich dagegen sträuben mag: trotz Ihres besseren Wissens drängt sich unwiderstehlich die Ahnung mir auf, daß mein Bruder dem Gefängnis und dem Grabe entrann und heut noch unter den Lebenden weilt. Und mehr noch: Diese Ahnung, ich fühle es, gewinnt allmählich einen derartigen Charakter der Überzeugung, daß ich, um den Frieden meiner letzten Tage nicht gänzlich untergraben zu lassen, nicht davor zurückschrecken darf, das Öffnen des Grabes zu beantragen.«

»Gewiß ein vernünftiger Gedanke,« meinte der Doktor schweren Herzens, und er heftete einen ängstlich forschenden Blick auf die gesenkten Lider des Barons, »ich vermute, Sie haben in der Strafanstalt oder bei der Polizei die darauf bezüglichen ersten Schritte bereits eingeleitet?«

»Bis jetzt noch nicht. Ich konnte es nicht, ohne zuvor Rücksprache mit Ihnen genommen zu haben.«

»Wenn bei jemand irgend ein peinlicher Verdacht erst den Charakter einer fixen Idee angenommen hat,« versetzte der Doktor begutachtend, »so sind alle Ärzte der Welt nicht imstande, diese endgültig zu verscheuchen. Aus welcher Quelle schöpfen Sie Ihre Beunruhigung?«

Der Baron zog den Brief hervor und überreichte ihn schweigend dem Doktor. Dieser las ihn sehr bedächtig, und nachdem er geendigt, gab er ihn mit einem beinah mutwilligen Lächeln zurück.

»Das elende Schriftstück hat augenscheinlich einen ganz raffinierten Schurken zum Verfasser,« bemerkte er dabei, »und ich erstaune, daß Sie es nicht sofort den Flammen übergeben haben. Aber immerhin, bei Ihrer offenbar leicht erregbaren Phantasie ist der Anblick eines Gegenstandes, der, wenn auch unberechtigt, in peinlicher Spannung erhält, geradezu gefährlich. Es sollte mich nicht wundern, wären Sie unter dem ersten Eindruck auf den lächerlichen Erpressungsversuch eingegangen.«

»Ich war drauf und dran,« bestätigte der Baron, »entschied mich indessen noch rechtzeitig dafür, zuvor genaue Erkundigungen einzuziehen.«

»So preisen Sie sich glücklich,« versetzte der Doktor, »denn hätten Sie dem schamlosen Betrüger auch nur die geringste Beachtung geschenkt, so würde er dadurch unfehlbar zu neuen Verfolgungen aufgemuntert worden sein. Sie sind viel zu ängstlich.«

»Was Sie mir sagen, Herr Doktor, klingt so folgerichtig, so beruhigend, und dennoch, ich schäme mich fast, es einzugestehen, gewinnt mein Argwohn immer wieder die Oberhand. Sie selbst können getäuscht worden sein – nennen Sie es meinetwegen eine krankhafte Idee – allein ich fühle es, meinen Frieden finde ich nicht, bevor ich nicht einen Blick in den geöffneten Sarg geworfen habe – nein, ich kann nicht anders.«

»Haben Sie die möglichen Folgen erwogen, die den sich Ihnen bietenden Anblick begleiten? Bedenken Sie, sechzehn Jahre sind eine lange Zeit,« sprach der Doktor. Er zögerte einige Sekunden, und berechnend fügte er hinzu: »Abgesehen von der Schwierigkeit der Aufgabe, in Asche und Moder nach untrüglichen Merkmalen zu wühlen, ist das Bild der Verwesung nur zu sehr geeignet, das kleinste gegen einen Verstorbenen begangene Unrecht zu erdrückender Größe anwachsen zu lassen.«

Der Baron wechselte die Farbe und nagte heftig auf der Unterlippe. Die letzten Worte des Doktors hatten ihn bis ins Mark hinein getroffen. Gespannt beobachtete ihn der alte Herr. Er mochte seine Gedanken erraten, denn mehr und mehr breitete ein Ausdruck der Befriedigung sich über sein ehrliches Antlitz aus.

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Plötzlich richtete der Baron sich auf, und ängstlich des Doktors Augen suchend, hob er mit einer Stimme an, die von einem schweren Seelenkampf Zeugnis ablegte: »Wie anders soll ich meinen Argwohn beschwichtigen? Herr Doktor, Sie sind ein Ehrenmann. Nicht den leisesten Zweifel setze ich in Ihre Gewissenhaftigkeit. Beteuern Sie mir auf Ehrenwort, daß Sie meinen toten Bruder in seinem Sarge liegen sahen, und ich will versuchen, die schrecklichen Beängstigungen von mir abzustreifen.«

Einen Blick der Verwirrung verbarg der Doktor, indem er mit den gespreizten Fingern an seiner Brille rückte, und mitleidig antwortete er: »Ich könnte allerdings beschwören, daß ich Ihren Bruder starr im Sarge liegen sah, doch wie lange würden Sie mir glauben? Wie ich Sie jetzt beurteile, nicht länger, als bis Sie meine Wohnung verlassen haben und mit Ihren finsteren Grübeleien wieder allein sind.« Er sann eine Weile nach, und wie von einer glücklichen Eingebung durchdrungen, sprach er lebhafter: »Und doch kenne ich ein Mittel, Sie von Ihren Sorgen und Bedenken ein- für allemal gründlich zu heilen. Bitte, haben Sie nur die Güte, mich aus einem kurzen Gange durch die Stadt zu begleiten. Entschuldigen Sie mich eine Minute.«

Nach kurzer Abwesenheit trat er wieder bei dem Baron ein, der sich erhoben und nach seinem Hut gegriffen hatte.

»Ich erwarte,« sprach er ernst, »von Ihrer Ehre, daß Sie über alles, was Sie erfahren werden, das strengste Geheimnis walten lassen.«

Der Baron sah verstört in des Doktors nunmehr ruhiges Antlitz und verneigte sich zustimmend. Gleich darauf traten sie aus die Straße hinaus, wo sie alsbald die Richtung nach einem entlegeneren Stadtteil einschlugen. Nach einer Wanderung von etwa zwanzig Minuten bog der Doktor in einer schmalen Straße auf ein unansehnliches zweistöckiges Haus zu. Mit kräftigem Griff zog er an dem neben der Haustür befindlichen verrosteten Ringe.

»Ist Herr Schierling zu Hause?« fragte der Doktor.

»Zu Hause, Herr Doktor,« antwortete Veronika.

Der Doktor nahm den Vortritt bis an die im Hintergründe liegende, nur angelehnte Tür, und diese aufstoßend, lud er den Baron ein, näher zu treten. Dieser hatte kaum den ersten Schritt in das überfüllte Laboratorium hinein getan, als er, wie von einem Gifthauch angeweht, stehen blieb. Ratlos sandte er die Blicke über das in seinem Gesichtskreise befindliche Chaos hin, bis sie endlich auf einer in verschlissener Schlafjoppe vor dem klebrig glänzenden Tisch zusammengekrümmt sitzenden Gestalt haften blieben.

»Mein lieber Bertram,« redete der Doktor den verbissenen alten Giftmischer alsbald an, »ich habe die Ehre, den Herrn Baron von Scherben einzuführen. Der Herr wünscht Auskunft über Ereignisse zu erhalten, die vor sechzehn Jahren stattfanden.«

Schierling riß sich von den ihn bis dahin fesselnden Fläschchen und Phiolen los und erhob sich.

Mochten immerhin im Laufe der Zeit jene Ereignisse und die sich an sie knüpfenden Gefahren bei ihm in Vergessenheit geraten sein, so hatte er sich doch in den ersten Jahren nach Scherbens Flucht bedachtsam darauf vorbereitet, etwaigen Nachforschungen mit der unschuldigsten Miene zu begegnen. Er brauchte daher nur den Namen des Barons zu hören, um, Unrat witternd, sofort wieder gerüstet zu sein.

»Sehr angenehm,« antwortete er auf die Vorstellung. »Bitte, meine Herren, nehmen Sie gefälligst Platz,« und den nächsten Stuhl halb umkippend, daß die aus ihm liegenden Bücher polternd zur Erde fielen, schob er ihn dem Baron hin, dem Doktor anheimgebend, sich auf der Tischkante häuslich niederzulassen. »Womit kann ich aufwarten?«

»Der Herr Baron wünscht in einer sehr ernsten Angelegenheit dein Urteil zu hören,« antwortete der Doktor. »Du entsinnst dich gewiß des in der Strafanstalt verstorbenen Barons von Scherben?«

»Sicher,« fiel Schierling ein. »Dergleichen vergißt man nicht leicht; stand ich doch selber an seinem Grabe.«

»Gut, Bertram. Nun ist dem Herrn Baron, offenbar von böswilliger Seite, die Kunde zugegangen, daß derselbe Hans von Scherben in Amerika lebe, und das beunruhigt ihn in einer Weise, daß er schon daran dachte, das Grab öffnen und untersuchen zu lassen. Um seiner selbst willen riet ich davon ab, halte mich aber für verpflichtet, ihn von seinen leicht erklärlichen Sorgen zu befreien. Ich bitte dich daher, mit deiner Enthüllung nicht zu säumen.«

Schierling sah durchdringend in des Doktors Augen, der, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, zustimmend das Haupt neigte. Dann kehrte er sich dem Baron zu, dessen Antlitz eine Spannung verriet, die durch die Atmosphäre wie die Umgebung bis ins Krankhafte gesteigert wurde. »Man soll nicht in den Gräbern der Verstorbenen wühlen,« sagte Schierling ernst und sofort Herr der Situation. »Was die Erde in sich ausgenommen hat, gehört der Erde allein. Bestehen der Herr Baron dennoch darauf, einen unzweideutigen Beweis von dem traurigen Ende Ihres unglücklichen Bruders vor Augen geführt zu erhalten, so bin ich bereit, die Gespenster, die ein abgefeimter Schurke vor Sie hinbeschwor, mit einem Schlage zu vernichten.«

»Ich muß, ich kann nicht anders,« antwortete der Baron dumpf.

»So sei es denn,« fuhr Schierling fort, »bitte, mein werter Herr Baron, treten Sie gefälligst hierher,« und er führte ihn vor seine bestaubte knöcherne Leibgarde hin. Mit sicherem Griff packte er das eine Skelett an der ihm als Stütze dienenden Eisenstange, und es aus der Reihe hebend, stellte er es, mit dem Rücken dem Baron zugekehrt, vor diesen hin. Zugleich hatte er einen Gänseflügel zur Hand genommen, und eine Staubwolke von dem gefirnißten weißen Schädel fegend, wies er zum Schluß mit dessen Spitze auf eine am Hinterkopf aufgetragene Inschrift.

»Bitte, Herr Baron, lesen Sie,« wendete er sich darauf mit dein Ernst eines Totenrichters an diesen, der, von schwarzen Ahnungen erfüllt, seinen Anordnungen wie geistesabwesend folgte. »Lesen Sie. Sollte der Eindruck auf Sie kein freundlicher sein, so erinnern Sie sich: es war Ihr Wille.«

»Baron Hans von Scherben –« las der Baron unwillkürlich halblaut. Er konnte nicht fortfahren.

»Zweifeln Sie noch?« fragte Schierling ruhig.

»Das ist entsetzlich!« lispelte der Baron in seiner grenzenlosen Bestürzung.

In der Absicht, es auf seinen Platz zurückzustellen, kehrte Schierling das Skelett um, infolgedessen die leeren Augenhöhlen in der Entfernung weniger Handbreiten ausdruckslos in das Antlitz des Barons stierten und die beiden nackten Zahnreihen ihn häßlich angrinsten.

Der Baron taumelte zurück. Leichenfarbe breitete sich über seine Züge aus. Nach seinem Stuhl hinüberschwankend, ließ er sich schwerfällig nieder, und wiederum sprach er wie im Traume: »Das ist entsetzlich. Wäre es mir doch erspart geblieben,« und so überwältigend war der Eindruck, daß er nicht einmal zu fragen wagte, wie das Skelett dorthin gekommen.

Mitleidig beobachtete ihn der Doktor. Die auf eine tiefe Erschütterung berechnete Täuschung widerstrebte ihm; und doch gab es kein anderes Mittel, die angedrohte Maßregel abzuschneiden und damit dem letzten Willen der Verstorbenen Rechnung zu tragen.

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Erst nach einer längeren Pause tiefer Stille, während der Schierling seine fleischlose Leibgarde wieder in Reih und Glied ordnete, trat der Doktor vor den gebeugt Dasitzenden hin.

»Sie haben es gewollt und so ist es geschehen,« sprach er teilnahmvoll, »möge Ihnen nunmehr die Ruhe zuteil werden, die Sie meinten, vorher nicht finden zu können. Aber jetzt zu der Tatsache selbst. Was Ihnen grausig erscheint, ist ein gewöhnliches Vorkommnis, einzig darauf berechnet, der leidenden Menschheit zu nützen. Vor der Wissenschaft öffnen sich die Gräber, unbekümmert um die Herkunft des Leibes, der ihnen anvertraut wurde. Die Gebeine dort stammen vorzugsweise aus Strafanstalten. Da sie nicht freiwillig herausgegeben wurden, nahmen wir, um in deren Besitz zu gelangen, allerdings zu unerlaubten Mitteln unsere Zuflucht. Bei Ihrem Bruder bestimmten rätselhafte Krankheitserscheinungen unser Verfahren. Wir fanden reichen Lohn in dem Segen, der für andere daraus hervorging. Damit haben Sie die Erklärung dafür, daß ich von dem Öffnen des Grabes abriet. Mit diesem Geständnis geben mein Freund Schierling und ich uns in gewissem Sinne in Ihre Hände. Würde man auch die mißliche Angelegenheit zurzeit als verjährt betrachten und von weiteren Verfolgungen absehen, so wäre es doch sehr peinlich, daraufhin dem Urteil der Öffentlichkeit preisgegeben zu werden. Und schließlich darf nicht unterschätzt werden, daß in diesem Falle Ihnen ohnehin die Gelegenheit geboten wurde, Ihr Gemüt von einer drückenden, sogar gefährlichen Last zu befreien.«

Der Baron sandte einen scheuen Blick nach dem Skelett hinüber, dessen einer Arm, mittelst eines glatten Drahtringes an dem Schulterknochen befestigt, nach Schierlings rauher Behandlung noch leise schwankte.

»Bei Gott,« entwand es sich seinen Lippen, »ich hätte mich lieber mit der Hoffnung getragen, in diesem Leben noch einmal mit ihm zusammenzutreffen. Und dann die rätselhafte Nachricht über das Mädchen. Seitdem ich das las, will der Gedanke an eine Waise, die allen Unbilden einer unbarmherzigen Welt ausgesetzt ist, nicht mehr von mir weichen.«

Bei dieser letzten Bemerkung erhielten des Doktors Züge einen weicheren Ausdruck.

»Darüber beruhigen Sie sich ebenfalls,« sprach er mit einer Milde, die den Baron tröstlich berührte, »ein Kind, eine Tochter, soll freilich hinterblieben sein; doch wer wäre heute noch imstande, dessen Spuren zu entdecken oder gar zu verfolgen? Es mag längst, längst in Staub zerfallen sein«, – und seine Stimme zitterte in der Erinnerung an eine sterbende junge Mutter – »denn einem Hauch ähnlich ist das Leben solcher zarten Geschöpfe. Derjenige aber, dem kein Mittel zu niedrig scheint, um es zu Gelderpressungen zu benutzen, war eben vertraut mit Ihren Familienverhältnissen und rechnete auf Ihre Gemütsstimmung; dadurch erklärt sich alles.«

»So bin ich jetzt wenigstens in der Lage, fernere Zuschriften von der gleichen Hand ungelesen vernichten zu können,« erklärte der Baron finster.

»Das tun Sie, ja, mag es Sie immerhin einige Überwindung kosten,« versetzte der Doktor.

Der Baron sah wieder nach dem Skelett hinüber.

»Ist es möglich, kann das mein eigener Bruder sein?«

Ein Schauder durchrieselte ihn. Leise wand er sich auf seinem Stuhl, wie um Herr seiner Empfindungen zu werden, allein es gelang ihm nicht. Er schien die Anwesenheit der Zeugen vergessen zu haben. Es war, als hätte der leibhaftige Tod mit Stundenglas und Hippe vor ihm gestanden, ihn unerbittlich mahnend, daß nunmehr auch seine Uhr abgelaufen sei.

»Und ich hätte dir helfen, dich retten können,« murmelte er selbstvergessen vor sich hin; »in meiner Gewalt lag es, dich vor dem Gräßlichsten zu bewahren, und du weiltest vielleicht heut noch unter den Lebenden; doch ich zögerte, bis es zu spät war. Jetzt ist deinem irdischen Teil nicht einmal die Ruhe des Grabes geworden –« hastig kehrte er sich den beiden Freunden zu. Sein eben noch so bleiches Gesicht erglühte wie nach einer erschöpfenden Arbeit. Unwille leuchtete unter seinen tief gerunzelten Brauen hervor.

»Der dort zur Schau steht, war mein Bruder,« hob er an, und mit jedem neuen Wort wurde er wieder mehr er selbst. »Mein ganzes Innere sträubt sich dagegen, die irdischen Reste desjenigen, der mir im Leben so nahe stand, länger hier zu wissen. Mir ist, als könnte die Seele nicht zur Ruhe gelangen, während die Gebeine, die sie einst beherrschte, sich in dieser unnatürlichen Lage befinden.«

Und mit einschmeichelnder Knarrstimme erklärte Schierling belehrend: »Sobald die Seele sich von dem Körper trennt, hat sie nichts mehr mit dem bißchen Phosphor- und kohlensauren Kalk zu schaffen. Aber ich pflichte Ihnen insoweit bei, als Ihre Phantasie dabei beteiligt ist. Liegt Ihnen daran, so bin ich gern erbötig, den irdischen Überresten ein ehrenhaftes Begräbnis zu bereiten, und zwar ohne das geringste Aufsehen zu erregen. Ich möchte mir nämlich erlauben, sofern Sie keine Einwendungen dagegen erheben, durch einen chemischen Prozeß – meine eigene Erfindung und der Erfolg langjährigen Experimentierens – die Gebeine in ein winziges Häuflein Asche zu verwandeln.«

Der Baron warf einen flehenden Blick auf den Doktor. Dieser verstand die stumme Bitte und versicherte bereitwillig: »Bauen Sie auf mein Wort: wenn die Augen eines Sterblichen sich auf die kleine anatomische Sammlung meines Freundes richten, sollen sie nichts finden, was je in irgendeiner Beziehung zu Ihnen gestanden hat.«

Flüchtig betrachtete er nach dieser Zusage den verstockten alten Giftmischer. Er fürchtete offenbar dessen Widerspruchsgeist selbst in diesen ernsten Minuten. Schierling beschränkte sich indessen darauf, durch spöttisches Zucken seiner Bartbürste inniges Verständnis dafür zu verraten, daß der Doktor seiner Beteuerung eine Form gab, die jede unmittelbare Täuschung ausschloß. Kam es ihm selbst doch nicht darauf an, zur Erreichung ihm ehrenwert erscheinender Zwecke das Blaue vom Himmel herunterzulügen.

Die Haltung des Barons hatte sich unterdessen merklich geändert. Die durch Vorführung des Skelettes gewonnene Überzeugung verscheuchte die Unruhe, die ihn bisher gemartert hatte, und überwucherte schnell jene Anwandlungen von Schwäche, von denen zweifelhaft war, ob sie in milden Regungen oder in unbestimmter Furcht ihren Ursprung fanden. Es rief fast den Eindruck hervor, als ob er sich nunmehr des bewiesenen Kleinmutes schäme, wohl gar fürchte, in den ihn fast betäubenden Erregungen mit seinem Vertrauen zu weit gegangen zu sein. Den Anblick der knöchernen Leibwache meidend, erhob er sich. In vornehm verbindlicher Weise reichte er dem Doktor die Hand. Nachdem er ihm seinen Dank ausgesprochen hatte, verbeugte er sich vor Schierling. Die Hand bot er ihm nicht. Es mochte ihm die unheimliche Beschäftigung vorschweben, bei der die braungefleckten Finger einst ihre Kunstfertigkeit bewährten.

Den Dank lehnten beide ab, jeder auf seine Art. Hastig, beengt durch die über dem wunderlichen Chaos lagernde, mit dem Duft der verschiedenartigsten Chemikalien durchdrungene Atmosphäre, verabschiedete sich der Baron. Der Doktor begleitete ihn. Bevor sie das Haus verließen, fand er Gelegenheit, dem Freunde zuzuraunen: »In einer halben Stunde bin ich zurück.«

Indem er aber den Baron von seinen Beängstigungen befreite, hatte er diese zu seinen eigenen gemacht. Keinen Augenblick bezweifelte er, daß der Mann, dem er einst zur Flucht verhalf, in der Tat noch lebe, und dessen Tochter, trotz der abgelegten Gelübde, sich bei ihm befinde; darüber aber mußte er, alle Möglichkeiten ins Auge fassend, mit dem ramponierten alten Giftmischer in eine ernste Beratung eintreten.


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