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Viertes Kapitel.
Nach dem Friedhofe.

Eine Woche und darüber war hingegangen, und ein trüber Tag folgte dem anderen regelmäßig, und ebenso regelmäßig hielt der Doktorwagen vor der Strafanstalt, um nach längerer oder kürzerer Frist seinen Besitzer aus mancherlei Umwegen nach dem äußersten Ende der Vorstadt hinauszutragen. Dort fuhr er auf der breiten Landstraße langsam hin und her, wogegen der Doktor zwischen Ställen und Gärten hin das elende Heim der armen Dulderin aufsuchte.

Seine Beobachtungen hatten ergeben, daß trotz der sorgfältigen Pflege die Kranke ihrem Ende schnell entgegen siechte. Er vertröstete sie indessen fortgesetzt auf bessere Zeiten und deutete an, daß ihre bangen Hoffnungen, die sie unablässig in aufreibender Spannung erhielten, schließlich vielleicht doch ihre Erfüllung finden würden.

Mehrfach benutzte er auch die Gelegenheit seines Besuches dazu, Veronika mit irgend einer Botschaft zu Schierling zu schicken, um sie nicht nur mit dem Wege zu ihm, sondern auch mit seiner Person und seinem wunderlichen Wesen vertraut zu machen. Zu seiner Genugtuung entdeckte er sehr bald, daß die beiden Gefallen aneinander fanden und Veronika nicht die leiseste Scheu verriet, zu seiner Zeit gänzlich zu dem alten Giftmischer überzusiedeln.

Auch diesen besuchte der Doktor jetzt häufiger, jedoch stets zur späten Abendstunde, und was sie dann eifrig prüften, oft mit großer, an ewiges Zerwürfnis streifender Heftigkeit verhandelten und vereinbarten, darüber hätten nur die Gerippe Auskunft erteilen können, und die waren ja verschwiegen wie das Grab.

Und wiederum hielt der bekannte Wagen zur frühen Morgenstunde vor der Strafanstalt, und wiederum spähte der Doktor, einem Schließer auf dem Fuße folgend, in den Gängen scharf um sich. Was er schon seit Tagen erhofft hatte, glückte endlich. Er entdeckte Scherben, der in Gesellschaft anderer Strafgefangenen ins Freie geführt wurde, um sich eine Stunde zu ergehen. Er kannte ihn längst, hatte aber stets vermieden, ihn anzureden, so lange er keiner ärztlichen Hilfe bedurfte.

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Trotz der in den letzten beiden Jahren in seinem Äußeren vorgegangenen Veränderung zeigte Scherben noch immer Spuren früherer männlicher Schönheit. Jetzt ging er leicht gebeugt, das kräftige Haupt mit dem gebleichten, kurz geschorenen Haar auf die Brust geneigt und finsteren Blickes vor sich niederstarrend. Als er neben dem Doktor eintraf, hielt dieser ihn an.

»Was fehlt Ihnen, Mann?« fragte er lebhaft, so daß Scherben erschrocken zu ihm aufsah, »Sie scheinen sich nicht wohl zu befinden?«

»Ich habe keine Ursache, über körperliches Befinden zu klagen,« antwortete der Gefangene düster.

»Aber ich habe Ursache, Sie etwas näher zu betrachten,« versetzte der Doktor rauh, »wie heißen Sie?«

In das Antlitz des Gefangenen schoß jähe Glut, dann sprach er zögernd: »Scherben.«

»So? Scherben?« fragte der Doktor gleichmütig, dann zu dem die Gefangenen begleitenden Beamten gewendet: »Überwachen Sie diesen Mann. Er wäre nicht der erste, der eine Krankheit verheimlichte, um selbstmörderisch aus dem Bereich ärztlicher Hilfe zu gelangen.«

»Ich bin nicht krank, ich versichere es,« beteuerte Scherben zähneknirschend.

»Ihre Beteuerung hat keinen Wert für mich,« erklärte der Doktor kurz, »was haben Sie da an dem Auge? Zeigen Sie her,« und den über die Behandlung sichtbar Erbitterten und nur widerwillig Folgenden am Arme ergreifend, zog er ihn nach dem nächsten Fenster hinüber. Dort legte er Daumen und Zeigefinger der linken Hand auf die Lider des ihm zunächst befindlichen Auges, diese wenig rücksichtsvoll weit auseinander schiebend. Zugleich näherte er sein Antlitz dem des Gefangenen bis auf die Breite zweier Finger, und während er anscheinend das Innere der Lider aufmerksam prüfte, raunte er ihm leise, wie ein Hauch zu: »Sind Sie ein Mann, so beherrschen Sie sich. Morgen bleiben Sie als krank im Bett liegen. Folgen Sie blindlings meinen Anweisungen. Vielleicht führen sie zur Freiheit.« Dann laut genug, um von dem abseits stehenden Schließer verstanden zu werden: »Eine unverkennbare Entzündung der Schleimhäute; ja, ja, ich sehe mehr, als zu fühlen Sie vorgeben.« Er zog die Hand von dem Auge zurück und kehrte sich dem Schließer zu: »Ich wiederhole, beobachten Sie diesen Mann. Da – sehen Sie, wie sein Ausdruck wechselt? Das ist ja eine wahre Leichenfarbe, die sein Gesicht plötzlich überzogen hat. Möglich, daß die Bewegung ihm gut tut, möglich aber auch, daß eine bedenkliche Krankheit im Anzuge ist. Wir werden morgen ja sehen,« und weiter schritt er in den Gang hinein, während Scherben in Begleitung des Schließers in entgegengesetzter Richtung den Unglücksgefährten folgte.

Als der Doktor eine halbe Stunde später seinen Wagen wieder bestieg, lugte es wie Befangenheit aus seinen Augen. Den ersten Schritt zu einer gegen die Gesetze schwer verstoßenden Handlung hatte er getan, und seiner ganzen Willenskraft bedurfte es, den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, nicht umzukehren, so lange es noch geschehen konnte, ohne Aufsehen zu erregen.

Nach einer Zusammenkunft mit dem beherzteren Schierling gewann er indessen seinen Mut zurück und damit die berechnende Überlegung, die allein das Gelingen des gefährlichen Unternehmens ermöglichte.

Die Nacht und der größte Teil des folgenden Tages verstrichen in gewohnter Weise. Der Doktor hatte sich überzeugt, daß Scherben seinen Rat beherzigt hatte und liegen geblieben war. Er verordnete ihm eine harmlose Arznei und Ruhe, zugleich aber benutzte er die Gelegenheit, ihm heimlich sein ferneres Verhalten vorzuschreiben. Dann senkte sich Dämmerung auf die Stadt, und in tödlicher Spannung saß der Arzt in seinem Arbeitszimmer, als er dringlich nach der Strafanstalt gerufen wurde. Scherben fand er anscheinend sehr krank und über heftige Schmerzen in den Gliedern klagend. Nachdem er ihn in Gegenwart des Schließers eingehend untersucht und den Kopf ernst geschüttelt hatte, forderte er den Wärter auf, den Inspektor herbeizurufen. Die Zeit von dessen Abwesenheit benutzte er dazu, Scherben einige Pillen zu verabreichen und ihn auf das vorzubereiten, was ihm in nächster Zeit bevorstand.

»Fragen Sie mich nichts,« riet er dringend, als dieser wie in Geistesverwirrung zu ihm emporstarrte, »sind Sie ein starker Mann, der nicht vor Tod und Grab zurückschaudert, so werden Sie frei, bevor der neue Tag graut.«

»Den Tod, lieber den Tod geben Sie mir,« warf Scherben angstvoll ein, als der Doktor schnell unterbrach: »Keine Silbe sprechen Sie, sondern hören Sie auf mich; Ihre Stimmung erleichtert es Ihnen, alles über sich ergehen zu lassen. Nach den Pillen werden Sie sich binnen kurzer Frist sehr krank fühlen. Fürchten Sie indessen nichts, sondern nehmen Sie unbekümmert um die etwaigen Folgen alles ein, was ich Ihnen fernerhin verabreichen werde. Sie müssen frei werden. Es wartet jemand auf Sie hier in der Stadt. Zu ihm müssen Sie, wenn mich die Mittel, deren ich mich bediene, grauenhaft erscheinen mögen. Merken Sie auf: ein unbedachtes Wort von Ihnen, ein verräterischer Blick des Zweifels kann unser aller Verderben herbeiführen, sogar das Ihres Kindes. Jetzt schließen Sie die Augen und schützen Sie gänzliche Erschöpfung vor,« und das Handgelenk Scherbens umspannend, sah er fest auf dessen Antlitz.

Dieses hatte einen leichenhaften Ausdruck angenommen, rötete sich aber fieberhaft, als der Inspektor in Begleitung des Schließers erschien.

Und so rief er in der Tat den Eindruck eines Schwerkranken hervor. Unter dem Einfluß der ihm vorschwebenden unbestimmten und daher erschreckenden Bilder hob und senkte seine Brust sich wie bei einem Erstickenden. Was er eben vernommen hatte, umnachtete seinen Geist und die Besorgnis, durch den Ton seiner Stimme zu verraten, was in seinem Inneren vorging, raubte ihm die Sprache.

Der Doktor hatte sich aufgerichtet und dem Inspektor zugekehrt.

»Ich kann noch nicht recht klug aus seinem Zustande werden,« erklärte er zweifelnd, indem er sich, wie um seine Mitteilungen zu verheimlichen, mit jenem dem Ausgange zu bewegte, »das Böseste möchte ich nicht glauben, und doch halte ich es für meine Pflicht, zur äußersten Vorsicht zu raten. Es wäre ein entsetzliches Unglück, bräche die in der Stadt kaum erloschene Epidemie gerade hier in der übervölkerten Anstalt wieder aus. Unter keiner Bedingung lassen Sie den Kranken nach den Lazaretträumen bringen, wenigstens so lange nicht, wie ich im ungewissen bin. Der enge Raum hier ist nötigenfalls leicht desinfiziert, wogegen in den Krankenzimmern die Folgen unberechenbar sein können. In wenigen Stunden ist alles entschieden, und ich habe im Laufe des Sommers genug Kranke dieser Art behandelt, um das Schlimmste zu befürchten. Lassen Sie den Menschen übrigens nicht ohne Aufsicht,« und nachdem der Inspektor dem Schließer befohlen hatte, den Erkrankten zu überwachen, fuhr der Doktor eifrig fort: »In Ihrem Bureau werde ich noch etwas verschreiben, dann eile ich nach Hause, wo dringende Geschäfte meiner harren. Bin ich nach Ablauf einer Stunde nicht hier gewesen und der Zustand verschlimmert sich, so schicken Sie nach mir. Der Sicherheit halber bringe ich einen erfahrenen Assistenten mit – wir dürfen Ihre Leute nicht einer Ansteckung aussetzen. Schaden könnte es nicht, würde in den Gängen mit Karbol geräuchert; besser etwas zu viel Vorsicht, als zu wenig,« und nachdem er auf diese Weise den Schließer samt dem Inspektor hinreichend eingeschüchtert zu haben glaubte, begleitete er letzteren nach dem Bureau. Als er sich etwas später verabschiedete, waren seine letzten geheimnisvoll geflüsterten Worte: »Vergessen Sie nicht das Räuchern, und daß kein anderer mehr ihm nahe kommt.«

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Der Doktor hielt sich zu Hause nicht auf, sondern begab sich zu Schierling. Er hinterließ zu Hause nur, wohin ein etwa eintreffender Bote nachzusenden sei. Schierlings verwittertes Antlitz strahlte in Begeisterung, als jener ihm Bericht erstattete, und ein Fläschchen mit bräunlicher Flüssigkeit emporhebend, verschwor er sich, wenn je in seinem Leben, dieses Mal seiner Kunst Ehre zu machen.

Eine Stunde und eine halbe verrannen in einer Aufregung, die ein längeres Gespräch nicht mehr in Gang wollte kommen lassen, und erschrocken fuhren beide empor, als plötzlich heftig an der Glocke gerissen wurde. Gleich darauf trat ein Bote atemlos ein und ersuchte den Doktor, sich schleunigst nach der Strafanstalt zu bemühen.

»Ist es denn so böse geworden?« fragte dieser scheinbar ärgerlich.

»Er ringt mit dem Tode,« lautete die mit sichtbarer Angst erteilte Antwort.

»So begeben Sie sich zurück,« riet der Doktor jetzt, »melden Sie, daß ich auf der Stelle nachfolgen werde.« Dann säumte er nicht, und in Schierlings Begleitung fuhr er davon.

In der Vorhalle der Anstalt erwartete ihn bereits der Inspektor. Aus dessen Haltung und Wesen erriet er leicht, daß es ihm gelungen war, ihn und alle, die um den bedenklichen Krankheitsfall wußten, förmlich kopflos zu machen. So wurde auch dankbar anerkannt, daß er, um das eingeschüchterte Anstaltspersonal nicht in Berührung mit dem Erkrankten kommen zu lassen, seinen eigenen, mit solchen Fällen vertrauten Gehilfen mitgebracht hatte, und gern folgte der Inspektor seinem Rat, zurückzubleiben und das Weitere ihm, Schierling und dem bereits anwesenden Schließer zu überlassen.

Obwohl der Doktor, wie er nach längerer Prüfung des Kranken dem Schließer zuraunte, an Erfolg nicht mehr glaubte, flößte Schierling dem Leidenden doch statt von der vorhandenen, von der mitgebrachten Arznei ein. Anfangs schien sie in der Tat beruhigend zu wirken, dann aber stellten sich neue Krämpfe ein, die damit endigten, daß der Kranke plötzlich still wurde und sein Antlitz allmählich erstarrte. Der Anblick des mit bläulichen Flecken überzogenen Gesichtes, dessen Unterkiefer tief herabgesunken, war gräßlich.

»Die Leiche muß sofort auf den Friedhof,« entschied der Doktor. »Jede Minute länger in diesem Hause kann von den schrecklichsten Folgen sein.«

Was dann folgte, spann sich mit ängstlicher Hast ab. Jeder, der zum Beistande hinzugezogen wurde, bot sein Äußerstes auf, die Entfernung des Toten zu beschleunigen. Der Inspektor füllte den Totenschein aus, der Doktor unterschrieb ihn und war dann selbst behilflich, die Leiche in Wachstuch einzuschlagen und in den bereit gehaltenen Sarg zu betten, worauf zwei Schließer den Deckel auflegten. Der Leichenwagen war unterdessen herbeigeschafft worden, kräftige Hände griffen zu, und etwas später rollte er mit seiner unheimlichen Last dem Friedhofe zu, gefolgt von Schierling und vier Hausdienern.

Der Doktor hatte sich schon früher auf den Weg nach dem Friedhofe begeben, wohin die Kunde von dem Tode eines Gefangenen in Begleitung der betreffenden Anweisungen gleich nach dessen Hinscheiden getragen worden war. Die schon nachmittags von dem Doktor selbst unterrichteten Totengräber hatten denn auch ihre Schuldigkeit getan und harrten bereits der Leiche. Vor dem Kirchhoftore ließ der Doktor seinen Wagen halten. Nach einem kurzen, leise geführten Gespräch mit dem bewährten Kutscher fuhr dieser davon, während er selber den Friedhof betrat.

Eine im abgelegenen Winkel an der Mauer kläglich brennende Laterne diente ihm als Wegweiser. Bei dieser eingetroffen, fand er den alten Totengräber und dessen Sohn vor. Aus ihre Spaten gestützt standen sie unter den umgehangenen Röcken fröstelnd da. Zwei leichte Balken lagen quer über der offenen Gruft.

»Alles bereit, wie ich sehe,« redete der Doktor die beiden an, »hoffentlich haben wir keine Störung zu befürchten.«

»Nichts von der Sorte,« antwortete der alte Mann: »der Kirchhofsinspektor meinte auf meine Meldung, er wäre befreundet mit Ihnen, und wenn der Herr Doktor selber käme, möcht's wohl ohne ihn gehen. Er redete von starker Erkältung. Er ist Familienvater; da vermute ich, er fürchtet Ansteckung.«

»Mit der Ansteckung ist's nicht weit her, darüber beruhigt euch. Ich stellte die Sache ernster dar, als sie es verdiente, um die letzten Zeugen abzustreifen.«

»Wir fürchten uns nicht,« meinte der alte Mann, »sonst hätten wir das Handwerk längst ausgeben müssen.«

»Hier denn, Freund, das ist für Euch und Euern Sohn,« versetzte der Doktor, und er drückte dem Alten einige Goldstücke in die Hand. »Vorsicht, überhaupt Verschwiegenheit brauche ich wohl nicht anzuempfehlen.«

»Wir selber hätten den größten Schaden davon, käme es zutage, Herr Doktor, und zum ersten Male geschieht's ja nicht, daß wir –«

»Richtig, Mann,« unterbrach ihn der Doktor. »Das letztemal vor sechs, sieben Jahren. Seitdem hatte ich's aufgegeben. Dieser Todesfall, überhaupt die ganze Krankheit verlief indessen so jäh und schrecklich, daß ich nicht widerstehen konnte. Ich muß durchaus die Ursachen der rätselhaften Erscheinung kennen lernen.«

Von der Straße her ließ sich das dumpfe Rollen vernehmen, mit dem der Leichenwagen sich näherte. Der Doktor nahm die Laterne und in Begleitung der beiden Totengräber, die eine Bahre trugen, begab er sich nach der Einfahrt hinüber. Fast gleichzeitig mit dem Leichenzuge trafen sie dort ein, und alsbald gesellte Schierling mit den Hausdienern sich ihnen zu.

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Aus Leibeskräften legte er mit Hand an, den in Paketform verschnürten Körper aus dem Sarge zu heben.

»Das ist ja ein fürchterlicher Duft,« erklärte der Doktor zum Entsetzen der Männer, die nunmehr fest glaubten, sich unterwegs schon an die vergiftete Atmosphäre gewöhnt zu haben. »Man hätte doch lieber einen verlöteten Zinksarg nehmen sollen. Freilich, die Straßen sind jetzt leer; Ihnen aber rate ich, sobald Sie den Sarg hinüber getragen haben, sich schleunigst zu entfernen und, wenn möglich, etwas Branntwein zu trinken. Jetzt vorwärts: in zehn Minuten müssen wir fertig sein.«

Hastig traten die Männer hinter den Wagen, und nach kurzer Anstrengung stand der Sarg auf der Bahre; sechs Paar kräftige Arme griffen zu und in schnellem Schritt ging es nach dem Kirchhofswinkel hinüber. Dort wurde der Sarg sofort auf die Balken gehoben, worauf der Doktor sich wieder den Strafanstaltsleuten zuwandte.

»Nun macht, daß Ihr fort kommt,« befahl er, »hinunter schaffen wir ihn zu vieren leicht genug, und ein Gebet möchte ich doch zuvor über den armen Teufel hinsprechen. Meldet dem Herrn Inspektor,« rief er den sich eiligst Entfernenden nach, »ich bliebe hier, bis alles beendigt sei; man möchte Chlorkalk und Karbol nicht sparen.«

Die Männer beschleunigten ihre Schritte, während des Gehens den mitgebrachten Flaschen kräftig zusprechend, und in wenigen Minuten tönte das Geräusch herüber, mit dem der leere Leichenwagen sich auf die Stadt zu in Bewegung setzte.

Der alte Totengräber hatte unterdessen mittelst eines Schraubenziehers den Sargdeckel geöffnet.

Vorsichtig löschte der Doktor die Laterne aus.

»Auch die Nacht hat ihre Augen,« bemerkte er dabei, und aus Leibeskräften legte er mit Hand an, den in Paketform verschnürten Körper aus dem Sarge zu heben und eine kurze Strecke abwärts im Schatten der Mauer niederzulegen.

Das oberflächliche Befestigen des Deckels erforderte kaum Zeit; bei dem düsteren Schein der nunmehr wieder brennenden Laterne wurde der erleichterte Sarg ohne große Mühe in die Erde hinabgesenkt, und schweigend griffen Vater und Sohn nach ihren Spaten. Unter den geübten Händen füllte die Gruft sich schnell; bis zur Hälfte war sie bereits zugeschüttet, als sich abermals das Rollen eines Wagens und das scharfe Knallen einer Peitsche vernehmen ließ.

Die Totengräber warfen die Spaten zur Seite, und abermals erlosch die Laterne. Gleich darauf schritten die vier Männer, den dicht verhüllten Körper zwischen sich, dem Torwege zu. Eine kurze Strecke von ihm legten sie ihre Last nieder, worauf der Doktor sich zu seinem Kutscher hinaus begab.

»Kein Mensch weit und breit,« antwortete dieser raunend auf die an ihn gerichtete leise Frage.

Der Doktor eilte zu den Gefährten zurück; abermals folgte eine kurze Anstrengung, dann lag der ungelenke Körper in dem Wagen, die Füße auf der Vorderbank, Kopf und Schultern im Fond halb aufgerichtet und von Schierling sorgsam unterstützt.

Der Doktor stieg zuletzt ein, in scharfem Trabe rollte der Wagen davon, während die Totengräber zur Beendigung ihrer Arbeit sich wieder auf den Friedhof begaben.

Eine kurze Strecke waren die beiden Freunde mit ihrem Raube gefahren, als Schierling dem Doktor zutuschelte:

»Du, Robert, man merkt, daß du aus der Übung bist. Du rechnest zu sehr auf die Dummheit der Menschen. War ein schlauer Kopf zur Hand, so hätte deine übertrieben ängstliche Vorsicht unstreitig Verdacht erweckt.«

»Rede mir nicht davon,« versetzte der Doktor erregt, »was ich in den letzten zehn Stunden durchmachte, ist genug, um mich an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Vergegenwärtige dir, was wir ausführten, und noch sind wir nicht fertig.«

»Unsinn, Robert, Leichendiebstahl ist Leichendiebstahl –« er verstummte; dann sprach er mit gepreßter Stimme: »Du, Robert, er hat sich gerührt. Wir müssen uns dennoch mit dem Strychnin verrechnet haben, oder das Rumpeln des alten Kastens übt eine belebende Wirkung aus.«

Der Doktor schwieg. Ein Schreck hatte sich seiner nachträglich bemächtigt.

»Mein Gott,« entwand es sich nach einer Pause wie mit Widerstreben seinen Lippen, »wenn das eine Viertelstunde früher geschah.«

»Da, der Körper rührt sich abermals; das Rumpeln tut's, glaub's mir; denn ernstlich, mit Strychnin verrechnet man sich nicht so leicht,« beruhigte ihn Schierling.

»So wollen wir zufrieden sein, daß wir auf sein Erwachen nicht vergeblich zu warten brauchen.«

Als der Wagen endlich vor Schierlings Wohnung hielt, sprang dieser zuerst hinaus. Mit einer sonst an ihm nicht gewöhnten Hast öffnete er die Haustüre, während der vertraute Kutscher ebenfalls abstieg, den nächsten Zugstrang der Pferdegeschirre löste und vor den offenen Kutschenschlag hintrat. Noch einmal spähte Schierling argwöhnisch um sich, und gemeinschaftlich mit dem Kutscher in den Wagen hinein langend, zogen sie unter der Beihilfe des nachschiebenden Doktors den steifen Körper nach sich. Dann zu dreien ihre Last packend und die äußersten Kräfte aufbietend, verschwanden sie geräuschlos im Innern des Hauses. Eine weitere Anstrengung brachte sie in das Laboratorium, wo sie sich nach Schierlings Bett hinüber tasteten und ihre Bürde auf dieses niederlegten.

Schweigend entfernte sich der Kutscher. Bis auf die Straße hinaus gab der Doktor ihm das Geleite.

»Sollte jemand schicken, so sage, ich befände mich bei einem Schwerkranken,« befahl er dem Scheidenden, und behutsam schloß und verriegelte er die Türe hinter ihm. Nur so lange säumte er noch, bis er den Wagen davon fahren hörte, dann kehrte er in das Laboratorium zurück.

Schierling hatte bereits Licht angezündet und die Wachsleinwandhülle von dem starren Körper entfernt.

»Wie steht es mit ihm?« fragte der Doktor besorgt.

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Der Doktor nahm die Lampe und beleuchtete den anscheinend Toten, der nunmehr lang ausgestreckt dalag.

»Anscheinend nach Wunsch,« antwortete Schierling. »Er hat sich noch nicht wieder gerührt, kann es auch nicht. Die Dosis war bis auf sechs Uhr berechnet. Freilich, die Bewegung des Fahrens, die kalte Morgenluft und der kräftig gebaute Körper mögen die Wirkung um eine Stunde abkürzen.«

Der Doktor nahm die Lampe und beleuchtete den anscheinend Toten, der nunmehr lang ausgestreckt dalag, den Kopf etwas erhöht, die Arme auf der Decke ruhend. Eine Weile sah er ängstlich forschend in das entstellte Antlitz.

»Bertram,« hob er endlich an, »wasche ihm die blauen Flecke ab. Ich begreife überhaupt nicht, wie es dir möglich gewesen ist, ihm ein derartiges Aussehen zu geben.«

»Ein mit pulverisiertem Indigo eingeriebenes Läppchen und Geschwindigkeit sind keine Hexerei,« erklärte Schierling gleichmütig, und einen feuchten Schwamm herbeiholend, fuhr er mit diesem einige Male über das stille Antlitz.

»Jetzt bietet er wenigstens einen erträglichen Anblick,« bemerkte der Doktor nachdenklich, »aber so leichenhaft – Bertram – Bertram, es wäre entsetzlich –«

»Unsinn,« fiel der Chemiker jetzt etwas erzwungen sorgenlos ein, denn die eigentümliche Starrheit der Züge mochte ihm selbst verdächtig erscheinen, »nenne mich den elendesten Einfaltspinsel, der je eine Schachtel Rhabarber-Pillen als Zuckererbsen hinunter schluckte, wenn ich unterwegs nicht Leben fühlte.«

Er zog aus einer Nahtöffnung des Kopfpfühls eine Feder hervor, rieb und blies sie flockig und hielt sie dem Erstarrten unter die Nase. Mit tödlicher Spannung hefteten die Blicke der beiden Freunde sich auf die Feder.

Sie regte sich nicht.

Endlich aber, als Schierling bereits die Geduld, der Doktor dagegen seine letzte Hoffnung schwinden fühlte, neigten die zarten Fäden sich abwärts und blieben wohl zwei Sekunden in dieser Lage, bevor sie sich wieder aufrichteten.

Der Doktor seufzte tief auf.

»Einmal und nie wieder, und stände mein Seelenheil auf dem Spiel,« sprach er vor sich hin.

»Und ich stehe morgen bei einem ähnlichen Unternehmen abermals mit Vergnügen zu Diensten,« beteuerte Schierling triumphierend. Dann säumten sie nicht länger mit der Anwendung belebender Mittel.

Eine halbe Stunde hatten sie sich eifrig mit dem Scheintoten beschäftigt, und mehr und mehr krönte Erfolg ihre unausgesetzten Bemühungen, als dieser endlich die Augen ausschlug und mit stumpfem Blick zu ihnen emporsah.

»Erkennen Sie mich?« fragte der Doktor hastig.

Scherben flüsterte ein kaum verständliches »Ja«, schien einige Sekunden mit aller Macht nachzusinnen und fragte wie geistesabwesend: »Wo bin ich?«

»An einem sicheren Ort,« antwortete der Doktor beruhigend, »zeigen Sie sich fernerhin fügsam, so sind Sie innerhalb weniger Tage so weit, frei dahin zu gehen, wohin es Ihnen beliebt. Gegen Verfolgung sind Sie geschützt; denn über dem Sarge, in den der Strafgefangene Scherben gebettet wurde, wölbt sich ein Erdhügel.«

Ein Schauder durchrieselte die noch immer starre Gestalt. »Schrecklich. Warum konnten Sie der Erde nicht lassen, was für sie bestimmt war?«

»Weil heilige Verpflichtungen auf Ihnen ruhen,« erklärte der Doktor ernst, »und daher nicht schrecklich, es sei denn, Sie betrachteten die Freiheit als ein unerträgliches Elend. Hier, versuchen Sie, etwas Ungarwein zu schlürfen. Stellt sich erst Appetit ein, dann wollen wir Ihren Körper und damit auch Ihren Geist bald genug wieder emporbringen.«

Scherben trank.

»Wie ein wüster Traum liegt es hinter mir,« lallte er darauf, doch gewann seine Stimme während des Sprechens an Festigkeit; »wie soll ich alles deuten? Wer sind Sie, daß Ihnen an der Freiheit eines Ihnen Fernstehenden gelegen?«

»Apotheker und Doktor,« kam Schierling seinem Freunde lebhaft zuvor, selbst in diesem ernsten Augenblicke nicht verabsäumend, sein eigenes Metier zuerst zu nennen, »Apotheker und Doktor, die sich ein Vergnügen daraus gemacht haben. Das Experiment gelang, und unser Lohn ist der dadurch gewonnene Ruhm.«

»Uns war sehr an Ihrer Befreiung gelegen,« bestätigte der Doktor freundlich, »mehr aber noch liegt uns daran, daß Sie unentdeckt entkommen. Sie werden daher das Ihrige dazu beitragen, uns die gefährliche Aufgabe zu erleichtern. Vergessen Sie nicht: eine unvorsichtige Bewegung, das geringste Abweichen von unseren Ratschlägen, und nicht nur Ihnen, sondern auch Ihren Befreiern öffnen sich die Pforten des Gefängnisses –«

»Aber die Ursache, die Ursache –« fiel Scherben ein, und krankhafte Erregung rötete sein Antlitz leicht, während große Schweißtropfen sich auf seiner Stirne bildeten, »ich errate, Sie handelten im Auftrage meines Bruders – er will mich fortschaffen –; aber hätte ich ihm einst auf meinen Knien für eine Probe von Teilnahme gedankt – heute verschmähe ich jede von ihm herrührende Wohltat –«

»Wir kennen Ihren Bruder nicht,« suchte der Doktor den Unglücklichen zu beschwichtigen, »noch weniger hätten wir von ihm Aufträge übernommen. Doch nichts mehr davon. Wenn Sie zu Kräften gelangt sind, verhandeln wir ausführlich darüber. Für jetzt begnügen Sie sich mit der Überzeugung, daß Sie vollständig sicher sind. Vorläufig haben Sie nur nötig, sich zu stärken, wozu mein Freund Ihnen die geeignetsten Mittel bietet; das weitere findet sich von selbst. Hier liegen bleiben können Sie indessen nicht,« fügte er, halb zu Schierling gewendet, hinzu, »denn es waltet die Gefahr, daß im Laufe des Tages der eine oder der andere vorspricht. Doch nehmen Sie noch etwas Wein zu sich. Nachher versuchen Sie, Arme und Beine anzuziehen und wieder auszustrecken, um die Beweglichkeit zu fördern. Meine Zeit ist kurz bemessen. Vor Tagesanbruch muß ich zu Hause sein, und da möchte ich vorher Ihnen beistehen, dies Gemach zu verlassen.«

Abermals trank Scherben und immer wieder prüfte er die zunehmende Geschmeidigkeit der sich allmählich erwärmenden Glieder, bis es ihm unter Beihilfe der beiden Freunde gelang, sich in eine sitzende Stellung empor zu arbeiten. Ebenso schnell half Schierling ihm in seinen alten Pelzrock hinein. Mehr Schwierigkeit verursachte es ihm, sich aufrecht hinzustellen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Doch die Zeit drängte, und wenn auch unter Anstrengungen, so brachten die beiden Freunde ihn doch endlich bis an die Treppe, die er, von beiden Seiten sorgsam unterstützt schwerfällig zu ersteigen begann.

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Wohl zehn Minuten dauerte es, bis sie das obere Stockwerk erreichten und Schierling eine auf den Flurgang gehende angelehnte Türe zurückstieß.

Sorglich betteten die beiden Freunde den Kranken auf ein Sofa, und nachdem Schierling noch einige Decken herbeigeschleppt hatte, verabschiedete der Doktor sich mit dem Versprechen baldiger Wiederkehr.

Schierling ließ ihn vorsichtig auf die Straße hinaus, und zurück eilte er zu seinem Gast, um ihn bedachtsam zu pflegen, alle Mittel anzuwenden, die er für geeignet hielt, die Folgen der erstarrenden Gifte zu verflüchtigen. Galt es doch, ein gewagtes Experiment von dem glänzendsten Erfolg gekrönt zu sehen.

Es tagte bereits, als Schierling in sein Laboratorium hinabstieg. Bevor er sich auf ein Stündchen niederlegte, betrachtete er lange die Skelette. Endlich nickte er dem einen vertraulich zu und schob es neben seinen Schreibtisch. Flüchtig wischte er mit einem Tuch über den bestaubten weißen Schädel hin, mit dem feuchten Schwamm vernichtete er eine alte Inschrift, dann entstanden unter seiner die Feder führenden Hand auf dem Hinterkopfe die Worte: »Baron v. Scherben. Gestorben in der Strafanstalt an der Cholera.« Tag und Jahreszahl fügte er hinzu, und gemächlich wies er dem Skelett seinen gewohnten Platz wieder an. Zufrieden warf er sich dann auf sein Bett.

Noch am gleichen Tage las man in den Abendzeitungen: »Das Gerücht von dem erneuten Ausbruch einer Epidemie ist darauf zurückzuführen, daß ein in der Strafanstalt Inhaftierter, namens Scherben, bekannt aus dem einst Aufsehen erregenden Fälscherprozeß, unter allerdings verdächtigen Symptomen starb. Es wurden daher, abgesehen von der schleunigen Beerdigung, alle diejenigen Vorsichtsmaßregeln getroffen, die dem Ernste der Lage entsprachen und jede Besorgnis vor einer erneuten Verbreitung der Krankheit gänzlich ausschließen.«


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